Paradigmenwechsel – Oder: Die Geschichte wiederholt sich (leider) doch

Auf dringende Empfehlung eines Kollegen habe ich begonnen, Herfried Münklers Buch „Marx Wagner Nietzsche – Welt im Umbruch“ zu lesen. Etwas zögerlich, wie ich ehrlich bekennen muss, denn die medienwirksamen Auftritte des Historikers zu aktuellen politischen Fragen in den letzten Monaten haben mich wenig angesprochen. Und dermaßen dicke Bücher wie dieses – über 700 Seiten! – erfüllen mich im Alter eher mit Abstand gebietendem Respekt.

Bildquelle: Thalia

Aber wie auch immer, nun habe ich die Lektüre fast abgeschlossen. Angefangen habe ich damit vor einigen Wochen auf einer längeren Eisenbahnfahrt quer durch Deutschland. In einem Zugabteil saß ein junger Mann mir gegenüber, etwas gestresst durch seinen quengelnden Sohn. Nach einem Blick auf das Buch sagte er sehnsüchtig: „ Ach, wenn ich doch auch endlich wieder Muße zum Lesen hätte. Aber was haben die drei denn miteinander zu tun?“ „Ich bin auch gespannt“, antwortete ich. „Vielleicht vergleicht der Verfasser zwei Denker und einen Künstler, die entscheidend beigetragen haben zu manchen Irrwegen unserer Geschichte im vergangenen Jahrhundert?“

Nun, nachdem ich wie gesagt fast am Ende des Buches angekommen bin, werde ich eines Besseren belehrt. Münklers Darstellung ist keineswegs plakativ, denunziatorisch oder dem Zeitgeist entsprechend belehrend. Ob der Vergleich, die Zusammenschau der drei Titelfiguren seines Buches wirklich erkenntnisfördernd ist, mag dahin gestellt bleiben. Ich bin da eher unsicher. Münkler selbst war sich übrigens der Grenzen und Gefahren dieses Versuchs durchaus bewusst, wie er in einem kurzen Nachwort zur Entstehungsgeschichte seines Buches mitteilt. (Ein wenig wundert mich in dem Zusammenhang, dass er zumindest was Wagner und Nietzsche angeht, so wenig Bezug nimmt auf Thomas Manns einfühlsame Überlegungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren, also lange vor den heute eher peinlich wirkenden grobschlächtigen Linien, die der Dichter später „von Luther zu Hitler“ meint ziehen zu müssen.)

Uneingeschränkt zu würdigen sind die beeindruckenden Einzeldarstellungen und Analysen der Werke der Drei in Münklers Buch. Die Entwicklungslinien im Denken von Marx werden gründlich bedacht und nachgezeichnet, der Zusammenhang zwischen Wagners Ringen um ein Gesamtkunstwerk und seinen vielen essayistischen Schriften – von denen mir viele bislang völlig unbekannt waren! – wird entfaltet und schließlich Nietzsche, immer wieder verschlägt der einem den Atem.

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Münkler führt uns drei große Kapitalismuskritiker vor Augen, am scharfsinnigsten sicher bei Karl Marx formuliert, wirkungsmächtig in Richard Wagners Ring, radikal und hellsichtig bei Friedrich Nietzsche. Ich empfinde es als besonders wohltuend, dass ich beim Lesen nie durch Urteile gelenkt werde, die aus dem Wissen erwachsen sind, welche Spätfolgen die besprochenen Werke hatten. Die gedankliche Tiefe des Kommunistischen Manifests hat mich überrascht, wiewohl ich ja in meiner Jugend in der DDR zur Genüge mit diesem Text konfrontiert worden bin, damals aber oft bestimmt von dem Ärger darüber, was aus den Analysen und Visionen der Verfasser in der mich umgebenden Realität geworden war. Und die wunderbare Kraft der musikalischen Poesie Wagners erschließt sich mir noch auf anderen Wegen, wenn ich Münklers Wiedergabe der theoretischen Schriften des Komponisten und der Textbücher seiner Opern bedenke.

