Warten auf Hermes, den Götterboten.

Eine Einladung zum Nachdenken – und gerne zum Gespräch!

Von Christoph Ehricht

Im Jahr 1900, also pünktlich zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey einen programmatischen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Profession des Götterboten Hermes untersucht. Der Titel des Aufsatzes lautete: „Die Entstehung der Hermeneutik“. Ich will den Inhalt hier gar nicht referieren. Der sehr anregende Text ist leicht zugänglich im Netz.

Die leitende Frage des Aufsatzes ist: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Verstehen möglich wird? Die Antworten darauf, aber vor allem die Frage selbst waren inspirierend für viele Denker der folgenden Jahrzehnte. Zwei von denen, die weiter darüber nachdachten, sind Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, die den Lesern dieses Blogs bereits bekannt sind. Unter den Theologen ist es vor allem Rudolf Bultmann gewesen, der im Gespräch mit Heidegger in Marburg – solange dieses Gespräch möglich war! – über das Geheimnis des Verstehens nachdachte und die Wahrheit über Gott und die Welt in den alten Mythen aufdecken, entschlüsseln und verstehen wollte.

Diltheys Fragestellung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Bedingungen, damit Verstehen möglich wird – möglich, das heißt die Verwirklichung der Möglichkeit steht dann noch auf einem anderen Blatt! Wirkliches Verstehen bleibt immer ein unverfügbares Geschehen, fast ein Wunder. Nicht von ungefähr hat die Mythologie darum den Götterboten auf den Weg geschickt, der uns Irdischen die Sprache lehrt, in der die Entscheidungen und Vorgänge auf dem Olymp erklärt und verstehbar werden können. Die Gestalt des griechischen Götterboten Hermes ist übrigens in der Mythologie verschmolzen mit dem altägyptischen Gott Thot und wurde zu Hermes Trismegistos. In dessen Überlieferung entstand das „corpus hermeticum“, das hermetische Schrifttum, geheime, hermetisch abgeschlossene Weisheiten, die nur Eingeweihten zugänglich sind.

Hermes – Halle der Antike im Dresdner Zwinger

Dass es kein sicheres Patentrezept, keine Garantie für verwirklichtes Verstehen gibt, erfährt jeder, der sich um das Verstehen des eigenen Partners oder der Zeitläufte oder der eigenen Lebensgeschichte bemüht. Exemplarisch werden mir die Schwierigkeiten deutlich, wenn ich mich in einer der beiden mir halbwegs zugänglichen fremden Sprachen bewege. Die „Bedingungen für die Möglichkeit des Verstehens“ sind ein einigermaßen verfügbarer Fundus an Vokabeln, ein Grundgerüst der Kenntnis grammatikalischer Regeln und Strukturen und ein Gespür für das, was in den gesprochenen oder aufgeschriebenen Worten und Sätzen mitschwingt. Das alles sind – in der Sprache der mathematischen Logik gesprochen – „notwendige Bedingungen“ für das Verstehen. Ich stelle dabei aber oft fest, wie wichtig und entscheidend es neben allen erlernbaren handwerklichen Fähigkeiten ist, dass ein Text mich berührt oder dass mein Gesprächspartner mir sympathisch ist, ich Angst und Scheu überwunden und Vertrauen zu ihm habe und das sichere Gefühl gegenseitigen Interesses. Das kann ich nicht lernen und nicht machen, aber erst dann können auch die „hinreichenden Bedingungen“ erfüllt werden. Dann erst gelingt wirkliches Verstehen. Ich vermute übrigens, dass diese Beobachtungen in gleicher Weise am Ende auch gelten, wenn ich mich um Verstehen in meiner Muttersprache bemühe.

In dem Zusammenhang und ganz am Rande fällt mir die Anekdote ein, die von Kaiser Karl V. erzählt wird. Er soll gesagt haben: „Wenn ich zu Gott bete, spreche ich spanisch. Mit meiner Geliebten italienisch. Mit meinen Freunden spreche ich französisch, mit meinen Pferden deutsch.“ Ob Martin Luther diese Geschichte kannte und seinen Kaiser eines Besseren belehren wollte? Und so zu einem großen Hermeneuten wurde?

Aber kehren wir nach diesem kleinen Ausflug zurück zum Götterboten Hermes. Wie schwer und anspruchsvoll die „Hermeneutik“ ist, also das Herausfinden und Erfüllen der Bedingungen, die Verstehen möglich machen, erleben wir in Krisenzeiten mit besonders unbarmherziger Deutlichkeit. Ehepaare oder Eltern und Kinder können ein Lied davon singen. In der Regel ist es kein fröhliches Lied. Vieles kommt zusammen – enttäuschtes Vertrauen, das Gefühl des Betrogenseins, Zukunftsangst, schmerzliche Erinnerungen an eine unwiederbringlich verloren gegangene harmonische Zeit. Wichtig ist, dass wir uns in solchen Krisen nicht selbst und nicht gegenseitig überfordern, sondern die Spannungen erst einmal geduldig aushalten. Und die Zuversicht nicht verlieren, dass auch wieder bessere Zeiten kommen werden. Wichtig sind nicht zuletzt Freunde, die zuhören und nicht mit Ratschlägen schlagen. Sie können zu Götterboten werden.

