Zeit zum Umdenken?

Auf meinem Smartphone habe ich die News von Focus.de abonniert. Ehrlich gesagt, lese ich meist nur die Überschriften. Am 23.3. hat mich eine davon aber erwartungsvoll gestimmt: „Propaganda wie im Kalten Krieg.“ Auch der Nachsatz hat meinen Optimismus noch nicht völlig erlöschen lassen. „EU wirft Russland gezielte Corona-Desinformation vor.“ Ob der Artikel vielleicht doch durch selbstkritisches Nachdenken zum Umdenken anregen würde? Ob der Propagandavorwurf an die eigene Adresse gerichtet sein köpnnte?

Meine Hoffnung wurde dann doch enttäuscht. Der Text stammt von der Deutschen Welle, die sich ihrerseits auf die Mitteilung einer Task Force „Strategische Kommunikation“ des Europäischen Auswärtigen Dienstes bezieht. Dort wird wenig konkret und eher allgemein geschildert, dass in russischen Internetportalen und Medien die verschiedensten Spekulationen über die Ursachen der Corona-Pandemie und Verschwörungstheorien zu lesen sind, natürlich von „Moskau“ gesteuert mit dem Ziel, Uneinigkeit und Verwirrung im Westen zu erzeugen. Sehr ausführlich wird dann beschrieben, dass und wie dieses Vorgehen in der langen Tradition gezielter sowjetischer Desinformation aus der Zeit des Kalten Krieges steht.

Ich will hier gar nicht polemisieren, sondern einfach feststellen: Schade.

Ich denke, auch der Deutschen Welle würde es gut anstehen nicht zu vergessen, dass der Kalte Krieg keineswegs nur von der Sowjetunion geführt wurde. Vor allem aber denke ich, dass die tiefe Krise, in die wir nun gestürzt sind, zu einem wirklichen Umdenken führen muss. Dass Spekulationen und Verschwörungsmythen dabei nicht helfen, ist völlig unstrittig. Dabei ist es belanglos, aus welcher Himmelsrichtung sie kommen. Dass dauernde Anklagen in Richtung „Moskau“ aber auch nicht helfen, sollte ebenso selbstverständlich sein. Auch in nichtrussischen Sozialen Medien herrscht schließlich kein Mangel an „Fake News“.

Kluge Beobachter der Zeit sagen zu Recht: Auch wenn die Corona-Krise einmal überstanden sein sollte, es wird nichts mehr so sein wie vorher. Sollten wir uns darauf nicht einstellen und von manchen liebgewordenen hohen Rössern absteigen?

Umdenken ist angesagt. Es muss damit beginnen, selbstkritisch mit den eigenen Positionierungen und den sie leitenden Interessen umzugehen. Vor zwei Tagen war noch zu lesen, dass Putin die Gesundheit der Russen egal ist, weil er an dem Termin seines Verfassungsreferendums festhält. Einen Tag später kam dann die Nachricht über die Verschiebung. Dafür wurden schnell die Hilfen Russlands für Italien als gigantische Propagandaaktion „Moskaus“ gedeutet. Ich fürchte, ich könnte die Aufzählung ohne Mühe fortsetzen und auf andere Themenfelder und Krisengebiete ausweiten, über die wir gar nicht oder nur tendenziös informiert werden. Ist z.B. nur „Moskau“ schuld daran, dass es mit der Umsetzung des Minsker Abkommens nicht vorangeht? Was hat es mit dem ukrainischen Gesetz zur Verehrung von Stepan Bandera als Nationalheld auf sich? Mit dem Kampf gegen die russische Sprache in der Ukraine und im Baltikum?

Aber wie gesagt: ich will nicht polemisieren. Dafür ist die Lage zu ernst. Mein russischer Freund, sicher kein besonders religiöser Mensch, fragte mich: Versteht ihr Christen die Corona-Krise eigentlich als Strafe Gottes? Ich jedenfalls nicht, antwortete ich ihm. Keine Strafe, aber gewiss eine Prüfung, die wir bestehen oder nicht bestehen können.

Christoph Ehricht

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