The „German Angst“ vor Putins Russland – eine gefährliche Politik

Ich stelle mir vor, ich lebe im Jahre 2125 und schaue auf die deutschen Entscheidungen im dritten Jahr des Ukrainekrieges zurück:

Bei den alten Griechen wurde mit Kairos der rechte Zeitpunkt für eine Entscheidung verstanden.


Beim Bogenschießen handelt es sich um den Moment, in dem ein Pfeil mit ausreichender Kraft abgeschossen werden kann, um sein Ziel zu erreichen.

Der Historiker Hans Delbrück beschreibt, wie Deutschland im ersten Weltkrieg den rechten Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden verpasste (in: Ludendorffs Selbstpoträt, 1922).

Kardinal Pacelli, der 1939 zum Papst Pius XII. gewählt wurde, bot sich 1917 als Vermittler zwischen England und Deutschland an.

Die Engländer waren sich einig, dass Deutschland weder direkt noch indirekt die Vorherrschaft über Belgien erlangen dürfe. Das würde die deutsche Weltherrschaft (!) bedeuten.

Die Deutschen waren sich uneinig. Wenigstens auf Zeit sollte die Stadt Lüttich aus militärischen Gründen unter dem Einfluss Deutschlands bleiben, so Ludendorff. Andere waren bereit, ohne wenn und aber Englands „belgische“ Bedingungen anzunehmen, setzten sich aber nicht durch.
Die beiden friedenswilligen Länder schrammten laut Delbrück haarscharf an einer Verständigung vorbei.

Die Vermittlung durch Pacelli wurde eingestellt. Der Diktatfrieden von Versailles wurde nicht verhindert, übrigens begann auch der Zerfall des British Empire.

Die Ukraine und Russland haben im März 2022 ebenfalls den rechten Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden verpasst. Mit Ausnahme der Krim hätte die Ukraine wahrscheinlich in ihren alten Grenzen weiter existieren können – es hätte sich jedenfalls gelohnt, die Verhandlungen nicht mit dem Hinweis auf Kriegsverbrechen in Butscha, vermutlich auf Drängen von England und den USA, zu beenden. Ob über das Scheitern der Verhandlungen hinaus in 100 Jahren die Gründe dafür noch mehr als ein nichtssagendes Achselzucken hervorrufen werden, bezweifele ich.

Drei Jahre später bemühen sich die USA unter dem neu gewählten Präsidenten Trump um einen Verständigungsfrieden. Dahinter steht das amerikanische Interesse, zum richtigen Zeitpunkt mit vorteilhaften Beziehungen zu Russland und der Ukraine aus dem Krieg auszusteigen.

Bildquelle: Pinterest

Die Schilderung der erfolglosen Bemühungen der unglückseligen Koalition der Willigen, auch ohne die USA weitermachen zu wollen und die Ukraine mit vielen Milliarden Euro und den Waffen aus ihren Depots weiter im Verteidigungskrieg zu halten, genauso Kiews Bemühungen, NATO-Staaten direkt in den Krieg hineinzuziehen, wird in weiterer Zukunft bestenfalls ihre Promotion betreibende Akademiker bewegen.

Interessieren wird dagegen der Umstand, dass die irrlichternden Europäer das Dilemma verkennen, in dem sich die Präsidenten Selenskyj und Putin befinden.

Angesichts der Kiew geradezu aufgedrängten milliardenschweren Gelder würde Selenskyj politischen Selbstmord begehen, wenn er einen Verständigungsfrieden unter Aufgabe seines Siegesplanes und des Verlustes von umfangreichen Gebieten zulassen würde.

Und Putin fehlt offensichtlich das Vertrauen zu einer Verständigung auf Grundlage eines Waffenstillstandes, den er als eine Atempause für Kiew vor Wiederaufleben neuer Kämpfe ansieht. Er versteht den Krieg als einen Ringkampf (Clausewitz) und sieht nicht Russland, sondern die Ukraine näher am Boden.

