Wohin treibt Frankreich?

Über die Selbstzerstörung der gallikanischen Zivilisation

Rolf Henrich

Als Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ (2015) erschien, wurde der Autor unter dem Eindruck des dschihadistischen Anschlags auf Charlie Hebdo gleichsam über Nacht zu einem Gesellschaftsdenker promoviert, der furchtlos die Eroberung Frankreichs durch die Muslime beschreibt. Aber Houellebecq war nicht der erste Beobachter, der den Vorgang der Landnahme durch Masseneinwanderung in Kombination mit dem Abstieg Europas und speziell Frankreichs beleuchtet hat. Lange vor ihm hat der rumänische Kulturphilosoph E. M. Cioran (1911–1995) in Aufsätzen das Geschehen ausgelegt. Es war der Blick des Fremden, der durchschaute, dass die das Selbstverständnis der Grande Nation auch nach der militärischen Niederlage im letzten Weltkrieg prägende Parole Guizots – „Frankreich marschiert an der Spitze der Zivilisation“ – mit der Wirklichkeit kaum mehr etwas zu tun hatte. Die Idee der mission civilisatrice, die noch die Aktivitäten der letzten französischen Kolonialherren beflügelte, mit ihrem Beharren auf dem Französischen als allgemeiner Verkehrssprache und der Einbeziehung von ‚Eingeborenen‘ in das Kulturleben der Pariser Metropole, hatte ausgedient.

Cioran, in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren, kam nach einem Studium an der Universität in Bukarest und Forschungsaufenthalten in Deutschland 1937 nach Paris. Hier reiht er sich als Verkünder des Niedergangs Frankreichs und der Erschöpfung der westlichen Zivilisation in die Korona der französischen Intellektuellen ein. „Seit ich in diesem Land bin,“ notiert er schon nach kurzer Zeit, „kann ich nichts anderes konstatieren, als einen Mangel an Zukunft.“

Cioran verspottet in seinen Texten die sich in rascher Folge ablösenden Meisterdenker Frankreichs mit ihren verstiegenen Gesellschaftsentwürfen. Zwischen Zynismus und Elegie schwankend, konzentriert er sein Augenmerk ganz auf einen Punkt: „Die wesentliche Frage ist nicht die einer ideologischen Ordnung, sondern eine des Stadiums, des historischen Moments. Wo steht hier diese Nation? Das muss man fragen. Wenn sie in vollem Abstieg begriffen ist, wird sie weiter absteigen. Aber wenn ihre Konvulsionen Ausdruck ihrer Vitalität sind, werden sie beim Ersteigen des Hanges helfen. Aber eine reife Nation oder Gesellschaft wird niemals fähig sein, sich wieder zu kräftigen, eben diesen Hang wieder aufzusteigen. Sie wird sich im Hinuntergleiten nur mehr sträuben können…(das gilt für Westeuropa.)“

Das ist 1971 geschrieben. In Frankreich leben damals 3,5 Millionen Migranten, davon allein eine Million in Paris und seiner nahen Umgebung. Unter ihnen bilden 670000 Algerier die größte Gruppe. An den Häuserwänden steht der Spruch: „Dehors, les bicots“ (Raus mit den Kameltreibern).

Cioran versteht frühzeitig, dass die Quellen des Verfalls der Französischen Republik im Migrationsgeschehen zu suchen sind. In dem geschichtsphilosophischen Essay „Die zwei Wahrheiten“ entfaltet er den aus vielen Zufällen sich addierenden Abstieg des Landes. Als Erläuterung dieser Cioranschen Sicht mag ein Auszug aus der genannten Schrift genügen:

„Die Völkerwanderungen ereignen sich heute nicht mehr auf dem Wege kompakter Umsiedlungen, sondern durch ununterbrochene Infiltrationen: man schleicht sich allmählich bei den ‚Eingeborenen‘ ein, die zu blutarm und zu vornehm sind, um sich noch zu der Idee eines ‚Territoriums‘ herabzulassen. Nach tausend Jahren Wachsamkeit öffnet man die Tore…Wenn man an die langen Rivalitäten zwischen Franzosen und Engländern, dann zwischen Franzosen und Deutschen denkt, möchte man sagen, dass sie alle, indem sie sich gegenseitig schwächten, nur die Aufgabe erfüllten, die Stunde der gemeinsamen Pleite zu beschleunigen, damit andere Vertreter der Menschheit die Ablösung übernehmen. Ebenso wie die alte wird die neue Völkerwanderung eine ethnische Verwirrung hervorrufen, deren Phasen man nicht genau vorhersehen kann. Angesichts dieser so unterschiedlichen Visagen ist die Idee einer auch nur in noch so geringem Maße homogenen Gemeinschaft unvorstellbar. Gerade die Möglichkeit einer so verschiedenartigen Menge gibt zu verstehen, dass, angesichts des Raumes, den sie einnimmt, bei den Ureinwohnern nicht mehr das Verlangen existierte, auch nur den Schimmer einer Identität zu wahren…Sobald ein Volk die geschichtliche Idee, die zu verkörpern es beauftragt war, glücklich ausgeführt hat, hat es kein Motiv mehr, inmitten eines Chaos von Gesichtern seine Unterschiedlichkeit zu behaupten, seine Eigentümlichkeit zu pflegen, seine Züge zu bewahren. Nachdem sie die beiden Hemisphären bevormundet haben, sind die Westmächte auf dem besten Wege, zu deren Gespött zu werden: zarte Gespenster, Dekadente im wahrsten Sinne des Wortes, zur Conditio von Parias, von ohnmächtigen und kraftlosen Sklaven verurteilt, dem vielleicht die Russen, diese letzten Weißen entkommen werden.“

Über kulturelle Unverträglichkeiten

Heute leben in Europa 50 Millionen Muslime. Stellen wir die Frage: Woher stammen all die Gläubigen, die in Frankreich und anderswo (eine Ausnahme bilden die Visegrad-Staaten) das stetige Wachstum der muslimischen Gemeinden garantieren? Mehrheitlich kommen sie aus Ländern Afrikas und des Nahen Ostens. Hier, wo die Überbevölkerungsproduktion innerhalb der islamisch und tribal verfassten modernisierungsresistenten Lebensordnungen stattfindet, liegt die Ausgangsbasis der Völkerwanderung. Länder mit der größten Zahl von Kinderbräuten haben die höchste Geburtenrate (Niger 7,3 Kinder, im Tschad, in Somalia und Mali sechs). Klar ist, solange die herkömmliche orthodox-islamische Normativität in den Familienverhältnissen nicht überwunden wird, worauf nichts hindeutet, wird der „muslim youth bulge“ (der muslimische Jugendüberschuss) mit den bekannten negativen Folgen das Migrationsgeschehen dominieren. Weltweit hat sich die Zahl der Muslime von 470 Millionen 1950 auf heute 1,8 Milliarden erhöht. In Frankreich wird erwartet, dass ihr Anteil bis 2030 auf 10,3% der Bevölkerung (heute 7,5%) steigt.

Es fällt schwer, angesichts solcher Zahlen und der bekannten Alterspyramide in den Ländern Europas nicht in Fatalismus zu verfallen. Die arabische Invasion in Spanien (Karl Martell) und die türkisch-osmanische Okkupation mit der zweimaligen Belagerung von Wien, haben die europäischen Völker in blutigen Kämpfen zurückgeschlagen. Eingedenk einer so kraftvollen Selbstbehauptung, beschleicht einen heute leicht das Gefühl, nur eine Vergangenheit, aber keine Zukunft mehr zu haben.