Und wieder Nietzsche, ich kann gar nicht recht in Worte fassen, was mich bei dem durch Münkler angeregten Nachdenken über ihn so atemlos macht. Die völlige Rücksichtslosigkeit in seinen Formulierungen? Sätze, geschrieben vor und nach seiner Erkrankung – wenn man die überhaupt als Zäsur festmachen kann –, die erträglich werden, wenn wir sie als überspitzte Ironie handhabbar machen, sie sind aber ernst gemeint. Mein Freund hat in einem Aufsatz Nietzsches Bemerkung zitiert, dass der Normalzustand der Welt das Chaos ist. Wie nahe kommt das unserem Lebensgefühl…

Immer wieder klingt das Problem des Antisemitismus in der Gedankenwelt der drei an. Ein Kapitel widmet sich ausführlich und gründlich diesem Thema, besonders wichtig für das Verständnis von Marx und Wagner, weniger für Nietzsche, dem auch hier radikalen Anti-Antisemiten. Marx hofft bekanntlich in seiner frühen Zeit auf eine Lösung der „Judenfrage“ im Zuge der Überwindung der Klassengesellschaft, seine späteren gelegentlich unflätigen Sätze über Juden tut Münkler als „Alltagsantisemitismus“ ab. Dafür mag manches sprechen, was die Entgleisungen aber nicht harmloser macht. Wagners schlimme Verirrungen schließlich werden erklärt durch die Verbitterung des Künstlers über den verlorenen Machtkampf mit Giacomo Meyerbeer in Paris und vielleicht auch durch die abstruse Gedankenwelt von Cosima. Wie auch immer, es bleibt erschreckend, welche Gedanken in Wagners Gehirn Raum fanden neben der großartigen Musik. Mein verstorbener Jerusalemer Freund, trotz allem ein großer Wagner-Verehrer, pflegte zu sagen: Der liebe Gott weiß schon was er tut, wenn er himmlische Wahrheiten in hässliche Gefäße verpackt.

Nun muss ich abschließend aber erklären, warum ich den Bericht über meine Lesererfahrungen bei Herfried Münklers Buch unter die Überschrift „Paradigmenwechsel“ stelle. Wer das Buch liest, wird viele Gründe dafür finden, wie ja schon der Untertitel „Welt im Umbruch“ signalisiert. Mir ist ehrlich gesagt dieses Wort eingefallen – und hat mich nun doch zum Grübeln über unsere Zeitläufte angeregt -, als ich in dem Buch die Wiedergabe einer sehr bissigen Formulierung aus dem Aufsatz von Karl Marx „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ von 1852 fand, einer Analyse des Staatsstreichs des späteren Napoleon III. Marx stellt bitter fest, „dass nur noch eins fehle, um die wahre Gestalt dieser Republik zu vollenden: Des Parlaments Ferien permanent machen und ihre Aufschrift: Liberté, egalité, fraternité zu ersetzen durch die unzweideutigen Worte: Infanterie, Cavallerie, Artillerie!“

So werde ich eben das Gefühl nicht los, dass Geschichte sich leider doch wiederholt. Aber weil ich nicht in die Falle tappen will, die Münkler erfolgreich umgeht, breche ich hier ab, durchaus mit einer Empfehlung zur eigenen Lektüre – und vor allem zum eigenen Nachdenken!

Christoph Ehricht

Resonanz – sich berühren lassen und antworten

Meine Antwort auf Deinen Geburtstagsbrief

Lieber Christoph,

hab vielen Dank für Deinen Geburtstagsbrief. Er hat mich berührt und einige Denkprozesse in Bewegung gesetzt.

Wer tauscht heute schon noch Briefe aus? Ich! Gern sogar. Deshalb habe ich mich auch so sehr über Deinen gefreut! Wenn es die Zeit erlaubt und ich Muße habe, nehme ich dafür sogar einen Füllfederhalter und ordentliches Briefpapier. Der Gedanke, einen Briefbogen in der Hand zu halten, den vorher der Absender in seiner hatte, der Anblick seines Schriftbildes – hat das nicht auch etwas mit Resonanz zu tun, wie Hartmut Rosa sie beschreibt? Im Interview des DLF wird er nach dem Ausdruck im Gesicht eines Menschen gefragt, der einem begegnet. Resonanz? Ja, natürlich!

