Mehr als ein Wort

Suchen nach Worten im Unendlichen dessen, 
was uns zu sagen nicht gelingt;
und gerade so das Schönste im Menschsein
belebend im Anderen zu klingen beginnt.
Jedes Wort ist Beschränkung und verbürgt sich für mehr, 
neigst du dein Ohr mir nur zu.
Es ist wie ein Flüstern aus meiner Seele
und einzig berufen bist du.
Sind uns're Gedanken einigen Geistes, 
sag', fühlst du genauso wie ich?
Wo Liebe ist, sprich das Wort doch aus ...
-
Ich sprech' es für dich und für mich.

Bettina Zarneckow

Mitteleuropa

„Der lange Weg nach Westen“ – unter diesem Titel hat Heinrich August Winkler vor einem Vierteljahrhundert eine zweibändige Geschichte Deutschlands veröffentlicht. Er erzählt anschaulich das Auf und Ab der Herausbildung des deutschen Nationalstaats. Er beschreibt die Alternativen zwischen einer klein- oder einer großdeutschen Lösung, die Zerrissenheit Deutschlands im Spannungsfeld von Großmächten in der nördlichen, östlichen und westlichen Nachbarschaft, Schweden, Russland und Frankreich, die konfessionelle Spaltung, ökonomische und bündnis- und parteipolitische Turbulenzen, Nibelungentreue und Großmachtphantasien. Am Ende, so suggeriert der Titel, kommt die deutsche Geschichte zum Ziel. Das Land ist nun eingebunden in den Westen.

Zweifellos kann man die deutsche Geschichte in dieser Meistererzählung schildern. Und ebenso kann man sich über dieses Ziel eines von Verirrungen, Abgründen und Opfern belasteten historischen Weges durchaus freuen. Einerseits. Eine innere Unruhe bleibt. Geschichte verläuft nicht zielgerichtet. Sie folgt auch nicht irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten, höchstens dem Gesetz der Wiederholung. Leider. Wichtiger ist mir aber die Frage, ob Deutschland mit all seinen Prägungen und Erfahrungen den Platz für seine Verantwortung am Ende dieses langen Weges nach Westen dort wirklich gefunden hat.

Beim Nachdenken darüber geht mir ein Buch mit dem Titel „Mitteleuropa“ nicht aus dem Sinn. Ein erstes Mal bin ich darauf aufmerksam gemacht worden von Walter Romberg, später der letzte Finanzminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maiziere. Ich habe mit ihm mehrere Jahre in einer Arbeitsgruppe des Kirchenbundes zusammengearbeitet. In der Umbruchszeit vor und nach 1989 regte er an, über das Programm „Mitteleuropa“ neu nachzudenken, in ganz loser Anbindung an Friedrich Naumanns Buch aus dem Jahr 1915. Die Überlegungen haben sich im Strudel der Ereignisse verlaufen, ich habe den Kontakt zu Romberg schon lange vor seinem Tod verloren. Ich glaube nicht, dass er an der konkreten Füllung des Konzeptes „Mitteleuropa“ im Buch von Naumann besonders interessiert war oder ihr gar zugestimmt hat. Aber die Frage hat ihn umgetrieben: Ist Deutschlands Platz im Westen oder nicht doch besser in Mitteleuropa, wenn es dem gerecht werden will, was von ihm erwartet werden kann?

Über Friedrich Naumann und sein Buch kann man sich sehr gut informieren in einer spannenden Darstellung von Leben und Werk des Politikers und Publizisten aus der Feder von Theodor Heuss. Sie ist 1937 erschienen und, wie der Verfasser schreibt, Erfüllung einer inneren Verpflichtung dem 1919 verstorbenen Freund gegenüber. Nebenbei: das Buch von Heuss ist beeindruckend – sachlich, differenziert, frei von jedem Pathos oder geklitterter Geschichtsdarstellung, wie man sie eigentlich erwarten musste im Erscheinungsjahr. Nach dem Krieg veröffentlichte Heuss eine zweite, nahezu unveränderte Auflage.

