Erinnerungen an ein zur Zeit heimatlos gewordenes Lebensmodell.
Von Christoph Ehricht
Bettinas wunderbares Nachdenken über die Erinnerung vom 12. August in diesem Blog hat mich zu einer doppelten Erinnerung angeregt, zur Erinnerung an einen vor siebzig Jahren gestorbenen Zeitgenossen und damit zugleich an ein Lebensmodell, eine Gedankenwelt, die unwiederbringlich verloren zu sein scheint und an die wir uns nur noch erinnern können. Wehmütig, aber vielleicht doch auch mit einer ganz kleinen Hoffnung.
Ich beginne mit der Erinnerung an Georg Quabbe. Im Feuilleton – Teil einer Zeitung bin ich auf ihn aufmerksam geworden. Aus Anlass seines 70. Todestages am 17. Juli war dort eine Würdigung des Breslauer Anwalts, Buchautors und späteren hessischen Generalstaatsanwalts zu lesen. Ich habe mich, da er mir interessant zu sein schien und ich den Namen noch nie gehört hatte, bei Wikipedia ein wenig mehr über ihn informiert, nachdem mein Ärger über „Geb. 20. März 1887 Wroclaw (Polen)“ auf Googles Suchmaschine etwas verraucht war. (Mein gerade 80 Jahre alt gewordener Freund ist dort auch als 1940 in Kaliningrad (Russ. Föd.) Geborener ausgewiesen und befindet sich hier in guter Gesellschaft mit Immanuel Kant. Man kann darüber natürlich lachen und spotten, aber eigentlich ist es zu ernst dafür – ein Zeichen für die Vergewaltigung der Geschichte durch gegenwärtige Zustände oder Erkenntnisse, das nicht nur hier sehr beunruhigend und gefährlich ist, mindestens ebenso schlimm wie die notorische Geschichtsvergessenheit vieler der politischen Akteure des Westens.)
Aber zurück zu Georg Quabbe. Politisch war er in der Weimarer Republik zunächst in der Deutschnationalen Volkspartei aktiv, hat sich von dieser Partei aber getrennt, als sie unter Alfred Hugenbergs Einfluss zunehmend nur noch reaktionär wurde. Quabbe trat dann der kleinen Konservativen Partei bei und hat nach deren Auflösung das Dritte Reich ohne allzu große Nähe zu den Machthabern überstanden. Darum konnte er nach dem 2. Weltkrieg Generalstaatsanwalt des neuen Bundeslandes Hessen werden.
Zum Nachdenken hat mich Quabbes Versuch gebracht, eine Antwort auf die Frage zu finden, was eigentlich „konservativ“ heißt. In seinem seinerzeit bekanntesten Buch „Tar a Ri“ – altirisch für „Komm o König“ und angeblich etymologischer Ursprung des englischen „Tory“ – denkt er über Konservativismus und Fortschrittsgläubigkeit nach. Beide Bewegungen bestimmen für ihn den Gang der Menschheitsgeschichte und wirken, wenn es gut geht, zusammen, zähmen einander und verhindern Erstarrung auf der einen und Radikalisierung auf der anderen Seite, die „blinde Vernichtung des historisch Gewachsenen“. (s.o.!)
Der Konservative versteht die Geschichte eher als Kreislauf, der Fortschrittliche als lineare Bewegung zum Besseren. Der eine wünscht sich den Staat als Ordnungs-, der andere als Erziehungsmacht. Er, der konservative Quabbe, will dem Leben in all seiner Unzulänglichkeit und Vorläufigkeit dienen, seine fortschrittlichen Partner folgen eher abstrakten Wahrheiten. Er weiß, dass es ohne Autorität nicht geht und dass die Freiheit der Erwachsenen Verantwortung heißt, seine Gesprächspartner stellen eher bindungslose Freiheit in den Vordergrund. Er hält am historisch gewachsenen Recht fest, die anderen tendieren zum zweckmäßigen Recht, um ihre fortschrittlichen Ziele und vermeintliche Gerechtigkeit zu erreichen.
Vielleicht ist das etwas plakativ, noch dazu in dieser Zusammenfassung. Gleichwohl inspirieren mich Quabbes Überlegungen. Ich ertappe mich gelegentlich dabei, vor allem in Diskussionen mit einer mir sehr nahe stehenden „ progressiven“ jungen Frau, dass ich ihren vielen klugen und sicher richtigen und berechtigten Argumenten für eine gendergerechte Sprache, für Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, für die Abkehr von einer wachstumorientierten hin zu einer nachhaltigen und klimafreundlichen Wirtschaft, für autofreie Innenstädte und – kürzlich zu meinem Erstaunen – für die Legalisierung einer Ehe zu Dritt als logische Konsequenz der „Ehe für alle“ nicht viel entgegenzusetzen habe. „Vielleicht hast du ja Recht, aber überzeugen kannst du mich nicht, es springt einfach kein Funke über. Wahrscheinlich, weil ich eigentlich eher ein konservativer Mensch bin.“ – so reagiere ich etwas hilflos und defensiv. Signalisieren will ich mit diesem Satz wohl ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber einfachen Antworten auf sehr komplexe Fragen und gegenüber der Illusion, dass gute Diagnosen immer auch zu guten Therapien führen. Und meine Überzeugung, dass es rote Linien gibt, die nicht ungestraft überschritten werden dürfen – weitere Charakteristika des Konservativismus?