Von Hartmut Rosa habe ich das erste Mal vor eineinhalb Jahren gehört. Er wurde in der Schweizer Sendereihe Sternstunde Religion zum Thema befragt „Wozu nützt eigentlich Religion?“.

Auch hier ging es um die Fähigkeit, sich „Anrufen“ zu lassen, um Resonanz und Resonanzachsen, um Beherrschbarkeit, Machbarkeit, Verfügbarmachung und Unverfügbarkeit. In vielen Aussagen ähnlich dem Interview im DLF. Auf sein Buch bin ich sehr gespannt!

Im Anschluss will ich nun einige Auszüge und Zitate aus Gesprächen und Büchern bringen, die mir beim Lesen Deines Briefes in den Sinn gekommen sind:

In Joseph Ratzingers Buch „Einführung in das Christentum“ habe ich gerade nachgelesen. Er erinnert an Martin Heidegger, der vom rechnenden und besinnlichen Denken spricht.

„Beides muss es geben: das rechnende Denken, das der Machbarkeit zugeordnet ist und das besinnliche Denken, das dem Sinn nachdenkt. Man wird dem Freiburger Philosophen wohl auch nicht Unrecht geben können, wenn er die Befürchtung ausdrückt, dass in einer Zeit, in der das rechnende Denken die staunenswertesten Triumphe feiert, der Mensch dennoch, ja vielleicht mehr als zuvor, von der Gedankenlosigkeit bedroht ist, von der Flucht vor dem Denken. Indem er allein dem Machbaren nachdenkt, steht er in der Gefahr zu vergessen, sich selbst, den Sinn seines Seins zu bedenken.“

Interessant auch das Gespräch – von Herrmann, Safranski, Sloterdijk über die Aktualität Heideggers

Es wird von dem gesprochen, was Heidegger als die Not der Notlosigkeit bezeichnete, die es gilt, spürbar zu machen. Oder anders – vom Entzug der Dimension des Heiligen, des Göttlichen und des Gottes in unserer Zeit, was den wenigsten ins Bewusstsein rückt. „Nur noch ein Gott kann uns retten“, äußerte Martin Heidegger 1966 in seinem Spiegelinterview. Viele halten es ja heute mit der Aussage von Max Weber, dass, wer sich dem Glauben zugewandt hat, das »Opfer des Intellektes« gebracht hat.

Was das „ Sich-anrufen-lassen“ und das unmittelbar damit vorausgegangene Hören betrifft, zu dem Du schreibst, dass es im Englischen unterschieden wird in to listen und to hear, so hat mir neulich Rolf einen Auszug aus einem Kommentar zu „Sein und Zeit“ (Heidegger) von Friedrich-Wilhelm von Herrmann gegeben, aus dem ich folgendes zitiere:

„Die Rede gliedert nicht nur im Sprechen, sondern auch im Hören. Nur innerhalb der existenzialen Möglichkeit der Rede im Hören „kann jemand horchen“, gibt es ein geistiges Hinhören, das in sich ausgerichtet ist auf ein geistiges bedeutungsmäßiges Gliedern. Es gibt aber auch so etwas wie das „Nur-herum-hören“, dem die Ausrichtung auf ein konturiertes Hören und Verstehen fehlt: eine „Privation des hörenden Verstehens“.