Naumann, 1860 als sächsischer Pfarrerssohn geboren, studierte Theologie in Erlangen und Leipzig und fand seinen beruflichen Weg zunächst als Pfarrer im Umkreis der kirchlichen Sozialarbeit, inspiriert von Johann Hinrich Wichern, später vor allem von Adolf Stöcker und dem Evangelisch-Sozialen Kongress. Schrittweise löste er sich vom Pfarramt und wurde zum politischen Publizisten, bald selbst auch zum einflussreichen Sozialpolitiker. Er war Gründer und langjähriger Schriftleiter der „Hilfe“, die später von Theodor Heuss herausgegeben wurde und zu einem Organ des Linksliberalismus der Kaiserzeit wurde. Von Stoecker trennte er sich, nicht zuletzt wegen seiner Ablehnung des Stöckerschen Antisemitismus. Heuss zitiert aus einer Rede Naumanns aus dem Jahr 1903: „Ich habe den antisemitischen Gedanken nicht behalten und mit Bewusstsein nicht behalten, weil ein großes Volk imstande sein muss, auch Elemente fremder Stämme, seien es Juden oder Polen, zu assimilieren und in seine Geschichte hineinzuzwingen.“ So zu lesen wohlgemerkt in einem deutschen Buch aus dem Jahr 1937! Ab 1907 war Naumann mit Unterbrechungen Reichstagsabgeordneter, 1919 Mitglied der Nationalversammlung mit dem Mandat der von ihm mitgegründeten Deutschen Demokratischen Partei. Bereits im August 1919 ist er in Travemünde gestorben.

Ein reichliches Jahr nach Ausbruch des Weltkrieges hat Naumann sein Buch „Mitteleuropa“ veröffentlicht. Es war nach „Kaisertum und Demokratie“ sein zweites bedeutendes und viel gelesenes Buch. Dort, in seinem ersten Buch, hatte er die Möglichkeiten einer demokratischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung bedacht, wenn sie auf dem Fundament einer stabilen und stabilisierenden Macht ruht, die nicht von Mehrheitsentscheidungen in´s Wanken gebracht werden kann und die für den Ausgleich und die Zähmung auseinanderstrebender Partikularinteressen oder lautstarker Minderheiten zu sorgen in der Lage ist. Für heutige Leser vielleicht fremd, oder doch nachdenkenswert? In einer Gedenkveranstaltung zum Jubiläums des Grundgesetzes sagte neulich ein Redner: Seit seiner Verabschiedung hat das Grundgesetz 237 Änderungen und Ergänzungen erlebt. Es ist nach jeder einzelnen von ihnen eher schlechter geworden.

Aber zurück zu Naumanns Buch. „Mitteleuropa“ erschien noch in der Zeit, als im Reich alle Debatten über Kriegsziele untersagt waren, damit keinem Zweifel am Charakter des Krieges als einem den Deutschen aufgezwungener Verteidigungskrieg gewollt oder ungewollt Vorschub geleistet werden konnte. Dennoch rührten sich bereits Stimmen, die von einem Siegfrieden und von Annexionen im Osten und im Westen und in Übersee sprachen.

Naumann war zwar überzeugt von der militärischen Stärke Deutschlands und der Mittelmächte. Gleichwohl hielt er nichts von den Gedankenspielen der Alldeutschen. Winkler charakterisiert Naumanns Buch sicher nicht ganz unzutreffend als „Bibel des moderaten deutschen Weltkriegsimperialismus.“

Naumann rechnete 1915 mit einem unentschiedenen Ausgang der kriegerischen Handlungen. Aber wie kann eine Nachkriegsordnung aussehen? Eine Aussöhnung mit Frankreich hat er lange für möglich gehalten. Jetzt glaubte er nicht mehr daran, zu intensiv sind dessen Bindungen an England und Russland. Darum setzte er seine Hoffnungen auf einen starken Pfeiler in der Mitte Europas, der in einer Jahrhunderte langen gemeinsamen Geschichte gewachsen ist – errichtet auf dem Erbe des Kampfes zwischen Rom und Byzanz, gereift in konfessionellen Kriegen, gestählt in der Abwehr der Türken, geprägt durch eine reiche Kultur und eine starke Wirtschaft in Industrie und Landwirtschaft. Damit sind die Stichworte genannt, denen Naumann in seiner Erzählung folgt, ein zeitgeschichtlich interessanter, aber oft durchaus auch heute lesenswerter anregender Text!