Politikern wie Merz fehlt das Einfühlungsvermögen, sich in die Lage Putins und Selenskyjs zu versetzen, und so gelangen sie zur Entscheidung, die Ukraine bedingungslos zu unterstützen – Präsident Selenskyj befindet sich gewollt oder auch nicht in der Falle dieser europäischen Hingabe.

Wird in 100 Jahren noch interessieren, was Politiker wie Bundeskanzler Merz veranlasst hat, in ihrer Politik hin und her zu lichtern? Wie ein Zauberkünstler der Öffentlichkeit vorzugaukeln, einerseits den atomaren Schutz der USA bewahren und andererseits den Rückzug der USA aus dem Krieg durch eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine konterkarieren zu können?

Wird interessant bleiben, dass Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin der EU bei der auf dem Trumpschen Golfplatz in Schottland verhandelten angeblichen Knebelvereinbarung über Zölle auf Waren aller Art (15% auf den Export in die USA, 0% bei Importen von dort, auf weitere Feinheiten muss ich aus Platzgründen verzichten) wie das Kaninchen auf die Schlange schaute und brav den Daumen nach oben streckte?

Das alles wird im Jahre 2125 niemanden mehr besonders erregen. Auch nicht die abgestandene Begründung für solche Willfährigkeit. Damit meine ich die schon vor den zwei Weltkriegen beschworene russische bzw. bolschewistische Gefahr aus dem Osten, die nach neuer Lesart nur von der Atommacht USA und nicht von Staaten wie Deutschland und Frankreich abgewehrt werden könne.

Dagegen wird bestimmt noch in hundert Jahren in Erinnerung bleiben, ob Deutschland angesichts der Umgestaltung der Welt durch eine neue Handelspolitik der USA und deren Rückzug aus Europa richtige Entscheidungen rechtzeitig treffen konnte.

Erinnert wird sicher werden, ob sich Deutschland dem Rückzug der USA aus dem Krieg in der Ukraine rechtzeitig angeschlossen hat. Keine schwierige Aufgabe, weil Deutschland jederzeit die militärische Unterstützung der Ukraine beenden kann. „Komplex“, weil es dann auch die Koalition der Willigen mit Frankreich und England verlassen muss, sofern sie nicht zerfällt.

Zurück zu den wichtigen Entscheidungen, die Deutschland rechtzeitig treffen muss.

Die USA haben mit einer die Staaten der ganzen Welt belastenden Wirtschafts – und Zollpolitik das Spiel Einer gegen Alle aufgenommen.
Wird Deutschland akzeptieren können, dass die USA offenbar ungeachtet der immer noch wichtigen transatlantischen Beziehungen und der gemeinsamen Zugehörigkeit zur NATO allein auf der anderen Seite spielen will und nicht mehr der freundliche Hegemon ist?

Deutschland als drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt wird sich also angesichts der Amerika-first-Politik rechtzeitig entscheiden müssen, die wichtigsten Staaten einschließlich Russlands mit seinen Rohstoffen wie seltene Erden, Erdgas und Öl als Handelspartner und Investitionsmarkt zu gewinnen, um so von den USA unabhängig und eine starke Wirtschaftsmacht zu bleiben.

Genau deshalb wird es die auf dem Trumpschen Golfplatz getroffenen Vereinbarungen so weit wie möglich „um des lieben Friedens willen“ einhalten.

Bleibt noch die von Politikern wie Kiesewetter über Klingbeil bis Merz angeheizte „German Angst“ vor den Russen, die gegenwärtig Deutschland auslaugt – Zahlungen an die Ukraine in Höhe von 9 Milliarden Euro in 2026, Zahlungen an die USA inform von Investitionen, Zollgebühren und für Waffenlieferungen an die Ukraine, Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf über 83 Milliarden Euro in 2026, Bürgergeld für die Ukrainer u.s.w.

