Christoph Ehricht

Markus 8, 31 – 38, Jesu Leidensankündigung in Caesarea Philippi:
Des Menschen Sohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete davon frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er wandte sich um und sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Hebe dich, Satan, von mir, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.
Gott segne dieses Wort an uns. Amen.
Liebe Gemeinde,
Jesus mutet seinen Freunden und Anhängern einiges zu. Sie hatten ihm vertraut und sich auf den Weg mit ihm gemacht, weil er Kranke gesund machen konnte, Liebe an die Stelle von Kaltherzigkeit setzte und vielleicht sogar das Ende der verhassten römischen Fremdherrschaft und der wie ein Krebsgeschwür wuchernden Korruption im Lande herbeiführen konnte. Ein Held, der lang ersehnte Messias. Und nun müssen sie diese Rede hören: nicht Sieg, sondern Leiden wird angekündigt, sogar der Tod. Kein Wunder, dass sich lauter Widerspruch regt. Aber den weist Jesus scharf zurück und bedroht sogar seinen treuesten Anhänger Petrus: Hebe dich hinweg, Satan. Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.
Auch unserem Glaubensmut und unserem Gottvertrauen wird gerade einiges zugemutet. Die lange zermürbende Coronazeit, der Klimawandel und nun auch noch der Krieg mitten in Europa. Trauer, Wut und Angst beherrschen mich wie wahrscheinlich auch Sie, da hilft kein Wegschauen und es gibt nichts schönzureden. Antworten auf die vielen Fragen, die sich jetzt bedrängend stellen, haben wir alle nicht, allenfalls im Hören auf unser heutiges Sonntagsevangelium die Zusage, dass Gott uns durch seinen Sohn gerade auch im Leiden, in der Ratlosigkeit und Angst und Ohnmachtsgefühlen nahe ist. Ein schwacher Trost?
So schwer es ist, liebe Gemeinde, wir müssen in diesen Tagen wohl endgültig Abschied nehmen von der Vorstellung, dass unsere Welt und unser Lebensmodell sicher sind. Dass wir über unsere Zukunft verfügen und dass Frieden und Fortschritt und Wohlstand machbar sind. Diese Sicherheit verlieren wir gerade – Jesu Warnung bestätigt sich, wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Eine bittere Einsicht, ich sage dies wirklich nicht leichtfertig, eher mit großem und ehrlichem Schmerz. Aber nur, wenn wir dieser Wahrheit in’s Auge sehen, werden wir den nötigen Mut bekommen, Verantwortung wahrzunehmen ohne kurzatmigen oder irregeleiteten Aktionismus, ohne Panik und Hysterie, nur dann werden wir frei werden von lähmender Angst.
Und wir werden dann vielleicht auch erahnen können, welchen Gewinn uns das Vertrauen auf den schweren Weg Jesu verspricht. Gott schickt ihn in seine Passion, auf den Leidensweg zum Kreuz, weil er die noch unerlöste Welt durch Liebe vollenden und erlösen will und weil Liebe sich eben mit Gewalt nicht durchsetzen lässt. Am Ende aber hat sie den längeren Atem und wird alles verwandeln, in ein neues Licht rücken, wenn nicht in dieser, so in der kommenden Welt. Das ist gewiss.
Vom Kirchenvater Augustin lernen wir zu unterscheiden zwischen Sicherheit und Gewissheit. Sicherheit gibt es nicht, aber der Allmacht und Überlegenheit der Liebe Gottes dürfen wir gewiss sein. In dieser Gewissheit, liebe Gemeinde, sollen wir in dieser aufwühlenden Zeit vor allem das Gespräch untereinander suchen. Keiner und keine, vor allem auch unsere Kinder und Enkel nicht, soll sich mit seinen Sorgen und seiner Angst allein gelassen fühlen. Nähe ist der beste Trost.
Liebe Gemeinde, schon vor einigen Jahren hat ein Philosoph aus Jena, Hartmut Rosa, ein Buch veröffentlicht, auf das ich erst jetzt aufmerksam geworden bin. Es heißt „Unverfügbarkeit“ und entfaltet unter verschiedenen Blickwinkeln das spannungsvolle Verhältnis von Verlust und Gewinn, von dem unser Sonntagsevangelium spricht. Es geht in dem Buch um die Einsicht, dass unser Leben seinen Reichtum, seinen beglückenden Glanz, seinen Klang, seine Resonanz, wie Rosa sagt, durch das gewinnt, worüber wir nicht verfügen, was wir nicht machen können, ja, was wir mit den Mitteln unseres Denkens und unserer Sprache kaum erfassen, geschweige denn verfügbar machen können. Eine unverfügbare Wirklichkeit. Natürlich, das weiß er gut, natürlich muss es auch besonnenen Umgang mit dem geben, worüber wir verfügen können. Alles andere wäre wirklichkeitsfremd und lebensfeindlich. Nur darf eben das Verfügbare nicht zum letzten Maß aller Dinge werden. Dann greifen der Vorwurf, den Jesus seinem Freund Petrus macht und die Warnung vor einem unwiederbringlichen Verlust!