In weiten historischen Bögen, mitunter in ganz eigenwilligem prophetischem Pathos entfaltete Naumann seine Vision von einem starken Mitteleuropa, gruppiert um die Machtzentren Berlin, Wien und Budapest:

„Wir ahnen in Nord und Süd, dass wir noch weiteren schweren Dingen in der Zukunft entgegengehen, dass die Welt für uns voll dunkler, unheimlicher Gefahren bleibt; wie schützen wir uns da gegenseitig, dass nicht eines Tages aus irgendeinem menschlichen Grunde die Gemeinsamkeit nicht da ist? Der Schutz liegt sicherlich nicht in bloßen Staatsverträgen. Es lässt sich zwischen souveränen Staaten kein Vertrag formulieren, der nicht seine Ritzen und Lücken hätte. Der Schutz liegt in der Vielseitigkeit des staatlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, im freiwilligen und organisierten Überfließen des einen Körpers in den anderen, in der Gemeinschaft der Ideen, der Historie, der Kultur, der Arbeit, der Rechtsbegriffe, der tausend großen und kleinen Dinge. Nur wenn wir diesen Zustand der Wesensgemeinschaft erlangen, sind wir ganz fest verkettet. Aber schon der Wille, ihn zu erreichen, ist unendlich viel wert. Im Sinne dieses Willens verkünden wir Mitteleuropa als Ziel der Entwicklung.“

Ich will eine längere Passage aus Naumanns Buch wiedergeben, um sein Denken in dieser Zeit (1915!) zu vermitteln:

„Wir wollen versuchen, das neue überstaatliche Gebilde der Menschheitsgruppe Mitteleuropa etwas genauer soziologisch zu begreifen. Wir betrachten also die drei relativ fertigsten Großkörper: Großbritannien, Amerika, Russland. Jeder dieser Körper ist an Umfang und Masse gewaltiger, als es Mitteleuropa je werden kann. Im besten Falle kann, soweit heute Menschenaugen sehen, Mitteleuropa der vierte Weltstaat werden. Von den drei ersten, schon aus der vorhergehenden Periode hervorgebrachten Weltstaaten ist der russische am meisten auf Zwang, der amerikanische am meisten auf Freiwilligkeit gegründet; England steht in der Mitte. Darüber, ob Zwangsbildung oder Freiwilligkeitsbildung dauernder und fester ist, lässt sich kein allgemeines Gesetz aufstellen, da beide Prinzipien, sobald sie übertrieben werden, den Staat zersprengen. Jeder übernationale große Staat ist ein Kunstwerk, ein Wagnis, ein täglich sich erneuernder Versuch. Er ist wie eine große Maschinerie, die beständig irgendwo repariert werden muss, damit sie arbeitsfähig bleibt. Und wie jedes Kunstwerk bestimmt wird durch den Künstler und den Stoff, so erwächst der Großstaat aus der führenden Nation und den begleitenden Völkern, aus den Ideen und Sitten der Herrschenden und den Qualitäten der Beherrschten, aus dem Können großer Männer und dem Willen breiter Massen, aus Geschichte, Geographie, Landwirtschaft, Handwerk und Technik. Dieser seelische Charakter des Großstaates darf nie außer acht gelassen werden, wenn man sein Wesen begreifen will. Eine bloß mechanistische Betrachtungsweise nützt gar nichts. Je größer und je gebildeter und anspruchsvoller die zu regierenden Mengen werden, desto mehr Elastizität gehört zu ihrer Leitung, eine Elastizität, die als Erbweisheit von Geschlecht zu Geschlecht übernommen werden muss. Diese richtige Mischung von Einheitszwang und Freiheitsgewährung wirkt als Anziehungskraft gegenüber den mitfolgenden Teilen.“

In der letzten Phase des Weltkrieges bemühte sich Naumann, seine Ideen in die politische Wirklichkeit einfließen zu lassen. Die Verhandlungen um einen Frieden mit Russland in Brest-Litowsk begleitete er engagiert und erlebte etwas ratlos und überrascht das erste Auftreten einer ukrainischen „Rada“ als Völkerrechtssubjekt und den nicht wirklich geglückten Versuch eines Ausgleichs mit polnischen Interessen. Er unternahm kräftezehrende Reisen in das Gebiet der Mittelmächte, im Oktober hielt er mehrere Vorträge bei der Obersten Heeresleitung in Spa. Sie zeugen von Naumanns Ringen um Ideen für eine Nachkriegsordnung in Mitteleuropa, seiner Skepsis gegenüber Präsident Wilsons Völkerbund-Programm, dessen Rationalismus er abwehrt in seiner naturrechtlichen Begrifflichkeit und in dem „durch die Schwierigkeiten der Welt hindurchmoralisierenden Pathos“, wie Theodor Heuss schreibt.