Fehlt heute die Zeit für das Zuhören, für das Horchen, fehlt das Interesse oder gar die Möglichkeit zu verstehen? An dieser Stelle denke ich an Deinen Artikel über Hermes, den Götterboten – wann unter anderem Verstehen überhaupt erst möglich ist: „Voraussetzung ist, dass mein Gesprächspartner mir sympathisch ist, ich Angst und Scheu überwunden und Vertrauen zu ihm habe und das sichere Gefühl gegenseitigen Interesses.“

Und dann noch: In einer Zeit des Überflusses, der dauernden Präsenz irgendwelcher Medien, dem Druck, ständig etwas oder sich optimieren zu müssen, des Immer-mehr, der Steigerung, der Beherrschbarkeit, des Verfügbarmachens – wo bleibt die Zeit zur Kontemplation, die doch so notwendig für das innere Gleichgewicht ist? Dazu muss ich Dir unbedingt folgendes Zitat von Hans-Georg Gadamer schreiben:

„Ich habe manchmal den Eindruck, dass heutzutage der eigentlich Progressive der ist, der eine übermäßige Beschleunigung des Veränderns verlangsamen will.“

Gadamer spricht in diesem Interview über den zweifelhaften Allheilmittelcharakter von Emanzipation (bei YouTube)

Ein Zitat zu Nietzsches Aussage über die gefährlichen Lügen. Es stammt von Otto von Bismarck, den Du hier in unserem Blog auch schon oftmals in Deine Betrachtungen mit einbezogen hast:

„Lügen können Kriege in Bewegung setzen, Wahrheit hingegen kann ganze Armeen aufhalten.“

Das aktuelle Weltgeschehen kommentiert dieses Zitat meiner Ansicht nach selbst.

Zum Schluss möchte ich aus dem Buch von Michael Klonovsky zitieren, das vom Gegenteil von Optimierung, Druck und Beherrschbarkeit spricht, von dem ich restlos begeistert bin und deshalb fast versucht wäre, es Dir hier vollständig abzudrucken. Denn als Deine Freundin habe ich das sichere Gefühl, dass auch Dir sein Denken, seine Sprache und Ausdrucksweise sehr zusagen werden. Vielleicht werde ich es Dir zum Geburtstag schenken, wenn ich solange an mich halten kann. Es heißt „Lebens Werte – Über Wein, Kunst, High Heels und andere Freuden“. Unter der Überschrift –Kirchen– findet man vom ungläubigen Autor (wie er sich selbst bezeichnet) folgende Zeilen:

„Ich liebe ihre Stille, ihre Erhabenheit, ihre Schönheit, ihre bergenden Kräfte. Ich mag es, wenn sich der leise Sang der Orgel weihrauchartig bis in die Seitenschiffe ausbreitet – und nicht minder, wenn aus allen Registern gewaltig das Lob des Herren ertönt.….Ich gehe in die Kirche, um den Zauber der Entrückung ins Vorzeitlich-Überzeitliche zu erleben. Sie sind Inseln der Kontemplation im Lärm der Städte und Tunnel in die Tiefe der Zeiten, wo ich Kontakt aufnehmen kann zu denen, die vor mir auf diesem Planeten die großen Fragen stellten und ihre Antworten in Stein verewigten, unsereinen zu erheben und zugleich zu beschämen“

So, lieber Christoph, für genügend Gesprächsstoff zu meinem Geburtstag ist nun wahrlich gesorgt. Ich freue mich auf den Besuch von Ingelore und Dir und unsere gemeinsame Zeit.

Bis dahin, sei lieb gegrüßt von

Deiner Bettina

Erneut in eigener Sache, aber diesmal vor allem ein Geburtstagsbrief

Liebe Bettina,

wieder einmal will ich „in eigener Sache“ einen Brief schreiben, also als Dein Freund und als Mensch mit einer theologischen Profession. Es wird ein besonderer Brief, da ich beim Nachdenken und beim Schreiben sehr an Dich und unsere Begegnungen denke, an neue Einsichten, die ich daraus gewonnen habe und natürlich an Deinen bevorstehenden Geburtstag am 10. November. Ich freue mich auch, wenn dieser Brief in Deinem Blog erscheint und vielleicht manchen zu eigenem Nachdenken und Gespräch anregt. Und zu weiteren Glückwünschen für Dich!

Neben Deinem Geburtstag war ein weiterer Impuls dafür Dir zu schreiben ein Gespräch mit Hartmut Rosa über sein neues Buch „Demokratie braucht Religion“ am 28.10. im Deutschlandfunk in der Sendereihe „Tag für Tag“. Man kann das Gespräch in der Mediathek des Senders nachhören und natürlich kann man das Buch lesen! Ich habe es mir fest vorgenommen und will es Dir auch zum Geburtstag schenken. Dann können wir demnächst darüber gemeinsam nachdenken.