Natürlich steht mir die Schwäche des Konservativismus deutlich vor Augen, natürlich sind mir erst recht die Schreihälse zuwider, die sich jetzt als Hüter und Bewahrer der traditionellen Werte aufspielen. Aber, ganz ehrlich, ebenso unwohl fühle ich mich, wenn ich Bilder von Hamburger „Studierenden“ (!) sehe, die gerade nicht studieren, sondern durch Randale einen Professor daran hindern, seine Vorlesung zu halten. Oder wenn ich in einem Buch über Puschkin die Vorbemerkung lesen muss „In diesem Buch werden Ausdrücke verwendet, die nicht mit der Auffassung des Verlages übereinstimmen“. Wohin sind wir gekommen… (Es geht n.b. bei den inkriminierten Ausdrücken um zeitgenössische Bezeichnungen für den legendären afrikanischen Vorfahren des Dichters! Selbstzensur des Verlages, vorauseilender Gehorsam? Dann doch lieber eine ordentliche behördliche Zensur, damit sich die süffisante Bemerkung von Karl Kraus wieder bewähren und guter Literatur dienen kann: Ein Text, den der Zensor versteht, wird zu Recht verboten.)
Aber in allem Ernst: Der Konservativismus hat seinen Ort in unserer Gesellschaft verloren. Womöglich verdientermaßen und nicht ohne eigene Schuld. Vom Erosionsprozess ehedem konservativer Parteien will ich hier gar nicht reden. Er ist nur eine Folge tiefer liegender Ursachen. Das eine konservative Lebenshaltung tragende Milieu schwindet. Die Säkularisierung der Moderne führte erst zur Privatisierung der Religion und dann zum Verlust von zeitlos gültigen Orientierungspunkten. Aus vorgegebenen Institutionen wurden verfügbare Organisationen. Die Digitalisierung wird einen weiteren Individualisierungsschub mit sich bringen und eine noch viel tiefer greifende Aufspaltung der Gesellschaft. Solange die gesellschaftlichen Verhältnisse einigermaßen stabil sind, kann man darüber traurig sein, aber damit leben. Anders wird es, wenn zum Beispiel nach der Corona-Krise eine Wirtschafts- und Finanzkrise ungeahnten Ausmaßes ausbricht. Dann werden wir eine ausgleichende und die Radikalisierungen zähmende Kraft vermissen.
( Beim Schreiben dieser Sätze merke ich, wie sehr ich auch hier ein „Konservativer“ bin und zu dem sich am Kreislaufmodell ausgerichteten Geschichtsverständnis der Konservativen neige. Zu sehr erinnern mich die oben angesprochenen Bilder der Hamburger Studenten an die Vorgänge am Ende der Weimarer Republik, als der pazifistische und religiös-sozialistische Professor Günther Dehn an der Hallenser Universität tagelang von völkisch-nationalen Studenten niedergebrüllt wurde und die konservative (!) Universitätsleitung erst lavierte und dann kapitulierte. Es gibt leider noch viel mehr alarmierende Beispiele.)
Giovanni di Lampedusas gelegentlich zitierter und hier sinngemäß in Erinnerung zu rufender Satz „Wer das Bestehende retten will, muss an seiner Veränderung arbeiten“ – unaufgeregt und behutsam arbeiten, wie ich ergänzen möchte, er könnte vielleicht zur Richtschnur eines neuen Konservativismus werden. Einer, der darum weiß, dass die Rettung des Bestehenden nur die eine Kugelhälfte ist und die andere Hälfte, das Arbeiten an der Veränderung dringend braucht, damit alles rund und vollkommen wird – um das schöne Bild aus Platons Gastmahl aufzunehmen, an das Bettina uns erinnert hat. Ich denke, das wäre durchaus auch im Sinn meines Kronzeugen Georg Quabbe.
Handlungsfelder für die beiden Kugelhälften gibt es zur Genüge. Um nur eines zu nennen, das mir besonders am Herzen liegt: die Anregung eines Verständigungsprozesses darüber, was eigentlich heute Bildung und besonders Allgemeinbildung heißt, ohne die peinliche Diskussion um G 12 oder G 13, statt dessen geleitet von dem Bemühen, das wertvolle Erbe unserer Kultur zu bewahren, Kreativität und Empathie zu fördern und den Bildungskanon von allem zu entrümpeln, was Maschinen ohnehin besser können. Und um die Geschichte nicht länger zu vergewaltigen, sondern endlich und wirklich aus ihr zu lernen. Ein zeitgemäßer Konservativismus könnte hier seine neue Heimat finden und dann auch ausstrahlen auf andere Lebensbereiche.
Goethe hat eine solche Heimat in seinem leider kaum noch gelesenen Entwicklungsroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ als Pädagogische Provinz beschrieben, vielleicht inspiriert von der Erziehungsanstalt, die Philipp Emanuel von Fellenberg im Schweizerischen Hofwil gegründet hatte. Im Epochenumbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert sollte hier eine Persönlichkeitsbildung verwirklicht werden, die den noch unbekannten oder nur erahnten neuen Herausforderungen der Zukunft gerecht werden konnte. Manche der dort praktizierten Methoden und auch das leitende Erziehungsideal – Ehrfurcht und Respekt – mögen uns heute sehr rückwärtsgewandt und altväterlich erscheinen, eben konservativ. Aber haben sie darum ihre Berechtigung verloren?
Meine Hoffnung, dass der Aufbau einer neuen „Pädagogische Provinz“ in unserem gegenwärtigen Epochenumbruch gelingt, hält sich jedoch eher in Grenzen, wie es sich für einen guten Konservativen gehört.
