Zu den Aussichten des politischen Islam in Deutschland

Rolf Henrich

Gefährdet der Scharia-Islam den Rechtsstaat?

Nach der jahrzehntelangen Missachtung der Rechtsstaatlichkeit durch das DDR-Regime gehörte die Wiederherstellung des Rechtsstaats 1990 zu den wichtigsten Errungenschaften der friedlichen Revolution. Dass nach der wiedergewonnenen Einheit der Scharia-Islam einmal den freiheitlichen, säkularisierten Verfassungsstaat in Deutschland gefährden könnte, war undenkbar.

Kein Wunder also, wenn Politiker und Journalisten unterschiedlichster Couleur die Existenz des Rechtsstaats für die selbstverständlichste Sache der Welt halten, deren Unverlierbarkeit unhinterfragt vorausgesetzt wird.

Das von Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019; von 1983-1996 Richter des Bundesverfassungsgerichts) warnend hervorgehobene Dilemma, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht garantieren kann, ist in letzter Zeit zwar als Phrase in vieler Munde – ernstzunehmende Schlüsse oder grundsätzliche Fragen wurden daraus jedoch nie abgeleitet. Unbeachtet bleibt vor allem jener mit Böckenfördes Dictum verknüpfte Hinweis, dass der Rechtsstaat jederzeit ein um der Freiheit willen eingegangenes „großes Wagnis“ ist.

Als Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 verkündete, inzwischen gehöre „der Islam“ zu Deutschland, vermied er tunlichst, darüber Auskunft zu geben, welche Konsequenzen ein solcher Befund impliziert. Ob beispielsweise die mit jedem Islam unlösbar verbundene Scharia „als vollkommene Ordnung, die Frieden und Gerechtigkeit schafft“, damit nun ebenfalls zu Deutschland gehört, blieb offen. Auch zehn Jahre später fand der Altbundespräsident seinen Satz zum Islam „notwendiger denn je“, und er verlangte obendrein, „dass Rücksicht auf religiöse Belange von Muslimen genommen werden sollte.“ Es ist kaum anzunehmen, dass Christian Wulff auch nur oberflächlich den menschenrechtsfeindlichen Gehalt der Scharia zur Kenntnis genommen hat. Sonst wüsste er, dass nach der Scharia Kapitalverbrechen (sog. hadd-Vergehen) wie homosexuelle Handlungen oder der Abfall vom Islam, um nur diese beiden Tatbestände zu nennen, mit der Todesstrafe bedroht sind. Aber nicht allein der Strafkatalog mit seinen Leibesstrafen, ist für jedes moderne Rechtsdenken eine Zumutung. Auch das diskriminierende Familienrecht der Scharia (Erbrecht, Zeugnisrecht) geht in weiten Teilen nicht konform mit dem Grundgesetz. Dass die berüchtigte Sure 4, 34 des Korans in islamischen Haushalten, belehrt von modernen Vorstellungen der Gleichberechtigung, durch Nichtanwendung außer Kraft gesetzt ist, kann man nur hoffen („Und wenn ihr annehmt, dass eure Frauen einen Vertrauensbruch begehen, besprecht euch mit ihnen und zieht euch aus dem Intimbereich zurück und schlagt sie“ – Übersetzung nach Mouhanad Khorchide).

Der Weg über die Wahlurnen

Im Hinblick auf die Integration der Muslime betreibt Deutschland bis heute eine beispiellose Vogel-Strauß-Politik! Ohne Rücksicht auf Verluste baut man hierzulande darauf, der zuwanderungsbedingt und aufgrund höherer Geburtenraten von Jahr zu Jahr stärker vertretene Islam werde sich, so wie einst die christlichen Kirchen, mit der positiven Religionsfreiheit und dem Rechtsstaat theologisch und politisch versöhnen. Aber welcher Kurswechsel müsste notwendig vollzogen werden, wenn sich nicht mehr übersehen ließe, dass derlei Wunschträume meilenweit an der Realität vorbeigehen? Wenn sich also zeigt, dass der in Deutschland vorherrschende Islam aus essentiellen, theologischen Gründen weder willens noch fähig ist, die Scharia als der Vergangenheit angehörend zu betrachten und den säkularen Verfassungsstaat in seinem Freiheitsgehalt zu akzeptieren.

