Ende der Naivität – oder: Wie konnte es soweit kommen? Und wie finden wir nun heraus?

Christoph Ehricht

Ein Leser von Schreibundsprich schrieb mir nach der Lektüre einiger unserer Beiträge zum Ukraine-Krieg: „Wenigstens wurde der 24. Februar zum Ende der Naivität in der Urteilsbildung vieler Zeitgenossen.“ Ich habe nicht nachgefragt, wo und bei wem er diese Naivität wahrgenommen hat. Aber seine Beobachtung beschäftigt mich. Was konkret mag er meinen? Bin oder war auch ich naiv in der Beurteilung des Konfliktes, der Analyse seiner Vorgeschichte und den bangen Fragen nach seinen Folgen?

Natürlich ahne ich, an welche Naivität der Leser dachte. Darum sind meine durch ihn angeregten Überlegungen nicht frei von Polemik. Das gilt gleich für meine erste Feststellung: Ja, am 24.2. ist der naive Glaube zum Ende gekommen, als ob der Westen ungestraft und ewig sein Russland-Bashing fortsetzen könne. Provokationen, Demütigungen, nachträgliche Änderung gültiger Handelsverträge, großzügiges Hinwegsehen über wild gewordene Nationalisten in der Nachbarschaft Russlands, die zum Beispiel von ihrem Parlament diesen unsäglichen Stepan Bandera zum Nationalhelden Nr.1 erklären lassen (weil der Feind meines Feindes mein Freund ist!), oder die russische Sprache verbieten wollen, Kündigung von Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen. Betretenes Schweigen in unseren Medien, als die ukrainische Regierung die Schirmherrschaft über eine deutsch-ukrainische Historikerkommission niederlegte, übrigens wie zu hören war auf Veranlassung durch Botschafter Melnik: Die deutsche Seite war zurückhaltend in der Bewertung der Hungersnot Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts als Genozid der Russen am ukrainischen Volk, da die Hungersnot von den Kommunisten – auch ukrainischen – und auch in Südrussland und Kasachstan inszeniert worden war. Und schließlich: seit langem stand die Empfehlung eines US-amerikanischen Sicherheitsberaters im Raum, die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich heraus zu lösen, damit Russland zur Regionalmacht herabgestuft werden kann. Keine Frage, im Blick auf Russland können wir natürlich ein vergleichbares, womöglich noch schlimmeres Sündenregister aufmachen. Und alles rechtfertigt keinesfalls den Angriffskrieg auf die Ukraine. Aber wenn wir danach fragen, wie es soweit kommen konnte und wie wir nun wieder herausfinden können aus der Katastrophe, dann sind wir gut beraten, auch die von uns beigetragenen Bausteine der Vorgeschichte zu sichten. Ohne nur auf die Kraft stetiger Gewalteskalation durch Sanktionen und Waffenlieferungen zu vertrauen. Oder durch ein 100 – Milliarden – Aufrüstungsprogramm den Frieden sichern zu wollen. Die Rüstungskonzerne freuen sich auf deutsches Steuergeld. O weh. Was muss noch passieren, damit wir uns aus dieser Naivität befreien?

Auch meine zweite Überlegung ist zugegebener Maßen etwas polemisch. Dass Putin den Krieg mit billigen propagandistischen Begründungen vom Zaun gebrochen hat, setzt ihn natürlich als Angreifer in’s Unrecht. Wenn er das Abdriften von Nachbarstaaten in die NATO hätte verhindern wollen, hätte er sich dem Wettbewerb stellen müssen und attraktive Angebote und Einladungen auf den Tisch legen müssen. Die besten Voraussetzungen dafür hatte (und hat immer noch!) Russland. Putins Bomben und die leider vorhersehbare Brutalität seines Krieges, die mir – um es mit den unter Tränen gesprochenen Worten meiner russischen Klavierlehrerin zu sagen – das Herz zerreißen, sie können nur das Gegenteil bewirken.

