Schutzgott der Liebe, der in mir waltet,
und deine Flanke dir offen ließ.
Ich kann ihn nicht verraten.
Doch du hast's längst getan,
ihn schweigend begraben, das Schicksal gebogen.
Gib mir vom Wasser der Lethe zu trinken.
Ich will vergessen - Kümmernis, doch Liebe auch.
Verbluten wird aller Schmerz
und alles Sehnen wird ein Ende haben.
Wie einst - als Fremde - will ich erneut dich finden
und ahnen von dem was war.
Unsere Stimmen vernehmen ihren Klang, wie aus ferner Zeit.
Wie die Seelen, ähnlich gefärbt,
wird der Geist staunend sich selbst im anderen erkennen.
Verwehtes trägt vertrauten Glanz.
Eine alte Seemannsregel lautet: „Eine Hand fürs Leben, eine Hand fürs Schiff.“ Wer mit beiden Händen das gleiche täte, brächte entweder sich oder das Schiff in Gefahr. Der gedankliche Vergleich zwischen der Entscheidungssituation auf dem Wasser und der an Land wird in dem Satz beschrieben: „Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.“ Zwei Sätze, die mit der lebensbedrohlichen Situation auf hoher See verbunden sind und uns vor Augen führen, dass wir eine Antwort auf die Frage finden müssen, wie Sicherheit zu gewährleisten ist bzw. welche Gewissheiten wir haben können. Nun sind Sicherheit und Gewissheit nicht dasselbe, auch wenn sie sich mit der gleichen Frage befassen, welche Antwort wir auf die Wirklichkeit der Gefahr finden können.
Die neuzeitlich dominante Einstellung ist der Wunsch nach Sicherheit. Sie scheint rational auf den ersten Blick überzeugender. Wer ein Auto kauft, wird sich überzeugen lassen, wenn der Hersteller Sicherheitssysteme verbaut hat. Deren Funktionsweise soll die Gefahren im Straßenverkehr abwenden. Würde der Hersteller sagen, er sei gewiss, dass das Auto die Insassen und andere Verkehrsteilnehmer schützen könne, würde er wohl weniger Käufer überzeugen können. Wir wollen es genau wissen. Das scheint der rationale Weg zu sein. Ob man aber auch in solch einem Auto mit sämtlichen Sicherheitssytemen einen Unfall erleiden wird, kann niemand sagen, weil es ungewiss ist.
Was ist der Unterschied? Sicherheit heißt im Latein securitas. Wer diesen Begriff googelt, erhält natürlich sofort Suchergebnisse von Sicherheitsfirmen, die sich gerne den lateinischen Namen geben, auch wenn die meisten ihrer Kunden kein Latein beherrschen. Gewissheit heißt im Latein certitudo. Securitas ist ein compositum, ein zusammengesetztes Wort aus sine und cura. Übersetzt heißt das ohne Sorge. Der preußische König nannte sein Anwesen in Potsdam so, allerdings in Französisch sans souci. Das „Haus ohne Sorge“ macht immer wieder tatsächlich sorglos, darum passieren die meisten Unfälle auch im eigenen Haushalt. Ein Haus, das relativ sicher wäre, dürfte weder Türen noch Fenster haben, sagen Sicherheitsberater. Auch in und durch Autos mit Sicherheitssystemen passieren in Deutschland jedes Jahr immer noch rund eine halbe Million Unfälle mit zehntausenden Verletzten und tausenden Toten. Securitas ist auch ein gefährliches Denksystem. Sorglosigkeit ist das Einfallstor für den Teufel, sagt Martin Luther. Die Gefahr liegt in dem Wunsch, einen Bereich zu haben, der vor der Gefahr abgeriegelt ist. Das heißt im Englischen lockdown. Spaßvögel nannten den Schneefall im ersten Winter der Coronazeit Flockdown. Die Diskussion wurde darüber geführt, welches der richtige Weg sei, wie wir aus einem Lockdown wohl wieder herauskommen.