Beim Zuhören der Sendung im DLF erinnerte ich mich daran, dass ich vor fünfzehn Jahren von einer Gesellschaft für Psychotherapie zu einem Symposium eingeladen worden war um einen Impuls für die Diskussion über die Bedeutung von Religion für Sinnfindung und Lebensgestaltung zu geben. Ich habe damals versucht, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth ins Gespräch mit Viktor Frankl zu bringen und ehrlich auch das protestantische Unbehagen im Umgang mit dem Begriff Religion zu erläutern. In diesem Unbehagen wurde ich später bestätigt, als mir eine Anekdote aus einer deutschen jüdischen Gemeinde erzählt wurde. Dort soll ein Gemeindevorsteher zu einem Kandidaten für das Rabbineramt gesagt haben: „Sie können über alles predigen. Aber bitte nicht über Religion.“

Sankt Michaelis – Hamburg

Soweit ich das Interview richtig erinnere, bemüht sich Hartmut Rosa um ein offenes, unverkrampftes Verständnis von Religion, die er ohne ihre jeweiligen dogmatischen und institutionellen Bindungen und Verankerungen betrachtet. Ich will mich dem gerne öffnen, muss darüber aber noch ein wenig nachdenken. Als alter Kirchenmann sehe ich immer die Gefahr, dass die einer Religion anvertrauten Wahrheiten ohne institutionellen Rahmen verdunsten oder sich auflösen. Aber fraglos gewinnt Rosa auf diesem Weg ganz wichtige Einsichten.

Er knüpft in seinem neuen Buch an frühere Gedanken über die Bedeutung von Resonanz und Unverfügbarkeit für gelingendes Leben an, über die man einiges in Deinem Blog nachlesen kann, zum Beispiel in einer Predigt aus Ludwigsburg vom vergangenen Jahr. Unter anderem diese Gedanken bezieht er nun dezidiert auf das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft. Eines seiner Argumente lautet: Religion ist unverzichtbar, weil sie von dem Wahn befreit, alles sei machbar und verfügbar. Nur in der dann erreichten Freiheit und Selbstbescheidung werden lebendiges Gespräch und Diskurse möglich, die unerlässlichen Bedingungen für funktionierende Demokratie. Diese Überlegung ist eine interessante Anwendung des oft zitierten und leider ebenso oft vergessenen Satzes, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selber erschaffen kann. Oder, wie es auf Vorschlag der Kirchen in der Mecklenburg-vorpommerschen Landesverfassung heißt: Politische Verantwortung wird im Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns wahrgenommen.

Andere Argumentationslinien, so hebt Rosa nach meiner Erinnerung in dem Interview hervor, beziehen sich auf den Abschied von der Vergötzung des grenzenlosen Wachstums und auf den Verzicht jeder guten Religion auf einen Absolutheitsanspruch, die Behauptung allein im Besitz der Wahrheit zu sein. Ich bin gespannt, ob ich von diesen zuletzt genannten Überlegungen überzeugt sein werde, wenn ich das Buch gelesen habe. Sicher kann man gerade hier Unbehagen gegenüber der Religion empfinden. Nicht zuletzt gegenüber der christlichen, weniger vielleicht gegenüber dem Judentum. Jüdisches Denken, soweit ich es verstehe, lebt von der Einsicht: Es gibt auf alles noch mindestens einen anderen Blick. Auf alles.

Frauenkirche – Dresden

Aber ja, Demokratie braucht Religion. Weil, so möchte ich ergänzen, weil sie von Illusionen befreit und vor jeder Form von Selbstgerechtigkeit bewahrt. Wie sehr wünsche ich mir, dass diese Religion unser Zusammenleben prägt. Viele der wohlfeilen Reden über den notwendigen Zusammenhalt in der Krise würden sehr viel überzeugender werden, wenn sie sehr viel weniger selbstgerecht wären, statt dessen geprägt von echter historischer Bildung und kluger Lebenserfahrung. Wenn ein Richard von Weizsäcker oder ein Hans von Dohnanyi die letzte präsidiale Rede gehalten hätte und nicht der aktuelle Bundespräsident.