In Aufsätzen und in einer seiner letzten großen Reden vor dem Reichstag machte Naumann deutlich, dass er deutlicher als früher nicht allein die materiellen Interessen, die Nützlichkeitserwägungen als ausschlaggebend für die Entschlüsse der Nationen beurteilt, „sonst wäre es gar nicht zum Kriege gekommen. Es lebt außer dem Nutzen noch vieles andere im Blut und im Gehirn der Völker, tiefe, unterirdische Strömungen, verborgener Hass, angeborene Kriegshaftigkeit, alte Natur, sei sie gut oder böse. Ist der jetzige Wilsonsche Völkerbund wirklich etwas Ewiges, wofür es sich verlohnt Opfer zu bringen wie für ein Reich Gottes auf Erden? Ist er die Vollendung der christlichen Verheißung, dass es einen Hirten und eine Herde geben soll, ist er die Verwirklichung des wunderbaren Traumes der Menschlichkeit, den gerade unsere deutschen Dichter und Denker in ihrer Seele trugen? Oder ist er nur Ausdruck eines gewöhnlichen Aufklärungsoptimismus, der das für wahr hält, was er wünscht, ein Kunstprodukt der theoretischen Vernunft, ein gespensterhaftes Gebäude, in dem die Delegierten der Nationen teils sich vergnügen, teils sich zanken?“

In manchen dieser Überlegungen klingt das an, was Heinrich August Winkler wie bereits erwähnt als moderaten Weltkriegsimperialismus bezeichnet hat. Naumanns Vertrauen auf eine deutsche Führungsrolle ist als solches natürlich überholt, zum Glück. Er selber hat das nachhaltig erlebt und erlitten. Aber dahinter steht vielleicht eine Einsicht, die wir nicht vorschnell abtun sollten, die Überzeugung Naumanns, wie sehr demokratisch organisiertes Zusammenleben etwa in einem mitteleuropäischen Großstaat eines stabilen Machtzentrums bedarf. Der viel zitierte Satz eines deutschen Verfassungsrechtlers, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht schaffen kann (und darf!), findet hier vielleicht seine entscheidende Ergänzung.

Mir liegt jede plakative Polemik oder kurzschlüssige Programmatik im Gefolge Naumanns fern, für oder gegen seine Überlegungen. Dafür gibt es Berufenere. Ich habe auch keine Vorstellung davon, wie lebendig seine Gedanken in der nach ihm benannten Stiftung oder in der FDP sind, die sich in seiner Tradition sieht. Nein, nur das Nachdenken darüber, wie es mit der deutschen Geschichte auf ihrem langen Weg in den Westen weitergehen kann, weitergehen soll und weitergehen wird, es lässt mich nicht los. Und – ich suche Mitdenkende…

Einen wichtigen Baustein im Lebenswerk von Friedrich Naumann habe ich bisher gar nicht erwähnt, obwohl er für sein Bemühen, dem Projekt Mitteleuropa eine Seele zu geben, ganz entscheidend ist. Er gehörte 1907 zu den Mitbegründern des Werkbundes, einer Vereinigung von Künstlern, Architekten, Formgestaltern, Publizisten und Politikern, die für die deutsche Kulturlandschaft entscheidende Impulse gegeben hat, im Bauhaus, in Hellerau und an vielen Orten, in Ateliers und Werkstätten. Ach, das hat mehr Bestand als alle politischen Ideen. Am Ende wäre der Grundsatz „Form folgt der Funktion“ auch hilfreich für eine Gestaltung des Gemeinwesens, nüchtern, nicht ausufernd in den Ländereien von Absurdistan, aber resilient gegenüber allen Welterlösungs- oder Weltuntergangsparolen, die oft so schwer voneinander zu unterscheiden sind. Wie gut ließe es sich dann leben in Mitteleuropa.