Nach der rituellen Enthauptung des Lehrers Samuel Paty ist in Frankreich der Islam wieder einmal Tagesthema. Die schonungslosesten Artikel zu der sich zuspitzenden Situation stammen diesbezüglich aus der Feder algerischer Intellektueller. „Frankreich begreift noch immer nicht, was ihm widerfährt“, resümiert Boualem Sausal, der befürchtet, dass die „islamistische Guerilla“ bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen könnte. Das republikanische Frankreich ist heute, konstatiert Kamel Daoud, die „Inkarnation des Westens“ und damit das beliebteste Feindbild der „Internationale der Islamisten“. Beide Autoren weisen auf den bestehenden Fortsetzungszusammenhang zwischen den in rascher Folge stattfindenden Anschlägen hin.

Zweifellos bedroht der islamistische Terror den ohnehin fragilen Zusammenhalt der Französischen Republik. Weit weniger spektakulär, dafür aber um so wirksamer ist jedoch der in ziviler Form verlaufende Dschihad: die Erziehung von Glaubenskämpfern in islamischen Bildungseinrichtungen, Vereinen, Wohltätigkeitsorganisationen und Moscheen. Schon Hassan al-Banna (1906-1949), der die Muslimbruderschaft gründete und sie zur mächtigsten Organisation seit der Blütezeit der wahhabitischen Erneuerung ausbaute, sah die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu einem orthodoxen Islam als eines seiner Hauptanliegen an.

Al-Banna, der zum Murshid al-ámm (erhabener Führer) wurde, hat ein in fünf Maximen gegliedertes Credo hinterlassen, welches das strategische Denken der Bruderschaft bis heute bestimmt: Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.

In Yusuf al-Qaradawi hat Al-Banna einen würdigen Nachfolger gefunden. Dieser erwartet, „dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen – mittels da´wa (Einladung, Werbung) und durch die Ideologie.“ Qaradawi zählt zu den größten Erfolgen seiner Bruderschaft, „für die islamkonforme Erziehung ganzer Generationen gesorgt zu haben.“ Eine Erziehung, die auf eine exklusive Gruppenidentität durch die strikte Unterscheidung zwischen Muslimen und den kulturell fremd bleibenden „Ungläubigen“ (Kuffar) ausgerichtet ist. Auf Qaradawi geht auch die Gründung des Fatwa-Rats für Europa und die Einrichtung etlicher der Muslimbruderschaft nahestehender Hochschulen und anderer Kaderschmieden zur Ausbildung islamischer Prediger und Religionslehrer in Europa zurück.

Ihre hohe Wertschätzung der Bildungsarbeit hindert die Profiliga der Frommen natürlich nicht daran, bei anstehenden Wahlen eine ausgebuffte Klientelpolitik zu betreiben. Von vielen Bürgermeistern der Linken wie der Rechten hofiert, die sich die Stimmen der Muslime sichern wollen, kommt es auf der kommunalen Ebene dabei zu verhängnisvollen Bündnissen. Unübersehbar ist auch die bestehende politische Arbeitsteilung mit der französischen Linken. Wie Pascal Bruckner unlängst in der FAZ erläuterte, hat die Linke den Klassenkampf aufgegeben und ihn durch den Kampf der Identitäten ersetzt. Dabei ist der Islam als die Religion der Unterdrückten, der neue Verbündete im Kampf gegen den Kapitalismus.

Der französische Innenminister hat nach dem Pariser Attentat die Muslimbruderschaft ausdrücklich als den ideologischen Gegner der Republik bezeichnet. Ob damit die bisherige Innenpolitik des Wegschauens ein Ende findet, bleibt abzuwarten. Eine ministeriale „Feinderklärung“ allein wird aber das Überleben der Fünften Republik nicht sichern. Ob Frankreich als säkulares Land überleben wird oder nicht, dürfte entscheidend davon abhängen, welche Entschlossenheit es aufbringt, die tief verankerten islamistischen Netzwerke konsequent zu destruieren. Eine sich nur auf kosmetische Maßnahmen beschränkende Politik würde jedenfalls in der Stunde der Not, sobald erst einmal „die Wasserströme über jeder Schwelle laufen“, nichts anderes zu sagen wissen als Goethes Zauberlehrlings-Wort: Die ich rief die Geister / Werd ich nun nicht los.

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