Da entschieden worden ist, Deutschland aufzurüsten, sollten die Regierenden damit aufhören, Angst und Schrecken vor den Russen zu verbreiten. Die kostspielige Wiederherstellung der von der Regierung Merkel zugunsten der Interventionsfähigkeit (Afghanistan) aufgegebenen Verteidigungsfähigkeit soll Deutschland doch schützen, ansonsten sollte Deutschland es sein lassen. Die Russen sind schon jetzt nach den Aussagen seriöser Militärexperten wie Wolfgang Richter (Oberst a.D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik) und Prof. Dr. Varwick nicht fähig, NATO-Staaten mit dem Ziel der Vernichtung ihrer Streitkräfte anzugreifen oder auch nur die Streitkräfte der Ukraine auf die Schnelle von nunmehr drei Jahren zu überwinden.

Der von der Union, der SPD und den Grünen, genauso aber auch von der AFD gehuldigte Gesinnungsmilitarismus – ein weites Feld, auf das ich hier nicht eingehen kann – schadet Deutschland, weil er die Erfüllung lebenswichtiger Aufgaben wie Migration, Bildung bis zum Ausgleich von Klimaschäden behindert.

Die Ukraine wird, wenn sich die USA und Deutschland aus dem Krieg in der Ukraine mit Bedacht ausklinken, ihren Frieden mit Russland finden (müssen). Sie hat dann auch nach innen alle Voraussetzungen dafür, als die schwächere Seite Russland einen Erfolg versprechenden Vorschlag für Verhandlungen zu unterbreiten.

Deutschland hat mit Minsk 2, der Hinnahme des Terroranschlages auf die Pipelines Nordstream und der Aufnahme von nicht wenigen ukrainischen Flüchtlingen seine Schuldigkeit getan.

Reinhart Zarneckow

9 Gedanken zu “The „German Angst“ vor Putins Russland – eine gefährliche Politik

  1. Zitat:

    Die Ukraine wird, wenn sich die USA und Deutschland aus dem Krieg in der Ukraine mit Bedacht ausklinken, ihren Frieden mit Russland finden (müssen). Sie hat dann auch nach innen alle Voraussetzungen dafür, als die schwächere Seite Russland einen Erfolg versprechenden Vorschlag für Verhandlungen zu unterbreiten.

    Deutschland hat mit Minsk 2, der Hinnahme des Terroranschlages auf die Pipelines Nordstream und der Aufnahme von nicht wenigen ukrainischen Flüchtlingen seine Schuldigkeit

    Kommentar:

    Der Kreml wünscht sich, dass der Mensch sich selbst entblösst und den Kotau macht, das ist kostengünstiger, für einen neoimperialen Staat.

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  2. Lieber Reinhart, die Ukraine wird niemals Frieden mit Russland finden. Russland wird sich vielleicht eine zeitlang zurückziehen, möglicherweise zu einem angeblichen Waffenstillstand. Was im Hintergrund geschieht, weiß niemand. Irgendwann wird die russische Armee zurückkommen und weitermachen, bis Putin’s Ziel erreicht ist. Die Nachfolger werden in dessen Sinn fortfahren. Jeder Krieg dient dem Erwerb von Ruhm und Reichtum.
    Als Kind habe ich das Spiel „Land gewinnen“ sehr gerne gespielt. Stammt wohl aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Leider ist Kriegsgeschehen kein Spiel.

    „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“ Friedrich Engels (1820–1895)

    Es ist nicht nur die „German Angst“ vor den Russen, sondern die Angst vor einem Atomkrieg, den niemand gewinnen kann. Das Zitat von Albert Einstein (1879 – 1955) ist treffend: „Ich weiß nicht, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber der IV. Weltkrieg wird mit Stöcken und Steinen ausgetragen.“

    Deutschlands Politik befindet sich in einer Sackgasse. Was wartet am Ende? Eine Wendemöglichkeit?
    Obwohl ich schon lange nicht mehr ‚mitfahre‘ und am Rand stehe, muss ich leider trotzdem die Politik ertragen, die ich gar nicht will. Alles Gute und herzliche Grüße, Gisela

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    1. Zitat:

      „Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“ Friedrich Engels (1820–1895)

      Kommentar:

      Zum Fortschritt muss das Prinzip, der universellen, unteilbaren Menschenwürde, bei uns allen Einzug halten.