Certitudo ist ein anderes Denken. Gewissheit teilt nicht in zwei Bereiche, einen gesicherten, abgeschlossenen und einen unsicheren, offenen Bereich. Gewissheit geht davon aus, dass die Gefahr immer gegeben ist und wir ein äußeres Verhältnis dazu haben und ein inneres Verhältnis dazu bestimmen müssen. Dieses Denken geht davon aus, dass die Wirklichkeit kontingent ist, also die Gefahren und ihre Folgen immer eintreten können, aber nicht müssen. „Alles kann, nichts muss“, so beschreiben manche Menschen auch ihre Lebenseinstellung. Allerdings kann diese Einstellung nur der Wirklichkeit folgen, nicht umgekehrt. In Gottes Hand zu sein, wie es die alte Lebensweisheit bezeichnet, ist eine Frage der Gewissheit nicht der Sicherheit. „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“, meinten manche selbstsicher in der DDR. „Ohne Sonnenschein und Gott geht die LPG bankrott“ hielten andere dagegen. Sicherheit ist ein tiefsitzendes Bedürfnis und zugleich auch eine Gefahr, weil sie die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entweder unter- oder überschätzt und man deshalb entweder leichtsinnig mit ihr umgeht oder sich angsterfüllt von ihr absondert. Gewissheit lässt den „Spielraum“ der Wirklichkeit bewusst zu und antwortet mit einer Haltung der Zuversicht und des Vertrauens. Certus, das Adjektiv, bedeutet gewiss, aber auch entschieden nach einem Kampf bzw. einer geistigen Auseinandersetzung. Etwas wird dadurch zur Gewissheit, weil die Auseinandersetzung damit ein klares Ergebnis gebracht hat. Wie zum Beispiel beim Gold waschen. Wenn in einem Fluss Gold gewaschen wird, ist erst nach dem Sieben und Scheiden klar, ob es dort Gold gibt, es bleibt nach dem Sieben und Waschen am Ende übrig. Wenn kein Gold übrig bleibt, ist es weiterhin der eigenen Erfahrung nach ungewiss, wenn aber andere Goldsucher im selben Fluss schon Gold gefunden haben, kann ich auch ohne Erfolg gewiss sein, dass ich die Chance auf einen Fund habe. Wir müssen also Gewissheit in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit erst gewinnen. Das Streben nach Sicherheit setzt diese Auseinandersetzung im Grunde schon voraus. Einen Kampf gewinnt man leichter mit einem Überraschungsangriff. Viele Menschen vertrauen bei klarem Bewusstsein auf Gott und der Glaube wird auf dem Weg der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Glaubenstradition gewiss oder ungewiss. Sicher kann er niemals sein. Auch die Liebe und die Hoffnung sind Gewissheiten, keine Sicherheiten. Das Leben kann anders als mit den Gewissheiten des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung nicht bewältigt werden. Ob es die Liebe, vielleicht sogar die „große Liebe“ die sich gar nicht definieren lässt, wirklich gibt, scheint allgemein gewiss zu sein. Sicher und definierbar sind diese Dimensionen der Wirklichkeit nicht. Ohne ihre Definierbarkeit, also wörtlich verstanden „Abgrenzbarkeit“ müssen sie als ungesicherte Annahmen gelten.
Es lässt sich das Thema des Atheismus, also die Aussage, dass der Welt Gott nicht gegeben oder offenbart ist, im Bereich der Sicherheit nicht beantworten, weil sich Gott nicht definieren lässt. Im Bereich der Gewissheit ergeht es dieser Frage, wie der Frage nach den entscheidenden Dimensionen der Lebensbewältigung, dem Glauben, der Liebe und der Hoffnung, der Auferstehung von den Toten und der Ewigkeit, sie bleiben im Bereich der Gewissheit oder Ungewissheit. Die Gewissheit der Liebe ist möglich, die Sicherheit nicht.
Nach einer Urlaubspause bin ich nun zurück und freue mich, wieder am Blogleben teilzunehmen, Beiträge zu lesen, darüber nachzudenken und zu kommentieren. Hinter mir liegt eine wunderbare Reise durch Bayern und das Salzkammergut, bei schönstem Wetter und guten Kletterbedingungen.
