von Bettina Zarneckow
„Wenn’s etwas gibt, gewaltiger als das Schicksal, so ist’s der Mut, der unerschüttert trägt.“ Emanuel Geibel (1815-1884)

Im Oktober gibt es schon wunderschöne Tage mit einem wohltuenden Naturschauspiel der bunten Blätter, der warmen Farben. Genau an so einem Tag waren Alexandra und ich zum wöchentlichen Besuch auf dem Frankfurter Friedhof zur Pflege unseres Familiengrabes. Drei Generationen haben hier schon ihre letzte Ruhestätte gefunden. Anschließend machten wir einen ausgedehnten Spaziergang. Wir sind gern auf Friedhöfen und haben schon in einigen Städten Gräber von Menschen besucht, die wir bewunderten und mögen. Loriot, Curt Goetz und Valerie von Martens in Berlin. Attila Hörbiger und Paula Wessely sowie Peter Alexander in Wien. Heinz Erhardt, Helmut und Loki Schmidt in Hamburg. Magda Schneider in Schönau am Königssee.
Als Frankfurterin bin ich auch gern auf dem Friedhof meiner Geburtsstadt. Viele Namen auf den Grabsteinen kenne ich, alte Handwerksfamilien, Persönlichkeiten der Stadt, einige meiner Lehrer. Es lässt sich viel erzählen, man beginnt nachzudenken und im gegenseitigen Fragen wird man von Vorstellungen ergriffen. Diesmal entdeckten wir versteckt mehrere sehr alte, monumentale Grabdenkmäler. Besonders beeindruckt waren wir von dem hier abgebildeten. Wir lasen Namen und Daten und fanden folgenden Spruch, der mich nicht mehr los ließ.
Wenn’s etwas gibt, gewalt’ger als das Schicksal, so ist’s der Mut, der’s unerschüttert trägt.
Der Stein will ausdrücklich an den Tod eines Kriegsfreiwilligen erinnern. Wir brachten die Inschrift in Verbindung mit dem Gefallenen, bedachten seine jungen Jahre, das Bangen der Familie um den an der Front Kämpfenden, bis hin zur erschütternden Nachricht über seinen Tod und wurden still. Er fiel am 4. Februar 1919 im Alter von 20 Jahren bei Neu Kramzig, heute Nowe Kramsko. 1919? Der erste Weltkrieg endete doch 1918! 1919 folgten Kämpfe um die Herrschaft in der Neumark, die mit einem Waffenstillstand am 16. Februar 1919 beendet wurden. Bedenken wir das Schicksal, das gewaltig sein kann und im Falle eines jeden Soldaten, der in den Krieg zieht, auch gewaltig ist, ist dieses Schicksal nicht in Worte zu fassen. Der Mut muss von außerordentlicher Stärke sein, um es zu tragen.
Der Urheber des Spruchs war nicht angegeben, deshalb suchte ich ihn mir zu Hause unter Eingabe der Zeilen bei Google heraus. Emanuel Geibel (17.10.1815 Lübeck, † 06.04.1884 ebenda). Ein bekanntes Lied von ihm „Der Mai ist gekommen“ ist noch heute im Gedächtnis, zumindest bis zu meiner Generation.
Was ist eigentlich Mut? Wie können wir ihn erklären?
In der Nikomachischen Ethik sagt Aristoteles über den Mut:
„Der Feige hofft zu wenig, weil er vor allem zurückschreckt.
Von dem Mutigen gilt das Gegenteil. Denn die Zuversicht verrät den Mann der frohen Hoffnung.
Die Dinge also, mit denen der Feige, der Tollkühne und der Mutige es zu tun haben, sind dieselben, aber ihr Verhalten zu ihnen ist verschieden.
Die einen haben ein Zuviel und Zuwenig, der andere hält sich in der Mitte und handelt, wie es sich gehört.
Die Tollkühnen sind voreilig und voll Entschiedenheit vor der Gefahr, in der Gefahr aber lassen sie nach.
