IN BERLIN GEHT’S JETZT ANS EINGEMACHTE (Lockdown 2.0-1)

Berlin, det Datum weeß ick nich,/keenen Kalender hab ick nich,/die Tinte is mir injefroren,/ die Feder hab ick ooch verloren,/der Bleistift is mir abjebrochen,/vor Angst bin ick ins Bett jekrochen.*

Soviel Angst war nie. Todesangst, Ansteckungsangst, Existenzangst, Angst vor Verlust der eigenen Firma, Bußgeldangst, Versammlungsangst, Verleumdungsangst, Überwachungsangst. Verordnungsumsetzungsangst. Oder anders gesagt: Besuchsverbote, Versammlungsverbote, Bewirtungs- und Beherbergungsverbote, Sportverbote, Musik-, Theater-, Tanz- und Kabarettverbote uvm.. Das weltoffene, gastfreundliche und hippe Berlin, seit dem Fall der Mauer vor dreissig Jahren avanciert zu „ everybodies darling“, ist garstig und trist geworden und liegt kulturell und wirtschaftlich am Boden.

Und auch zur Advents- und Weihnachtszeit leisten die staatlichen Verordnungs- und Kontrollmechanismen ganze Arbeit: Statt ‚Macht hoch die Tür, die Tor macht weit‘ tönt es ‚Abstand-Hygiene-Alltagsmaske‘. Anstelle der Weihnachtsoratorien und -spiele die Schwarzen Messen der Konformität auf allen Kanälen. Statt ‚Fürchtet Euch nicht‘ der verordnete ‚Krieg gegen Corona‘. An die Stelle von ‚Gloria in Excelsis‘ platzieren sich die ‚PCR-Test-Zahlen‘. Ob zwei oder drei oder fünf zehn am Weihnachtsfest zusammen sind, bestimmt das Coronakriegs-Regime. Das hat es in zweitausend Jahren nicht gegeben.-Wie Vertriebene in der eigenen Stadt sind die BerlinerInnen in diesen Tagen. Vertrieben aus ihren Arbeitsplätzen, staatlich unerwünscht in ihren Gasthäusern, ausgeschlossen aus ihren Cafes und Servicebetrieben, verbannt aus ihren Theatern und Konzertsälen, betrogen um ihre Wertschöpfung, vermummt auf den Straßen und Bahnhöfen. Nahrung nur zum Mitnehmen. Gemeinsame Mahlzeiten, Freude am Austausch, Vis-a-vis, Gespräche waren gestern. „Alles zu Euerm Schutz“, orchestrieren die Medien, Regierungs-sprecher, Senatskanzleien und Werbeagenturen des Propagandafeldzugs.

Wie in eine weltweite, menschheitliche Selbstgefangenschaft hat uns Alle die Furcht vor einer Ansteckung mit einer Atemwegserkrankung durch ein Virus geführt. Eine Erkrankung, über die wir wenig wissen, die meist milde verläuft, aber auch zu schweren Lungenkomplikationen und Tod führen kann. Und obwohl wenig gewußt wird, hat das Panikorchester Drosten, Wiehler, Merkel, Spahn, Söder, Müller & Co das alleinige Heft in die Hand genommen und die Ärzteschaft, das Heilwesen, die autonome Medizin entmündigt, setzt auf Koeffizienten, statistische Kurven und vor allem aufs Wegimpfen der Gefahr. Hunderte Millionen Impfdosen sind bereits bestellt, obwohl kein tauglicher Impfstoff noch nicht entwickelt und zugelassen ist. Impfzentren sind im Bau.

„Der Mensch ist ein im Spiegelkerker Gefangener“ fand C. Morgenstern in seinen “Stufen“. Er durchschaute in lebenslangem Üben, dass unser Erkenntnisvermögen nicht nur eine Spiegelreflexkamera der Sinneserscheinungen ist, sondern ein schöpferischer Prozess der Entwicklung und Weltverwandlung. In unserem Falle: Wenn wir schon wenig über die Krankheit und deren Heilung erkennen oder denken wollen, testen wir wenigstens sinnlich erfahrbare Spuren eines „Verursachers“ herbei.

Morgenstern war kein Berliner. Aber er weilte hier oft und gerne, schuf den Großteil seiner Galgenlieder und Gedichtzyklen in diesem Milieu. Es haben sich wie er in den vergangenen zweihundert Jahren unzählige Persönlichkeiten ins Gästebuch der Stadt eingeschrieben, die künstlerisch, denkerisch, forschend und handelnd die seelisch-geistige Dimension unseres Menschseins erschlossen haben und uns nicht im Nebel der Statistik und theoretischer Reduktion auf die Physis belassen haben. Eine lichte Saat, die nun keimt und aufgehen kann, wo die Stadt leise stirbt. Die Herbergen sind verschlossen, aber die Geburten finden statt- im Stillen in jedermensch und lebenskräftig.- Warum ich mich so auf Berlin und seine Bewohnerschaft konzentriere, wo wir doch in einer Menschheitsangelegenheit gefragt sind? Weil A mir dieser geistige Ort am Herzen liegt und er so schöne Kinderreime hervorgebracht hat, B weil die Berliner helle sind und mit unverwüstlichem Humor beseelt und C weil mir die Stadt zum Organ meiner sozialen Wahrnehmung geworden ist.

Kommt’n Schiff jefahren, / is noch nich beladen./ Wer wat jibt is Engelken,/ wer nischt jibt is Deibelken. * (Noch’n Alt-Berliner Kinderreim)

Scherenschnitt von Chr. Morgenstern, der am 6.5.2021 150 wird

Manfred Kannenberg-Rentschler, Berlin, den 2.12.20.-

An diesem Tag vor 120 Jahren starb im Urban-Krankenhaus in Kreuzberg der Dichter und Herausgeber Ludwig Jacobowski, Gründer und Veranstalter des Künstler- und Schriftsteller- Klubs Die Kommenden am Nollendorfplatz.- An diesem Tag wird die Schriftstellerin und Malerin Andrea Hitsch in Arlesheim/Schweiz im zugelassenen Rahmen von zehn Teilnehmern aus den Briefen Jacobowkis lesen. Der Geist weht, wo er will.

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