Christoph Ehricht

Sanfte Lethe

Schutzgott der Liebe, der in mir waltet, 
und deine Flanke dir offen ließ.
Ich kann ihn nicht verraten. 
Doch du hast's längst getan,
ihn schweigend begraben, das Schicksal gebogen. 
Gib mir vom Wasser der Lethe zu trinken.
Ich will vergessen - Kümmernis, doch Liebe auch.
Verbluten wird aller Schmerz 
und alles Sehnen wird ein Ende haben. 
Wie einst - als Fremde - will ich erneut dich finden 
und ahnen von dem was war.
Unsere Stimmen vernehmen ihren Klang, wie aus ferner Zeit. 
Wie die Seelen, ähnlich gefärbt, 
wird der Geist staunend sich selbst im anderen erkennen.

Verwehtes trägt vertrauten Glanz.

Bettina Zarneckow

Es heilt die Zeit …

Bezaubernd lockte mich der Frühling, 
bot wirklich alles auf.
Erweckt aus winterlicher Stille, 
ward ich geküsst vom Lebenshauch. 

Vom Liebreiz der Natur umgarnt,
konnt' ich auf Wolken schweben.
Mich zog's voll süßer Leidenschaft 
des Sommers Glut entgegen. 

Doch unverhofft wurd' mir genommen,
was meine Seele sang.
Ein Mix aus dunkler Jahreszeit
war das, was nun erklang.

Auf ewig bleibt der Sommer fort?
Mein Herz verletzt und schwer. 
Kein Sinn für Unbesiegbarkeit,
kein Geigenhimmel mehr. 

Nur, ... Kummer nicht zeitlebens bleibt,
weil's Dasein neue Blüten treibt!

Bettina Zarneckow

Predigt am 27.2.2022 in der Schlosskapelle Ludwigsburg bei Greifswald

Christoph Ehricht

Schlosskapelle Ludwigsburg (*Bild 1)

Markus 8, 31 – 38, Jesu Leidensankündigung in Caesarea Philippi:

Des Menschen Sohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete davon frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er wandte sich um und sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Hebe dich, Satan, von mir, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.

Gott segne dieses Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde,

Jesus mutet seinen Freunden und Anhängern einiges zu. Sie hatten ihm vertraut und sich auf den Weg mit ihm gemacht, weil er Kranke gesund machen konnte, Liebe an die Stelle von Kaltherzigkeit setzte und vielleicht sogar das Ende der verhassten römischen Fremdherrschaft und der wie ein Krebsgeschwür wuchernden Korruption im Lande herbeiführen konnte. Ein Held, der lang ersehnte Messias. Und nun müssen sie diese Rede hören: nicht Sieg, sondern Leiden wird angekündigt, sogar der Tod. Kein Wunder, dass sich lauter Widerspruch regt. Aber den weist Jesus scharf zurück und bedroht sogar seinen treuesten Anhänger Petrus: Hebe dich hinweg, Satan. Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.

Auch unserem Glaubensmut und unserem Gottvertrauen wird gerade einiges zugemutet. Die lange zermürbende Coronazeit, der Klimawandel und nun auch noch der Krieg mitten in Europa. Trauer, Wut und Angst beherrschen mich wie wahrscheinlich auch Sie, da hilft kein Wegschauen und es gibt nichts schönzureden. Antworten auf die vielen Fragen, die sich jetzt bedrängend stellen, haben wir alle nicht, allenfalls im Hören auf unser heutiges Sonntagsevangelium die Zusage, dass Gott uns durch seinen Sohn gerade auch im Leiden, in der Ratlosigkeit und Angst und Ohnmachtsgefühlen nahe ist. Ein schwacher Trost?

So schwer es ist, liebe Gemeinde, wir müssen in diesen Tagen wohl endgültig Abschied nehmen von der Vorstellung, dass unsere Welt und unser Lebensmodell sicher sind. Dass wir über unsere Zukunft verfügen und dass Frieden und Fortschritt und Wohlstand machbar sind. Diese Sicherheit verlieren wir gerade – Jesu Warnung bestätigt sich, wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Eine bittere Einsicht, ich sage dies wirklich nicht leichtfertig, eher mit großem und ehrlichem Schmerz. Aber nur, wenn wir dieser Wahrheit in’s Auge sehen, werden wir den nötigen Mut bekommen, Verantwortung wahrzunehmen ohne kurzatmigen oder irregeleiteten Aktionismus, ohne Panik und Hysterie, nur dann werden wir frei werden von lähmender Angst.