Warum, so muss ich bitter fragen, warum ist es so schwer, ungeschminkt über die Mitschuld des Westens am Krieg in der Ukraine zu sprechen? Mitschuld nicht in dem lächerlichen Sinn, zulange zu vertrauensselig gegenüber Moskau gewesen zu sein, sondern, weil umgekehrt ein Schuh daraus wird: im Eingeständnis der – milde gesagt – Halbherzigkeiten und der – schärfer formuliert – vielen Verlogenheiten in der westlichen Russlandpolitik. Vor der Krimannexion Russlands, um nur dies in Erinnerung zu rufen, hat es ja durchaus Möglichkeiten gegeben, eine friedliche und einvernehmliche Lösung des Problems zu finden. Es sollte nicht sein. Wie es auch nicht sein sollte, die Bereitschaft des ukrainischen Präsidenten über eine Neutralität des Landes, den Verzicht auf die Krim und eine Autonomie des Donbass zu verhandeln für eine frühzeitige Konfliktlösung zu nutzen, wenigstens für den Versuch. Ich kann mich nicht frei machen von Fontanes ernüchternder Einsicht: Sie reden von Gott, meinen aber Baumwolle. Sie reden von Völkerrecht, Freiheit und Menschenrechten, meinen aber die ökonomischen Interessen hegemonialer Globalpolitik US-amerikanischer Provenienz.

Liebe Bettina, an dieser Stelle muss ich eine späte Reaktion geben auf Deinen Text über „Beredtes Schweigen“ in Deinem Blog. Das Schweigen über die Schuldigen an der Zerstörung der Nord Stream – Pipeline ist ja nun wirklich sehr beredt. Nach Präsident Bidens Ankündigung Nord Stream 2 zu beenden – erinnere ich mich recht, dass er „killen“ gesagt hat? -, Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, hatte ich meinen hiesigen Bundestagesabgeordneten gebeten herauszubekommen, ob damit eine Bombardierung von Lubmin durch amerikanische Bomber gemeint ist. Leider hat er mir keine Antwort gegeben. Nun ist zu hören, dass aus Rücksicht auf befreundete Geheimdienste noch (?) keine Informationen gegeben werden können. Ich kann es nicht fassen. Wo bleiben nun die vollmundigen Ankündigungen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden? Oder wusste der polnische Sejm-Abgeordnete doch mehr, der gleich nach Empfang der Nachricht von der Zerstörung der Pipeline twitterte: „Danke Amerika!“

Demokratie braucht Religion. Religion hilft, mich von Lebenslügen zu befreien. Die wirklich gefährlichen Lügen sind diejenigen, die ich für Wahrheit halte, wie Friedrich Nietzsche sagt. Mehr und mehr denke ich, dass die transatlantische Partnerschaft – oder muss man besser von der deutschen Vasallentreue gegenüber Amerika sprechen – so eine gefährliche Lebenslüge ist, die uns den ungeschminkten Blick auf die Wirklichkeit verbaut und erst recht den nötigen anderen Blick. Überdies fürchte ich – ja, wirklich, ich fürchte das! -, dass Eugen Ruge recht hat, wenn er in seinem Artikel in der FAZ am 3.11. schreibt, dass man mitunter fast glauben möchte, in Deutschland gebe es „so etwas wie Erleichterung darüber zu spüren, dass sich der wahre Charakter des Russen nun endlich offenbart hat und dass, endlich, 77 Jahre danach die Zeichen historischer Schuld an der Stirn eines anderen erscheinen.“ Anders kann ich mir manche der dummdreisten Äußerungen über Putin und Russland nicht erklären, die ich hier gar nicht wiederholen will. Nachträgliche Dementis – nicht so gemeint, falsch verstanden! – machen die Sache eher noch schlimmer. Danke übrigens, liebe Bettina, dass Du mich auf diesen Text von Eugen Ruge aufmerksam gemacht hast! Er spricht mir in vielem aus dem Herzen.