Die Mutigen aber sind bei der Tat wacker, vorher dagegen ruhig. Wie gesagt also, der Mut ist Mitte in Bezug auf solches, was bei den bezeichneten Gefahren Zuversicht und Furcht einflößt; er wählt und duldet, weil es so sittlich gut und das Gegenteil schlecht ist.“
Es gibt unzählige Beispiele aus der Geschichte von Menschen und ihren mutigen Taten. Angefangen bei Sokrates, der seine Verurteilung gefasst hinnahm, Maria Magdalena, die Jesus bis zum Kreuz folgte, Johanna von Orléans, die als erste Frau in den Krieg zog, Martin Luther vor dem Reichstag in Worms, der Luftfahrtpionier Otto Lilienthal, Sophie Scholl und ihr Kampf gegen den Nationalsozialismus, stellvertretend für alle, die am Attentat gegen Adolf Hitler beteiligt waren – Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Dietrich Bonhoeffer.
Beflügelt von dem Herbstausflug auf den Friedhof mit all den Gedanken und Gefühlen, die ich mit nach Hause nahm, schien mir das Thema Mut ein gut darstellbares zu sein, worüber ich gerne schreiben würde. Doch ich stellte beim Nachdenken darüber fest, es ist sehr komplex und schwer fassbar, weil Mut so vielfältig ist. Von Mensch zu Mensch anders betrachtet und empfunden wird. Ich las Berichte über das Kriegsgeschehen in den Weltkriegen. Einen Bericht über das Empfinden eines Soldaten in einer Angriffssituation. Ich machte mir Gedanken über meine Großeltern, die 1945 in Frankfurt (Oder) geblieben sind, als die Stadt vor dem Einmarsch der Russen zwangsevakuiert wurde, weil sie einen Versorgungsbetrieb hatten (eine Fleischerei). Mir fielen Freunde meiner Großeltern ein, Besitzer der Konservenfabrik Heinerle in Frankfurt, die 1951 unauffällig, ihr Hab und Gut zurücklassend, nach Braunschweig verschwanden. Ein Familienmitglied nach dem anderen. Am meisten beeindruckt hat mich immer der Bericht über den Neffen der Fabrikbesitzer, der an einem Sonntag zu einem Spaziergang mit seinem Hund aufbrach und nicht mehr wiederkehrte. Alle gingen aus Angst vor der Verstaatlichung der Fabrik und drohender Inhaftierung. Aus Heinerle wurde VEB Oderfrucht. Mutig war es von meiner Mutter, eine Immobilie mit Mieteinheiten (erbaut 1929 und 1938), das Lebenswerk meiner Großeltern, durch die Zeiten der DDR zu retten. Gegen vielerlei Widerstände, sogar aus der eigenen Familie. Als mein Vater als Invalidenrentner nach Westberlin und Westdeutschland reisen durfte, brachte er regelmäßig Dinge mit, deren Einfuhr in die DDR verboten war. Meistens waren es Bücher und Zeitschriften.
Jede Zeit stellt Menschen vor Herausforderungen, deren Bewältigung oft ein unkalkulierbares Risiko bedeutet. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang ist groß, aber es gibt keine Sicherheit. Klarheit erhalten wir, wenn wir wohl bedacht riskieren. Situationen, in denen man selbst seine Angst überwindet, können glücklicher machen und einen persönlichen Sieg bedeuten. Mutig zu sein heißt nicht angstfrei zu sein, sondern die Kraft aufzubringen, die innere Stärke, diese Angst zu überwinden. Allerdings steckt zugegeben ein großes Wagnis in der mutigen Tat, das Gewahrwerden seiner Möglichkeiten und Grenzen, schlimmstenfalls eine Enttäuschung, die dennoch als Lebenserfahrung nicht umsonst ist.
Ein Synonym für Mut ist Beherztheit. Ich biete einem fremden Menschen Hilfe an, die Straße zu überqueren oder eine Besorgung zu erledigen. In einem der letzten Winter, als Schnee noch ein wirkliches Hindernis auf den Straßen bedeutete, überwand ich mich und bot einem Mann an behilflich zu sein, sein Auto aus einer Parklücke zu schieben. Die durchdrehenden Räder hatten bereits den Schnee in Eis verwandelt. Erstaunt und dankbar nahm er mein Angebot an, doch ich allein war nicht stark genug. Mein Beispiel animierte zwei Herren im Anzug und gemeinsam gelang es. Glücklich waren wir am Ende alle Vier.