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  3. Klare Worte, denen ich mich anschließe. Darüber hinaus glaube ich, dass hierzulande einige über den Fortgang des Krieges in der Ukraine nicht allzu unglücklich sind. Weiß man die Russen doch auf diese Weise „beschäftigt“, vermeidet mit einem konkreten Feindbild ein klareres Verhältnis zu Russland (gerade auch wirtschaftlich) und kriecht stattdessen lieber den „Freunden“ jenseits des Atlantik zu Füßen (wer solche Freunde hat, braucht vor seinen vermeintlichen Feinden keine Angst zu haben). Und – es wird eine Menge Geld verdient, mit dem Krieg. Bezahlen tun das alle, die an einer wirklichen Wertschöpfungskette arbeiten.

    Es ist unsäglich.

    Danke & Grüße, Reiner

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    1. Avatar von reinhart43 reinhart43

      Vielen Dank. Wir leben in einer „Wendezeit“. Letztlich wird der Wähler entscheiden, ob Deutschland selbstbewusst seine Interessen wahrnimmt. Dazu gehören gute Beziehungen zur Ukraine und Russland. Und ich sehe durchaus die Chance für einen Friedensvertrag, wenn das insbesondere auch von Deutschland finanzierte Geschäft mit dem Krieg so beendet wird, dass die Ukraine sich mit Russland verständigen muss und dabei ein souveräner Staat bleibt. in diese Richtung sollte bei unseren Experten mehr gedacht werden.

      Beste Grüße

      Reinhart

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  4. Avatar von Unbekannt Herbert Bogun

    Koalition der Willigen – was für ein alberner Name für einen derartigen Zusammenschluss! Noch mehr Sanktionen für Russland statt Diplomatie – eine politische Bankrotterklärung! Kiesewetters Aussage, die Zerstörung Nord Streams sei in unserem Interesse – unglaublich! Auch wenn das Zitat korrigiert wurde. Was er wirklich gesagt (haben soll), die Verteidigung der Ukraine sei in unserem Interesse, selbst wenn sie für die Zerstörung Nord Streams verantwortlich sei, ist nicht besser! Wo bleibt das Eintreten für das eigene Volk und seine Würde? Die Ukraine als Pufferstaat wäre möglich – (vielleicht immer noch), eine Verteidigung dieses korrupten Staates nicht nötig gewesen. Vielen Menschen wäre Leid erspart geblieben. Die Unterwürfigkeit der EU, an der Spitze Frau von der Leyen, einem gerissenen Amerikaner gegenüber – beschämend! Ein über Jahre unter der Decke gehaltener Russenhass treibt unfassbare Blüten. Dem wird blindlings alles untergeordnet. Wo bleibt das zentrale Instrument der Außenpolitik, die Diplomatie? Was Beteiligte an der deutschen Regierung, Politiker möchte ich sie nicht nennen, seit Jahren leisten (nach Angela Merkel), steht im Gegensatz zu dem, was sie mit ihrem Amtseid geschworen haben! Ja, eine gefährliche Politik, die Schaden für Deutschland bedeutet! Danke für diesen Beitrag.

    Herbert B.

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    1. Avatar von reinhart43 reinhart43

      Liebe Gisela.

      In Vorpommern heißt es, ein Schwein nach dem anderen schlachten. Also jetzt erstmal Schluss mit dem Krieg in der Ukraine. Deine Zitate sind erhellend. Vielen Dank für Dein aufmerksames Lesen. Wenn alle unterschiedliche Überlegungen so austauschen würden wie wir beide, insbesondere auch die Regierenden, wäre es auf dieser Welt etwas friedlicher.

      Liebe Grüße

      Reinhart

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    2. Avatar von reinhart43 reinhart43

      Da passt kein Blatt Papier zwischen unsere Überlegungen. Wichtig wäre nunmehr „Wählerdruck“ auf die Regierenden, damit die Interessenvertreter Deutschlands mit etwas mehr Respekt behandelt werden. Gegenwärtig schießen sich zu viele vorsorglich ins eigene Bein, um zu verhindern, dass der politische Gegner verletzt wird.

      Reinhart Zarneckow

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