Die Politik und die öffentliche Meinung in anderen, mir nahe stehenden Ländern außerhalb Europas werden derzeit bestimmt von einer deutlichen Verurteilung des russischen Angriffskrieges, der als Ausdruck eines russischen Imperialismus verstanden wird. Aber ebenso von einem großen Misstrauen gegenüber dem ukrainischen Nationalismus und den Kräften, die ihn fördern und ausnutzen. Ich bin ziemlich sicher, dass die deutsche Politik der bedingungslosen Solidarität mit Kiew nicht zuletzt auch zum Schaden für die Ukraine ist. Dass auch Moskau sich fragen lassen muss, warum es nicht gelungen ist, Ängste der Nachbarn abzubauen und ein attraktiver, einladender Partner zu werden, sondern statt dessen völlig untaugliche und nur zu verurteilende Mittel zur Konfliktlösung anzuwenden, versteht sich ja von selbst. Aber das steht auf einem anderen Blatt, das nicht hier zu schreiben ist.

Demokratie braucht Religion. Ich freue mich auf die Lektüre dieses Buches! Und bin gespannt, ob Religion für Hartmut Rosa auch darum gebraucht wird, weil sie uns Hoffnung schenkt. Die Hoffnung, dass es neue Möglichkeiten gibt, wo wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten gelangt sind. Weil sie neue Perspektiven eröffnet, immer wieder auch den schon erwähnten anderen Blick. Und weil sie uns Gelassenheit schenkt, heute, wo Hysterie und Panik Hochkonjunktur haben, vielleicht die wichtigste Tugend religiöser Lebenshaltung.

Stadtpfarrkirche Lebus

Hartmut Rosa spricht in dem Interview darüber, dass das Hören die wichtigste Tätigkeit ist, zu der die Religion uns veranlassen will. Hören in dem doppelten Sinn, den die englische Sprache besser ausdrückt, die zwischen to listen und to hear unterscheiden kann, vielleicht ein wenig vergleichbar dem Unterschied zwischen Hören und Horchen im Deutschen. Ein eher aktives und ein eher passives Hören, wie es in allen Religionen im Gebet seinen Ausdruck findet. „Höre Israel“ – so beginnt das grundlegende Gebot jüdischer Frömmigkeit, vorbildlich für alle Religionen!

Zum Hören gehört auch das – hoffentlich rechtzeitige – Auf-hören. Und, liebe Bettina, wie Recht hast Du damit, das Schweigen! Und zu jeder guten Religion gehört die Barmherzigkeit der sanften Lethe – ich habe Dir schon geschrieben, wie sehr mich die poetische Kraft Deines Gedichtes ganz unmittelbar berührt hat. Jedes einzelne Wort stimmt und steht am richtigen Platz. Hab noch mal Dank dafür (und überhaupt )

Sei lieb gegrüßt mit besten Wünschen zum 10. November und für Dein neues Lebensjahr, ein hoffentlich friedlicheres Annus Domini

Dein Christoph

Christoph Ehricht: Protestantisches Unbehagen im Umgang mit dem Begriff Religion. In: Jörg Zimmermann u.a. (Hrgb.) Sinn und Sein. Schriftenreihe der Gesellschaft für Logotherapine und Existenzanalytische Psychotherapie Bd.1, S. 17 – 23 Lengerich 2015

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Kösel-Verlag München 2022

Eugen Ruge: Warum Völkerhass niemals nützlich sein kann. FAZ 3.11.2022

(Un)fassbar schön

Bettina Zarneckow

Was mir mein Herz bewegt, fließt ein in die Gedanken. 
So kommt's, dass meine Hand die deine sucht.
Schon lang vertraut umschließen sie einander,
entflammt, was schweigend im Verborgenen ruht.

„Und alle Lust will Ewigkeit –, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ *

„…und erfährt sich doch als Augenblick.“ **

* „Also sprach Zarathustra“, Friedrich Nietzsche ** „Einführung in das Christentum“, Joseph Ratzinger