Und wir werden dann vielleicht auch erahnen können, welchen Gewinn uns das Vertrauen auf den schweren Weg Jesu verspricht. Gott schickt ihn in seine Passion, auf den Leidensweg zum Kreuz, weil er die noch unerlöste Welt durch Liebe vollenden und erlösen will und weil Liebe sich eben mit Gewalt nicht durchsetzen lässt. Am Ende aber hat sie den längeren Atem und wird alles verwandeln, in ein neues Licht rücken, wenn nicht in dieser, so in der kommenden Welt. Das ist gewiss.

Vom Kirchenvater Augustin lernen wir zu unterscheiden zwischen Sicherheit und Gewissheit. Sicherheit gibt es nicht, aber der Allmacht und Überlegenheit der Liebe Gottes dürfen wir gewiss sein. In dieser Gewissheit, liebe Gemeinde, sollen wir in dieser aufwühlenden Zeit vor allem das Gespräch untereinander suchen. Keiner und keine, vor allem auch unsere Kinder und Enkel nicht, soll sich mit seinen Sorgen und seiner Angst allein gelassen fühlen. Nähe ist der beste Trost.

Liebe Gemeinde, schon vor einigen Jahren hat ein Philosoph aus Jena, Hartmut Rosa, ein Buch veröffentlicht, auf das ich erst jetzt aufmerksam geworden bin. Es heißt „Unverfügbarkeit“ und entfaltet unter verschiedenen Blickwinkeln das spannungsvolle Verhältnis von Verlust und Gewinn, von dem unser Sonntagsevangelium spricht. Es geht in dem Buch um die Einsicht, dass unser Leben seinen Reichtum, seinen beglückenden Glanz, seinen Klang, seine Resonanz, wie Rosa sagt, durch das gewinnt, worüber wir nicht verfügen, was wir nicht machen können, ja, was wir mit den Mitteln unseres Denkens und unserer Sprache kaum erfassen, geschweige denn verfügbar machen können. Eine unverfügbare Wirklichkeit. Natürlich, das weiß er gut, natürlich muss es auch besonnenen Umgang mit dem geben, worüber wir verfügen können. Alles andere wäre wirklichkeitsfremd und lebensfeindlich. Nur darf eben das Verfügbare nicht zum letzten Maß aller Dinge werden. Dann greifen der Vorwurf, den Jesus seinem Freund Petrus macht und die Warnung vor einem unwiederbringlichen Verlust!

Hartmut Rosa veranschaulicht dies an einem schlichten, fast banal wirkenden Beispiel: Es ist wie mit dem Schnee, den wir nicht machen oder bestimmen können, den wir kaum vorhersagen und schon verloren haben, wenn wir ihn festhalten wollen. Aber wenn er denn fällt, wird unsere Welt verwandelt, Dunkelheit wird erhellt und ein wärmendes, geheimnisvolles Gefühl von Geborgenheit erfüllt uns. Mir gefällt dieses Bild. So stelle ich mir gerne die Verwandlung am Ende der Zeit vor, wenn Gottes Liebe alles bestimmt.

Martin Luther hat diese Verwandlung in seinem schönen Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ besungen. Es steht in unserem Gesangbuch zwar als Weihnachtslied. Wir wollen es dennoch jetzt gemeinsam singen und mit besonderem Ernst und besonderer Zuversicht in dieser beginnenden Passionszeit einstimmen in den Vers: „Das ewig Licht geht da herein und gibt der Welt einen neuen Schein. Es leuchtet mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis.“ Amen.

Der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Liebe Gemeinde, schon vor einiger Zeit hat Kyrill, der Moskauer Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, zu der viele Gemeinden in Russland und in der Ukraine gehören, seinen Gläubigen ein Friedensgebet an’s Herz gelegt, das wir jetzt in der Verbundenheit mit unseren Schwestern und Brüdern dort beten wollen:

Herr Jesus Christus, unser Gott,
siehe herab mit deinem barmherzigen Auge auf das Leid und das so schmerzerfüllte Schreien deiner Kinder, die in der Ukraine sind.
Befreie dein Volk vom Bruderkrieg, verringere das Blutvergießen,
befreie von den Nöten, die der Krieg mit sich bringt.
Die, die ein Haus verloren haben, lass wieder ein Zuhause finden,
gibt den Hungernden zu essen, tröste die Weinenden, vereine die Getrennten.
Lasse es nicht zu, dass deine Kirche Jemanden verliert aus Wut gegenüber Mitmenschen und Verwandten, sondern schenke uns wie ein großzügiger Gott baldige Versöhnung.
Erweiche die Herzen derer, die hart geworden sind und lass uns zurückkehren zur Erkenntnis deiner Weisheit. 
Schenke Frieden deiner Kirche, ihren treuen Kindern und allen deinen Völkern, mache uns zum Werkzeug deines Friedens, damit wir mit einem Herzen und einigen Lippen dich preisen, unseren Herrn und Heiland von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Buch Hartmut Rosa (*Bild 2)

*Bild 1: commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21934129, Erell-Eigenes Werk, CCBY-SA 3.0

*Bild 2: https://ethik-heute.org/wp-content/uploads/2019/04/9783701734467-web2.jpg

Erinnerungen

Gleich Segelschiffen, die die Anker lichten,
gehn mir Erinnerungen durch den Sinn.
Und märchenhafte Weißt-du-noch-Geschichten
begleiten mein „Woher“ in mein „Wohin“:
(Nach all den Jahren, Udo Jürgens)

Aus medizinischer Sicht ist in unserem Gehirn vieles gespeichert, was wir als Informationen unserer Umwelt und bei Lernprozessen jeglicher Art aufnehmen. Wir nennen den Ort Gedächtnis.
Ist nicht aber das, was auf uns Eindruck gemacht hat, was wir mit unseren Sinnen erfahren haben, in unserer Seele gespeichert und hat das aus uns gemacht, was wir sind? Das Gehirn ist Hilfsmittel zur Aufnahme und Reproduktion.
Wenn wir hören, sehen, riechen, schmecken und fühlen, dann sind das sinnliche Wahrnehmungen, die je nach Eindruck über Sinnesleitungen in unsere Seele gelangen. Sie werden dort aufbewahrt und man erinnert sich ihrer, – wenn Vergleichbares erkannt wird, – die Sinne auf die gleiche Art und Weise angesprochen werden, – wenn man eine Situation einzuschätzen sucht und auf eine Erfahrung zurückgreifen will. Ganz besonders wichtig ist ein erneutes Aufgreifen einer Erinnerung, wenn Geschehenes verdrängt wurde. Ein Entwirren zu gegebener Zeit und sorgsames Ablegen ist für so manchen existenziell. Am schönsten ist es, im Kreise vertrauter Menschen gemeinsame Erinnerungen aufzufrischen.

Friedrich Nietzsche hielt aber auch das Vergessen für eine wichtige Fähigkeit des Menschen. Es muss nicht nur Verlust bedeuten, sondern kann wesentlich zur Selbstbefreiung und zur inneren Ordnung beitragen. Oft gelingt es nur nicht. „Jemanden vergessen wollen, heißt an ihn denken.“ Jean de La Bruyère So verhält es sich auch mit Geschehnissen.


Viele Sinneseindrücke sind vielfältig. Nicht nur ein Sinn wird angesprochen, sondern mindestens zwei. Ich habe eine Erinnerung, bei der Schmecken und Sehen gleichermaßen von Bedeutung waren. Meine Großmutter konnte sehr gut kochen und am liebsten mochte ich ihren weißen Käse. Der angerührte Quark war als solcher kaum noch erkennbar. Er war durchzogen von gelben, schimmernden Kanälen, dem mehr als reichlich hineingemischten Leinöl, das den Quark wie nebeneinander treibende Eisschollen erscheinen ließ und ihm einen herrlich nussigen Geschmack gab. Bis heute ist es unerreicht in der Zubereitung, aber, nicht zuletzt wegen der Sinnlichkeit, dennoch eines meiner Lieblingsgerichte.

Im Februar 2004 habe ich in Berlin mein erstes Udo Jürgens Konzert erlebt. Fast all meine Sinne wurden angesprochen. Ich hörte vertraute und von mir geliebte Texte und Melodien. Ich sah Udo Jürgens unmittelbar vor mir. Ein besonderer Geruch lag in der durch Scheinwerfer erhitzten Luft der vollbesetzten Max-Schmeling-Halle. Ich fühlte die Vibration, die die Musik verursachte, wenn das Orchester und Udo alles gaben. All das nahm ich in mich auf.