Und wie ist es mit dem Erleben unserer gegenwärtigen Coronakrisenzeit? Vielen, den Schreiber dieser Zeilen eingeschlossen, erscheint unsere Welt in mancherlei Hinsicht mehr und mehr auch als „corpus hermeticum“. Das Coronavirus ist wohl nur eine Art Katalysator dafür. Es schwächt mein Vertrauen in die meisten Erklärungs- und Deutungsmuster, ja, in die Verlässlichkeit von Wissenschaft, Medien und Politik überhaupt. Es macht mir Angst vor der Zukunft. Wehmütig denke ich daran zurück, wie es früher war, als ich Konzerte besuchen und mich hinterher ungezwungen mit Freunden treffen konnte, als in der Kirche das Singen erlaubt war, als ich ungehindert Menschen in ganz Europa und in Israel besuchen konnte. Beklommen stelle ich mir vor, was in den Seelen von Kindern passiert, wenn sie sich die Maske aufsetzen müssen, um einigermaßen am Alltag teilzuhaben.

Und doch – war da tief innen in mir nicht bereits lange vor Corona das bange Gefühl oder die Ahnung, dass es nicht in Ordnung war und nicht von stabiler Dauer sein konnte, was mir das Leben lebenswert machte? Dass ich auf Kosten anderer, von vier Fünfteln der Menschheit und nicht zuletzt auch meiner Enkel lebe? Auf Kosten der wunderbaren Schöpfung? Dass ein Geld die Welt regiert, das gar nicht mehr in realer Wertschöpfung verankert ist, sondern in mehr oder weniger windigen Spekulationen? Wie ohnmächtig ich mich fühlte, wenn ich an den Skandal dachte, dass in unserem so modernen und aufgeklärten Land die Bildungschancen von Kindern maßgeblich von ihrer sozialen Herkunft bestimmt werden? Wie meine eigene Meinungs- und Urteilsbildung immer wieder vom Gift der Verlogenheit und Heuchelei angegriffen wurde? Wie hilflos und wütend – ohnmächtig mich die Bilder ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer machten?

O weh, ich muss mich bremsen! Wie leicht und mühelos sich diese Aufzählung beklemmender, bohrender und gern unterdrückter Fragen doch fortsetzen lässt…

Darum zurück zu Diltheys Frage: welche Bedingungen müssen gefunden und erfüllt werden, damit Verstehen wenigstens möglich wird? Ganz ehrlich: ich habe im Moment keine Antwort darauf, wie die aktuelle Krise zu verstehen ist und wie es weitergehen wird. Und ebenso ehrlich gesagt sind mir von den Entscheidungsträgern, Vordenkern und Meinungsbildnern zur Zeit die am glaubwürdigsten, die ihre eigene Unsicherheit und Ratlosigkeit offen zu erkennen geben. Noch einmal: es gibt kein sicheres Patentrezept und mit Gewalt oder mit fragwürdigem Geld in astronomischen Größenordnungen von Milliarden und Billionen allein lässt sich die Krise bestimmt nicht lösen.

Diese Nüchternheit mag eine der notwendigen Bedingungen sein, die wir herausfinden und erfüllen lernen müssen, wenn wir verstehen wollen, was gerade geschieht. Zu den hinreichenden Bedingungen dürfte gehören, dass der Abschied von vielen Illusionen angesagt ist. Nicht alles ist verfügbar und machbar. Wir werden kleinteiliger leben und denken lernen müssen. Irgendwie freue ich mich sogar darauf.

Und noch weitere hinreichende Bedingungen gibt es. Mit dem klugen Kirchenvater Augustin müssen wir zum Beispiel den Unterschied von securitas und certitudo, Sicherheit und Gewissheit neu buchstabieren lernen. Sicher können wir wohl auf absehbare Zeit des Verstehens (und Beherrschens!) unserer Welt kaum sein, wenn wir es je sein konnten. Aber gewiss können wir sein, dass auch diese Krise einen Sinn hat und einmal überwunden sein wird. Dann werden wir das Wichtigste gewinnen – Gelassenheit und langen Atem. Sie sind ebenso gefragt wie angstfreie Sympathie füreinander und für unsere kostbare Welt, wie die Einsicht, dass in dem lange aus der Mode gekommenen, jetzt aber zu neuem Leben erwachten Wort Demut vor allem das Wort Mut enthalten ist. Das Wort sollte zum unverzichtbaren Vokabelschatz der Sprache gehören, in der wir neues Verstehen lernen können.