Herzliche Grüße
Bettina
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Ich muss von einem Erlebnis berichten, das mich in den letzten Tagen beschäftigt, besorgt, ein wenig ratlos und am Ende doch hoffnungsvoll gestimmt hat – und möchte gerne zum weiteren Gespräch und Nachdenken darüber anregen.
Am Rande eines Familienfestes war ich – meist eher widerwillig – an unterschiedlichen Diskussionen über die vielen aktuellen Streitthemen beteiligt. Widerwillig, weil ich zu oft erlebe, wie fruchtlos solche Gespräche gegenwärtig sind. Angst, Wut und sicher auch Hilflosigkeit stehen einem ruhigen Austausch von Argumenten und Gesichtspunkten gerade sehr im Wege. Das muss man aushalten, möglichst ohne die Gesprächspartner zu verdächtigen oder das Tischtuch zu ihnen zu zerschneiden. Der Hausherr, von dem in einer Kolumne die Rede war, weil er einen Freund zum sofortigen Verlassen seines Hauses aufforderte, nachdem dieser eine abweichende Meinung zum Krieg in der Ukraine geäußert hatte, möglicherweise die Frage, ob die bedingungslose Solidarität des Westens mit Kiew wirklich eine kluge und auch für die Ukraine gute Entscheidung war, ist für mich ein erschreckendes Symptom für eine früher so nicht gekannte Zerrissenheit und mentale Aggressivität in unserer Gesellschaft.
Darum wollte ich eigentlich auch schweigen, als auf unserem Fest die Ereignisse in der Ukraine angesprochen wurden. Zumal wir alle in unserem Entsetzen über diesen völlig sinnlosen russischen Angriffskrieg einer Meinung waren. Bei der Erörterung der Ursachen und der Bewertung von Gegenmaßnahmen gingen die Meinungen dann doch etwas auseinander, wie kaum anders zu erwarten war. Ich habe aufgemerkt, als eine jugendliche Teilnehmerin unserer Runde erklärte, für sie füge sich die russische Aggression ein in eine Strategie des Kremls, die seit langem geprägt sei von einem Kampf gegen Liberalität, Demokratie und Menschenrechte und die die gefährlichen rechtsradikalen Netzwerke in Westeuropa nach Kräften unterstütze.
O weh, gleich gingen mir viele Fragen auf einmal durch den Sinn: Erlebt jetzt etwa das Trauma von der russischen Gefahr, früher festgemacht von rechtskonservativen Kräften an einer kommunistischen Unterwanderung, eine Wiederauferstehung, diesmal im eher linksliberalen Milieu? Muss Dieter Süverküp seine „Erschröckliche Moritat“ vom Kryptokommunisten mit seinen Unterwanderstiefeln um- und neu schreiben? Geht es am Ende bei den Sanktionen und Boykotten doch nicht nur um die Abwehr der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, sondern um eine viel grundsätzlichere Abgrenzung von Traditionen und Kulturen des Ostens, eine neue Mauer zum Schutz vor einem wiedererstandenen Reich des Bösen? Müssen wir darum miterleben, wie einseitig und undifferenziert wir informiert werden?
Davon, wie sehr solche Ängste vor einer russischen Gefahr wiederum wie seinerzeit im Kalten Krieg die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen vor allem der Rüstungsindustrie bedienen, wenn auch nun unter umgekehrtem Vorzeichen, will ich hier gar nicht reden. Die Auseinandersetzungen um NordStream 2 sind ein lehrreiches und beklemmendes Beispiel dafür. Es gehört leider untrennbar zur Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine. Nebenbei: Ob es inzwischen wenigstens einigen der Akteure in der breiten Gegnerfront der Pipeline wie Schuppen von den Augen gefallen ist, wessen Interessen sie in Wahrheit bedient haben? Ich bin außerdem gespannt auf den Tag, an dem die Erbauer der Gasleitung die Rechnung für die auf dem Grund der Ostsee versenkten Milliarden aufmachen. Wer wird dann wohl für die Vertragsverletzungen bezahlen?