Hartmut Rosa veranschaulicht dies an einem schlichten, fast banal wirkenden Beispiel: Es ist wie mit dem Schnee, den wir nicht machen oder bestimmen können, den wir kaum vorhersagen und schon verloren haben, wenn wir ihn festhalten wollen. Aber wenn er denn fällt, wird unsere Welt verwandelt, Dunkelheit wird erhellt und ein wärmendes, geheimnisvolles Gefühl von Geborgenheit erfüllt uns. Mir gefällt dieses Bild. So stelle ich mir gerne die Verwandlung am Ende der Zeit vor, wenn Gottes Liebe alles bestimmt.
Martin Luther hat diese Verwandlung in seinem schönen Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ besungen. Es steht in unserem Gesangbuch zwar als Weihnachtslied. Wir wollen es dennoch jetzt gemeinsam singen und mit besonderem Ernst und besonderer Zuversicht in dieser beginnenden Passionszeit einstimmen in den Vers: „Das ewig Licht geht da herein und gibt der Welt einen neuen Schein. Es leuchtet mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis.“ Amen.
Der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Liebe Gemeinde, schon vor einiger Zeit hat Kyrill, der Moskauer Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, zu der viele Gemeinden in Russland und in der Ukraine gehören, seinen Gläubigen ein Friedensgebet an’s Herz gelegt, das wir jetzt in der Verbundenheit mit unseren Schwestern und Brüdern dort beten wollen: Herr Jesus Christus, unser Gott, siehe herab mit deinem barmherzigen Auge auf das Leid und das so schmerzerfüllte Schreien deiner Kinder, die in der Ukraine sind. Befreie dein Volk vom Bruderkrieg, verringere das Blutvergießen, befreie von den Nöten, die der Krieg mit sich bringt. Die, die ein Haus verloren haben, lass wieder ein Zuhause finden, gibt den Hungernden zu essen, tröste die Weinenden, vereine die Getrennten. Lasse es nicht zu, dass deine Kirche Jemanden verliert aus Wut gegenüber Mitmenschen und Verwandten, sondern schenke uns wie ein großzügiger Gott baldige Versöhnung. Erweiche die Herzen derer, die hart geworden sind und lass uns zurückkehren zur Erkenntnis deiner Weisheit. Schenke Frieden deiner Kirche, ihren treuen Kindern und allen deinen Völkern, mache uns zum Werkzeug deines Friedens, damit wir mit einem Herzen und einigen Lippen dich preisen, unseren Herrn und Heiland von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

*Bild 1: commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21934129, Erell-Eigenes Werk, CCBY-SA 3.0
*Bild 2: https://ethik-heute.org/wp-content/uploads/2019/04/9783701734467-web2.jpg
Deine Predigt, lieber Christoph, veranlasst mich, über vieles nachzudenken. In diesen Zeiten der unglaublichen Bedrücktheit. War ein Krieg doch wirklich unvorstellbar.
Nicht nur, aber gerade in solchen Zeiten möchte man mit seinen Sorgen nicht allein sein. Der Austausch mit anderen über Ängste und Nöte hilft, weil man feststellt, mir geht es nicht allein so. Meine Sorgen sind auch die Sorgen des anderen. Aber was ist dazu notwendig. Hier bin ich auch bei Hartmut Rosa und seinem Buch „Resonanz“. (Dazu empfehle ich bei YouTube: Sternstunden Philosophie, Wozu nützt eigentlich Religion. Ein Gespräch mit dem Soziologen)
Gespräche sind notwendig, oder pandemiebedingt eine Kontaktaufnahme über Smartphone oder E-Mail. Ein klassischer Brief tut es auch. Manchmal noch viel tiefgehender, weil man sich Zeit nehmen muss oder sogar möchte. Antwortet dann noch der Mensch, mit dem man in einen Austausch treten möchte, ist das nicht nur Trost, meistens auch Freude und Erbauung. So empfinde ich es jedenfalls. Verhallt der Anruf im Nichts, ist es das Gegenteil. Das wollen wir aber nicht hoffen. Wer in der Lage ist mit Gott in Resonanz zu treten, der kann auch getrost sein. Gott ist uns nicht verfügbar in dem Sinne, dass wir ihn genau einschätzen können, wissen, was er denkt und was er tut. Dein oft zitierter wunderbarer Satz von Augustin fällt mir dazu ein: „Wenn du’s begreifst, ist es nicht Gott“. Aber ich habe das Gefühl des Geimeintseins, dass er mich hört, dass er mich sieht, ich ihm nicht gleichgültig bin. So spüre ich diese Resonanz und das tröstet. Und Trost bereitet den Boden für mehr, für Kraft, Ausdauer, Mut…
Joseph Ratzinger sagte einmal: “Man sollte Vertrauen wagen und einfach anfangen zu beten – und wenn man in seinem Bemühen nicht nachlässt, dann wird Gott einem auch antworten. Man wird eine andere Dimension der Wirklichkeit erfahren.“
Schön, Deine anregende Predigt, gerade jetzt und gerade hier!
Herzliche grüßt Dich
Bettina
LikeLike
Pingback: Erneut in eigener Sache, aber diesmal vor allem ein Geburtstagsbrief – schreibundsprich