Und was bedeutet es, eine angekündigte Tat zu lassen, ein Vorhaben abzubrechen? Stellen wir uns einen Menschen vor, der ein Sprungbrett betritt, weil die Sprünge der anderen von unten so einfach aussahen und der Reiz, es ebenso zu schaffen groß ist. Am Absprungpunkt angekommen, schätzt er nun die Höhe ganz anders ein, bedenkt seine mögliche Ungewandtheit, eventuell ungünstige Folgen und kehrt wieder um. Wie mutig unter den Augen vieler Menschen!
Im Bekenntnis der Liebe zu jemandem wagen wir Vertrauen, mit der großen Hoffnung, nicht enttäuscht zu werden. Wir setzen uns der möglichen Verletzung aus, die nicht erwiderte Liebe bedeuten kann. Aus einer Studie der amerikanischen Autorin Brené Brown: „Verletzlichkeit ist der Schlüssel zu allem, von dem wir mehr wollen: Freude, Intimität, Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen.“ Das ist es also, das wir gewinnen können in der Überwindung der Angst vor Enttäuschung und Verletzung. Im Erfolgsfall bedeutet es großes Glück, vielleicht ein Leben lang.
Kehren wir zu meinem Ausgangspunkt zurück, dem Herbstspaziergang an friedlicher Stätte. „Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14/ Brahms: Ein deutsches Requiem) Ich habe hier meine bleibende Statt, die Stätte der Erinnerung und des Gedenkens an meine Familie. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die oftmals keinen Ort zur Trauer hatten, weil Männer und Söhne im Krieg geblieben sind.
An dieser Stelle denke ich gern an das Konzert mit unserem polnisch-deutschen Chor Adoramus im Jahr 2018 in der Reformationskirche in Berlin Moabit zurück. Wir haben Brahms „Ein deutsches Requiem“ gesungen. Es war wunderschön!

Wie oft hat meine Großmutter aus demselben Brunnen Wasser geschöpft, aus dem ich heute das Wasser schöpfe. Und wir pflegen immer noch dasselbe Grab, in dem sie und nunmehr auch meine Söhne Philipp und Julius gegenüber diesem Brunnen begraben liegen. Die innere Einkehr, die Erinnerung an vergangene Zeiten, manchmal an frohe Begebenheiten, manchmal an heitere Momente, oft aber auch an Schicksalsschläge und Betrübliches, das macht für mich einen solchen Besuch aus. Ganz besonders in dieser Jahreszeit, die als nebelig und düster gilt, in der die Melancholie so manche Seele trübt. Melancholie brauchen wir, las ich neulich. Wir brauchen sie für unser inneres Gleichgewicht. Wenn ich es recht bedenke, dann mag ich sogar die tieferen Gedanken, die ich ihr zu verdanken habe. Irgendwann verfliegt diese Melancholie, sie wird nicht verdrängt, sondern geht auf in Erlebtem und Erinnertem mit Trauer, Freude und Dankbarkeit gleichermaßen und macht Mut zu neuem Aufbruch. Sich seiner Sterblichkeit bewusst zu werden, und das gelingt besonders gut auf einem Friedhof, bringt Mut und Entscheidungsfreude. Entweder Dinge zu ändern oder mit Bedacht zu entscheiden, alles so anzunehmen wie es ist. Denn meistens ist das Treffen einer Entscheidung der eigentliche Friedensstifter für die Seele.
„Im Herzen jedes Menschen existieren verborgene Quellen des Muts; doch muss der Mut erst in uns erweckt werden.
Die Begegnung mit dem Schönen kann ein solches Erwachen bewirken. Mut ist der Funke, der zur Flamme der Hoffnung werden und in scheinbar toten, dunklen Landschaften aufregende, neue Pfade beleuchten kann.“ John O’Donohue (1956-2008)