Es ist wohl so: geduldig müssen wir auf den Lehrer dieser Sprache, auf Hermes, den Götterboten warten. Er wird kommen, wann und wie auch immer. Das ist gewiss. Oder ist er schon längst mitten unter uns?

Link zu Wilhelm Diltheys „Die Entstehung der Hermeneutik“ https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTGEIST/HermeneutikDilthey.shtml

Caduceus des Hermes

4 Gedanken zu “Warten auf Hermes, den Götterboten.

  1. Verständnis und Unverständnis waren bisher für mich Begriffe, die keiner weiteren Erklärung bedurften. Nun wird mir erklärt,Voraussetzungen müssen vorhanden sein, damit ein Verstehen überhaupt möglich ist. Und im Verlauf des Aufsatzes wird mir klar, warum es oft nicht gelang oder gelingt.

    „Die Fähigkeit mit den Gedanken des anderen mitgehen zu können, seinen Narzissmus überwinden zu können, auf das hören, was der andere sagen will, das ist Bildung.“ (Gadamer zitiert Hegel)
    Die Logik ist das etwas kümmerliche Instrument, mit dem die Menschen oft aneinander vorbei reden. (Gadamer)
    Manchmal fehlt einem das Verständnis, dass der andere einen nicht verstehen kann, offenbar den Gedanken nicht folgen kann. In einem Ehezwist, wie Christoph ihn erwähnt, unterstellt man dann meist, dass der andere einen gar nicht verstehen will. Das mag in dieser Ausnahmesituation auch vielleicht so sein.
    „Hier gibt es das schöne Beispiel von der „Unlogik“ der Frau, die in nichts anderem besteht, als dass sie zu logisch ist, wo es nicht hingehört. Sie gebraucht Worte mitunter ohne logischen Zusammenhang, aber da steckt dann eine tiefere Logik dahinter“. (Hans-Georg Gadamer im Gespräch über den Kairos)

    Ich erinnere mich an eine Beurteilung meines Klassenlehrers. Er bemängelte, dass ich, nur weil ich die Lehrerin nicht leiden könne, in ihrem Fach, das mich überdies noch unglaublich langweilte (technisches Zeichnen), schlechte Noten bekommen würde. Hier sehe ich heute alle Bedingungen als Voraussetzung zum Nichtverstehen erfüllt.
    Den umgekehrten Fall gab es auch – Lehrer und Unterrichtsfach sagten mir zu.
    Und es gab das Fach Chemie: Mit der Materie konnte ich wenig anfangen, aber den Lehrer mochte ich sehr. Die gegenseitige Sympathie und unser Bemühen zu erfassen, was der eine meint und der andere nicht begreift, führten letztendlich dazu, dass es zwar nie mein Lieblingsfach wurde, ich aber die (Ab)Scheu vor dem Fach verlor und es mit einer guten Abschlussnote bestand.

    Eine Begebenheit aus einem Livebericht über Herbert Grönemeyer fällt mir noch ein: Ein Fan sagte ihm, wie sehr er seine Musik mögen würde. Er könne fast alle Texte mitsingen, begreife aber einige nicht. Darauf erklärte der Sänger, der seine Texte selbst schreibt, er verstünde manchmal auch nicht, was er da singt…

    Trifft man auf einen Menschen, den man mag, dessen Themen und dessen Erzählen man gern folgt und dem es umgekehrt genauso geht, spürt man gegenseitiges Vertrauen, wie Christoph auch schreibt, so teile ich die Feststellung Wilhelm Diltheys, dass ein großer Teil menschlichen Glücks aus dem Nachfühlen des Seelenzustands des anderen entspringt.

    Bettina

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  2. Heidelore Henrich

    Was zu den erforderlichen Bedingungen des Verstehens gesagt ist, trifft auch auf die einer Freundschaft zu. Jedenfalls kommt mir das so in den Sinn. Ich finde das nachstehende Zitat von Friedrich Hebbel:
    „Die Freundschaft … ist eine Gunst, die dem anderen das Wesen gönnt, das er hat, dergestalt, daß durch dieses Gönnen das gegönnte Wesen zu seiner eigenen Freiheit erblüht.
    In der „Freundschaft“ wird das wechselweise gegönnte Wesen zu sich selbst befreit.
    Nicht die Betulichkeit, nicht einmal das „Einspringen“ in Notfällen und gefährlichen Lagen ist das Kennzeichen der Freundschaft, sondern das füreinander Dasein, das irgendwelcher Veranstaltungen und Beweise nicht bedarf, das wirkt, indem es auf die Beeinflussung verzichtet. …

    Die Gewährung des Wesens bedarf des Wissens und der Geduld, das Gönnen ist ein Wartenkönnen, bis der andere sich in die Entfaltung seines Wesens findet und seinerseits aus dieser Wesensfindung kein Aufhebens macht. … das Gönnen der Gunst, die etwas schenkt, was ihr im Grunde nicht gehört und die doch Gewähr geben muß, damit des anderen Wesen im eigenen verbleiben kann. …“

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