Auf dringende Empfehlung eines Kollegen habe ich begonnen, Herfried Münklers Buch „Marx Wagner Nietzsche – Welt im Umbruch“ zu lesen. Etwas zögerlich, wie ich ehrlich bekennen muss, denn die medienwirksamen Auftritte des Historikers zu aktuellen politischen Fragen in den letzten Monaten haben mich wenig angesprochen. Und dermaßen dicke Bücher wie dieses – über 700 Seiten! – erfüllen mich im Alter eher mit Abstand gebietendem Respekt.

Aber wie auch immer, nun habe ich die Lektüre fast abgeschlossen. Angefangen habe ich damit vor einigen Wochen auf einer längeren Eisenbahnfahrt quer durch Deutschland. In einem Zugabteil saß ein junger Mann mir gegenüber, etwas gestresst durch seinen quengelnden Sohn. Nach einem Blick auf das Buch sagte er sehnsüchtig: „ Ach, wenn ich doch auch endlich wieder Muße zum Lesen hätte. Aber was haben die drei denn miteinander zu tun?“ „Ich bin auch gespannt“, antwortete ich. „Vielleicht vergleicht der Verfasser zwei Denker und einen Künstler, die entscheidend beigetragen haben zu manchen Irrwegen unserer Geschichte im vergangenen Jahrhundert?“
Nun, nachdem ich wie gesagt fast am Ende des Buches angekommen bin, werde ich eines Besseren belehrt. Münklers Darstellung ist keineswegs plakativ, denunziatorisch oder dem Zeitgeist entsprechend belehrend. Ob der Vergleich, die Zusammenschau der drei Titelfiguren seines Buches wirklich erkenntnisfördernd ist, mag dahin gestellt bleiben. Ich bin da eher unsicher. Münkler selbst war sich übrigens der Grenzen und Gefahren dieses Versuchs durchaus bewusst, wie er in einem kurzen Nachwort zur Entstehungsgeschichte seines Buches mitteilt. (Ein wenig wundert mich in dem Zusammenhang, dass er zumindest was Wagner und Nietzsche angeht, so wenig Bezug nimmt auf Thomas Manns einfühlsame Überlegungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren, also lange vor den heute eher peinlich wirkenden grobschlächtigen Linien, die der Dichter später „von Luther zu Hitler“ meint ziehen zu müssen.)
Uneingeschränkt zu würdigen sind die beeindruckenden Einzeldarstellungen und Analysen der Werke der Drei in Münklers Buch. Die Entwicklungslinien im Denken von Marx werden gründlich bedacht und nachgezeichnet, der Zusammenhang zwischen Wagners Ringen um ein Gesamtkunstwerk und seinen vielen essayistischen Schriften – von denen mir viele bislang völlig unbekannt waren! – wird entfaltet und schließlich Nietzsche, immer wieder verschlägt der einem den Atem.

Münkler führt uns drei große Kapitalismuskritiker vor Augen, am scharfsinnigsten sicher bei Karl Marx formuliert, wirkungsmächtig in Richard Wagners Ring, radikal und hellsichtig bei Friedrich Nietzsche. Ich empfinde es als besonders wohltuend, dass ich beim Lesen nie durch Urteile gelenkt werde, die aus dem Wissen erwachsen sind, welche Spätfolgen die besprochenen Werke hatten. Die gedankliche Tiefe des Kommunistischen Manifests hat mich überrascht, wiewohl ich ja in meiner Jugend in der DDR zur Genüge mit diesem Text konfrontiert worden bin, damals aber oft bestimmt von dem Ärger darüber, was aus den Analysen und Visionen der Verfasser in der mich umgebenden Realität geworden war. Und die wunderbare Kraft der musikalischen Poesie Wagners erschließt sich mir noch auf anderen Wegen, wenn ich Münklers Wiedergabe der theoretischen Schriften des Komponisten und der Textbücher seiner Opern bedenke.
Und wieder Nietzsche, ich kann gar nicht recht in Worte fassen, was mich bei dem durch Münkler angeregten Nachdenken über ihn so atemlos macht. Die völlige Rücksichtslosigkeit in seinen Formulierungen? Sätze, geschrieben vor und nach seiner Erkrankung – wenn man die überhaupt als Zäsur festmachen kann –, die erträglich werden, wenn wir sie als überspitzte Ironie handhabbar machen, sie sind aber ernst gemeint. Mein Freund hat in einem Aufsatz Nietzsches Bemerkung zitiert, dass der Normalzustand der Welt das Chaos ist. Wie nahe kommt das unserem Lebensgefühl…
Immer wieder klingt das Problem des Antisemitismus in der Gedankenwelt der drei an. Ein Kapitel widmet sich ausführlich und gründlich diesem Thema, besonders wichtig für das Verständnis von Marx und Wagner, weniger für Nietzsche, dem auch hier radikalen Anti-Antisemiten. Marx hofft bekanntlich in seiner frühen Zeit auf eine Lösung der „Judenfrage“ im Zuge der Überwindung der Klassengesellschaft, seine späteren gelegentlich unflätigen Sätze über Juden tut Münkler als „Alltagsantisemitismus“ ab. Dafür mag manches sprechen, was die Entgleisungen aber nicht harmloser macht. Wagners schlimme Verirrungen schließlich werden erklärt durch die Verbitterung des Künstlers über den verlorenen Machtkampf mit Giacomo Meyerbeer in Paris und vielleicht auch durch die abstruse Gedankenwelt von Cosima. Wie auch immer, es bleibt erschreckend, welche Gedanken in Wagners Gehirn Raum fanden neben der großartigen Musik. Mein verstorbener Jerusalemer Freund, trotz allem ein großer Wagner-Verehrer, pflegte zu sagen: Der liebe Gott weiß schon was er tut, wenn er himmlische Wahrheiten in hässliche Gefäße verpackt.
Nun muss ich abschließend aber erklären, warum ich den Bericht über meine Lesererfahrungen bei Herfried Münklers Buch unter die Überschrift „Paradigmenwechsel“ stelle. Wer das Buch liest, wird viele Gründe dafür finden, wie ja schon der Untertitel „Welt im Umbruch“ signalisiert. Mir ist ehrlich gesagt dieses Wort eingefallen – und hat mich nun doch zum Grübeln über unsere Zeitläufte angeregt -, als ich in dem Buch die Wiedergabe einer sehr bissigen Formulierung aus dem Aufsatz von Karl Marx „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ von 1852 fand, einer Analyse des Staatsstreichs des späteren Napoleon III. Marx stellt bitter fest, „dass nur noch eins fehle, um die wahre Gestalt dieser Republik zu vollenden: Des Parlaments Ferien permanent machen und ihre Aufschrift: Liberté, egalité, fraternité zu ersetzen durch die unzweideutigen Worte: Infanterie, Cavallerie, Artillerie!“
So werde ich eben das Gefühl nicht los, dass Geschichte sich leider doch wiederholt. Aber weil ich nicht in die Falle tappen will, die Münkler erfolgreich umgeht, breche ich hier ab, durchaus mit einer Empfehlung zur eigenen Lektüre – und vor allem zum eigenen Nachdenken!
Christoph Ehricht