Aber ich fürchte, dass auch die andere Seite nicht wirklich an einer friedlichen Lösung interessiert war und ist. Den westlichen Lippenbekenntnissen, wonach Sicherheit in Europa nur mit, nie ohne und erst recht nicht gegen Russland zu erreichen ist, folgten keine konkreten Vorschläge, nur phantasielose Sanktionsandrohungen, herbei geredete (am Ende sehnsüchtig erwartete?) Angriffstermine, Sanktionen und jetzt Waffenlieferungen. Die Politik hat versagt und versagt weiterhin, das müssen wir uns auch im Westen in genau so schonungsloser Offenheit vor Augen führen wie im Fall von Afghanistan, Irak, Lybien, Syrien… Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Mit deutschen Waffen wird auf Russen geschossen. Unerträglich. Und die Abhängigkeit von russischen Energiequellen soll nun eingetauscht werden gegen die Abhängigkeit von „lupenreinen“ Autokraten, die die Hamas, die Hisbollah, die Taliban und den Iran unterstützen. Geht’s noch?

Es mag naiv sein daran zu glauben, dass Frieden in Europa möglich ist, wenn alle Europäer ihre eigenen Interessen erkennen und ihre eigenen Reichtümer nutzen in einem Geist aufgeklärter Vernunft, ohne sich vor den Karren fremder geopolitischer Strategien spannen zu lassen. Von dieser Naivität will ich mich auch nach dem 24.2. nicht verabschieden. Wir werden, da bin ich sicher, aus dem gegenwärtigen Desaster herausfinden, wenn es gelingt, einen überzeugenden Plan für Frieden und Sicherheit zu entwickeln – mit Russland, sicher, hoffentlich ohne Putin. Wir erleben gerade, wie schnell die gewachsenen Beziehungen und Partnerschaften zerstört und gelöst werden können. Offenbar endgültig, für immer. Welches langfristige Ziel soll damit wohl erreicht werden? Zerschlagung der russischen Föderation, wie der ukrainische Außenminister prophezeit hatte? Und was dann? Ein Konglomerat rivalisierender Kleinstaaten, hin – und her gerissen zwischen nationalistischen, islamistischen und chinesischen Allmachtsträumen?

Während ich diese Zeilen schreibe, tagt der NATO-Gipfel in Brüssel und mein Nachrichten -Ticker teilt mir nacheinander diverse Beschlüsse mit. Weitere Verstärkung der Ostflanke, neue Sanktionen, Drohung an Russland für den Fall des Einsatzes chemischer Waffen, Ausschluss Russlands aus der G 20 – Gruppe, Waffenlieferungen an die Ukraine – nichts, was meinen Eindruck beschwichtigen könnte, dass wir vor einem Trümmerhaufen der Politik stehen.

Ein nachdenklich stimmendes Beispiel aus der Geschichte geht mir in diesen Tagen nicht aus dem Sinn. Am 8. Januar 1918 verkündete der US-Präsident Woodrow Wilson, seines Zeichens ein hoch gebildeter Historiker und Geschichtsprofessor, ein 14-Punkte-Programm zur Beendigung des Weltkrieges. Leider wurde das Programm bei den späteren Friedensverhandlungen in Versailles nicht wirklich berücksichtigt, aber in den Monaten nach seiner Verkündung stärkte es die friedensbereiten und besonnenen Kräfte in den Konfliktparteien, so dass die Bereitschaft für einen Waffenstillstand wuchs. Spät, aber eben nicht zu spät. Ich gebe zu, ich war so naiv, darauf zu hoffen, dass von dem Gipfeltreffen in Brüssel ein Beschluss der politischen Verantwortungsträger etwa im Sinne der damaligen 14 Punkte ausgehen würde: „Es reicht. Lasst uns als erwachsene Leute gemeinsam darüber nachdenken, wie wir aus dieser Katastrophe herauskommen, ehe sie zum Inferno wird.“

Vielleicht gelingt es ja noch. Diese naive Hoffnung will ich mir nicht nehmen lassen. Es ist spät. Aber vielleicht ja wirklich nicht zu spät.