Und zwei Menschen, die im Begriff sind, sich ineinander zu verlieben? Das Sehen ist das eine – das Erkennen mit den Augen. Aber der Geruchssinn ist mit von der Partie. Denn wenn sie sich füreinander entscheiden, hat der Geruchssinn längst die Erlaubnis erteilt.

Natürlich gibt es auch die Eindrücke die beschweren, aber zum Dasein gehören. Es sind Risse und Verletzungen, wie es sie im Leben eines jeden gibt. Auch ihrer kann man sich immer mal wieder erinnern im Laufe des Lebens. Und mit zunehmender Dauer verheilen die Wunden, Risse werden ausgebessert und die Rückschau geht ins Wohlwollende. Warum wohl? Aus Erleichterung, die Situation bewältigt zu haben und aus Zufriedenheit über die daraus gewachsene innere Stabilität. Narben bleiben. Manchmal für andere sichtbar und für mich spürbar. Sie sind Bestandteil von mir und Teil meines Wurzelgeflechts geworden, von dem ich das Gefühl habe, dass es mir unter anderem Halt gibt. Manchmal gelingt es mir, mich in die Lage des Verursachers von schmerzhaften Wunden zu versetzen. Das erleichtert das Aufkommen von Wohlwollen.
Alles verstehen heißt alles verzeihen? Nicht immer.

Von dem Moment an, ab dem Erinnerungen vorhanden sind, besteht zwischen ihnen und den kommenden sinnlichen Wahrnehmungen ein Wechselspiel.

– Gespeicherte Sinneseindrücke – setzt sich nicht ein ganzes Leben aus dem Sammeln von Eindrücken und den Erkenntnissen daraus zusammen? Jeder Mensch hat Erinnerungen, die in seiner Seele bewahrt werden.
Sie geben ein Gefühl von Heimat, sind identitätsstiftend. Sie schenken mir Gelassenheit, dann und wann Mut und ein gewisses Freiheitsgefühl.
Vergessen bringt den inneren Kompass eines Menschen durcheinander und macht den Geist heimatlos.

Eine vielsagende und sinnliche Geschichte ist die der Kugelmenschen.
In Platons Gastmahl – ein Symposium -, einem Trinkgelage, geht es um den Liebesgott Eros. Der Dichter Aristophanes erzählt, dass es einst rein männliche und rein weibliche Kugelmenschen gab und solche, die beide Geschlechter in sich vereinten. Sie hatten je vier Hände, vier Füße und zwei Gesichter, die entgegengesetzt zueinander waren. Sie konnten sich niemals sehen. Zeus wurden die Kugelmenschen zu übermütig und so teilte er ihre Körper in zwei Hälften und verstreute sie über die gesamte Erde. Diese Hälften sind die heutigen zweibeinigen Menschen. Sie leiden unter ihrer Unvollständigkeit und sind voller Sehnsucht auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte.
Finden sie sich irgendwann, ist es ein Wiedererkennen. Sie erkennen ihre Seele in der des anderen und sind bestrebt, für immer zusammen zu bleiben.


Das Wiedererkennen, das Vertrautsein und nahtlose Anknüpfen an Vergangenes – auch das ist für mich Heimat. Eine sinnliche Wahrnehmung? – Ja.

„Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.“ Rabbi Baal Chem Tov (um 1700)

Bettina Zarneckow

August 2020

Sommerregen

Nach einem warmen Sommertag,
wie ich ihn doch so gerne mag,
hängt nun der Himmel wolkenschwer,
nichts kündet von der Sonne mehr.
Doch soll ich jetzt schon heimwärts kehren,
nur weil sich Regentropfen mehren?
Will unbeschwert wie einst als Kind,
den Regen fühlen und den Wind.
Die Arme und die Seele weit,
durchnässt zu werden gern bereit!
Die Kleider feucht, auch Haut und Haar,
so frei zu sein ist wunderbar.
Ich geb mich hin dem Angenehmen,
die Sinne möcht ich niemals zähmen.
Wie soll die Seele sonst gedeihn -
würds mir mein Wesen je verzeihn?
Ein Sommerregen warm und weich kommt nicht so oft mehr vor.
Genieß ihn und den Duft der steigt - sein Name: Petrichor.
Juli 2020 Bettina Zarneckow