Aus naheliegenden Gründen versuchen die Vertreter des legalistischen Islam, den schwelenden Konflikt klein zu halten und den Regierenden mit entsprechenden Verlautbarungen entgegenzukommen. So hat 2002 der hiesige Zentralrat der Muslime etwa eine „Islamische Charta“ verabschiedet, um das Verhalten seiner Klientel theologisch als verträglich mit der deutschen Rechtsordnung auszuweisen. In Artikel 10 heißt es dort: „Das Islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.“ Das ist eine ernüchternde, dafür aber realistische Sicht darauf, dass das einigende Band der politischen Zusammenhänge in der Bunten Republik Deutschland heutzutage einem seidenen Faden gleicht, der jederzeit reißen kann. Ein muslimischer Staatsbürger in Deutschland zu sein, würde doch wohl bedeuten, den säkularen Staat in seiner Weltlichkeit nicht als etwas dem eigenen Glauben Fremdes anzusehen, sondern ihn als Möglichkeit und Raum der Freiheit zu verstehen. Stattdessen erklärt die Islamische Charta das Staatsbürgerrecht der eingebürgerten Muslime – solange sie in der Minderheitenposition sind – zu einer Vertragsbeziehung mit einem fremden Gemeinwesen.

In der aktuell entstehenden deutschen Multiminoritätengesellschaft, in der die Kategorie „das Volk“ nur noch einen Plural von Minderheiten beschreibt, ist bereits heute vorhersehbar, dass den islamischen Verbänden und Gemeinden über die demokratische Mehrheitsbildung weitreichende Möglichkeiten zuwachsen werden, sich dauerhaft resistent gegenüber allen offiziellen Integrationsanstrengungen zu verhalten. Nicht den Djihad propagierende Salafisten sind deshalb die entscheidende Herausforderung für den Rechtsstaat. Die kann man mit polizeilichen Mitteln bekämpfen. Gefährlicher ist ein die Spielregeln der Demokratie nutzender Islamismus, der „den Weg über Urnen gewählt“ hat. Michel Houellebecq hat in seinem Roman „Unterwerfung“ am Beispiel der Figur des Ben Abbes gezeigt, welche Politik ein erfolgsorientierter Stratege mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einschlagen wird. Ein solcher Ben Abbes, der für die von ihrem dogmatischen Antirassismus gelähmte Linke unangreifbar wäre, würde natürlich mit Bezug auf die Stärkung der Familie und die Wiederherstellung der Moral, den ruhe- und friedensstiftendensstiftenden Charakter der Scharia betonen. Er wäre exakt der Typus, den der altgediente Verfassungsschützer Marie-Francoise, der zehn Jahre seines Berufslebens mit der Observation des Ben Abbes verbracht hat, in Houellebecqs Buch beschreibt: „Er ist ein gemäßigter Moslem, das ist der zentrale Punkt: Er beteuert es fortwährend, und es stimmt. Es wäre ein großer Fehler, sich ihn als Taliban oder Terroristen vorzustellen, für diese Leute hat er immer nur Verachtung empfunden…im Grunde genommen hält er die Terroristen für Dilettanten. Ben Abbes ist in Wahrheit ein ausgesprochen geschickter Politiker, zweifellos der geschickteste und durchtriebenste, den wir seit Francois Mitterand in Frankreich hatten. Und im Gegensatz zu Mitterand hat er eine echte historische Vision.“

Es ist hier nicht der Ort, Houellebecqs Gesellschafts- und Staatsentwurf, der ja ein an der Innenpolitik Frankreichs abgelesenes Lehrstück ist, in allen Details auf den staatsrechtlichen Prüfstand zu stellen. Es sollte lediglich darauf hingewiesen werden, dass in einer historischen Phase, in der zahlreiche europäische Demokratien in immer mehr und zunehmend disparatere Parteien und Bewegungen zersplittern, so dass Mehrheitsbildungen zunehmend schwieriger werden, auch in Deutschland alsbald die Gelegenheit kommen könnte, wo die muslimische Wählerschaft an den Urnen, angeführt von einem deutschen Ben Abbes, einen Prozess in Gang setzt, um die auf Offenheit ausgerichtete freiheitliche Ordnung „von innen her aufzurollen“.

Ob das nun im Anfangsstadium über eine neue Partei oder eine das Abstimmungsverhalten der Muslime bündelnde Bewegung geschieht, wird sich zeigen. Jedenfalls hätte bereits der gezielte Einsatz der Stimmenabgabe zugunsten des Machterwerbs einer bestehenden Partei seinen Preis (wohl zunächst im Bereich der Schul- und Kulturpolitik, der Migrationspolitik und bei der Vergabe von Fördergeldern).

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in zwei Vorträgen (2007, 2009) die dargelegte, den Rechtsstaat herausfordernde Situation erörtert. Für ihn bestand kein Zweifel, dass der Staat den politischen Islam durch „entsprechende Gestaltungen im Bereich der Freizügigkeit, Migration und Einbürgerung“ in einer „Minderheitenposition“ halten müsse. Ein derartiges Vorgehen sei nicht mehr als „Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist.“

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