Nein, mir geht es heute um etwas anderes. Um es gleich deutlich zu sagen: ich lebe sehr gerne in der freiheitlichen und liberalen Gesellschaft und habe – noch! – Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates. Die antiwestliche Propaganda in Russland ist mir oft fremd und nur mit Mühe kann ich viele ihrer Motive verstehen. Ich glaube allerdings, dass sie genau so wirksam ist wie die seinerzeitige Propaganda in der DDR. Die zunehmende Gefährdung der Demokratie sehe ich daher weniger in Moskau oder in irgendwelchen von dort geförderten rechten Netzwerken, sondern eher bei uns selber, in den unserem westlichen Lebensmodell innewohnenden Widersprüchen: es lebt von dem Wohlstand, dessen ökonomischer und moralischer Preis hoch, zu hoch ist, als dass er auf Dauer Bestand haben und gerechtfertigt werden könnte. Auf dem Nährboden dieser Widersprüchlichkeit gedeihen dann die Ängste und Verwerfungen, mit denen wir es nun zu tun haben und die – pardon – ein gefundenes Fressen für Demagogen aller Couleur sind.
Alle, die sich dem Überlebenskampf der Demokratie verpflichtet fühlen, sollten also klug, besonnen und nüchtern die wirklichen Ursachen ihrer aktuellen Gefährdungen analysieren und ebenso klug, besonnen und nüchtern Alternativen entwickeln, statt an der Schimäre eines neuen Reiches des Bösen zu werkeln – so sehr die gegenwärtigen Machthaber in Moskau auch Gründe dafür liefern mögen. Wenn die mediale Meinungsbildung der letzten Jahre mehr von solchen Überlegungen und Fragen geleitet gewesen wäre als von der Sorge um Pussy Riot oder Alexei Navalny, stünden wir jetzt besser da. Im Blick auf den Ukraine-Konflikt bin ich im Übrigen unverändert der Überzeugung, dass eine friedliche Lösung möglich gewesen wäre, wenn der Westen sie wirklich gewollt hätte. Putin hätte nach seiner Rede im Deutschen Bundestag 2001 beim Wort genommen werden müssen durch ernsthafte Verhandlungen über eine europäische Sicherheitsstruktur mit Russland. Gorbatschows Vision vom gemeinsamen europäischen Haus war damals durchaus noch lebendig! Leider ist nichts dergleichen versucht worden, eher im Gegenteil. Jetzt ist das Kind im Brunnen. Die gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen, dass wir keine Kriegspartei seien, verlieren mit jedem Tag an Glaubwürdigkeit.
Die nun nötige ehrliche Bestandsaufnahme wird zum Abschied auch von manchen anderen liebgewordenen Lebenslügen führen müssen. Unser westliches Lebensmodell kann keineswegs von einer selbstverständlichen Überlegenheitsgewissheit ausgehen. Und: hinter der viel beschworenen Wertegemeinschaft und der moralischen Entrüstung über deren vermeintliche Verletzungen durch andere ( immer nur durch andere! ) lauern oft genug in Wahrheit Scheinheiligkeit oder ganz andere, sehr handfeste Interessen.
Die Diskurskultur in unserer Gesellschaft sei bedroht, so erklärte etwas später die schon erwähnte jugendliche Teilnehmerin unserer Familienrunde. Bedroht nicht etwa durch cancel culture, sondern durch rechte Stimmungsmache, wenn zum Beispiel bestimmte Leute erklären, dass sie nicht mehr wagen zu sagen, was sie wirklich denken. Natürlich kann jeder und jede sagen, was er oder sie denkt, so brach es aus ihr heraus. Sie müssen nur darauf gefasst sein, dass wir sie dann nach Strich und Faden auseinander nehmen. Es gab einen Moment betretenen Schweigens, in den ich dann leise einwerfen konnte, dass eine bestimmt auch für die Rednerin unstrittige Autorität wie Moses Mendelssohn sicher ein anderes Verständnis vom diskursiven Suchen nach Wahrheit gehabt habe. Am Ende bleibe doch nur das Vermächtnis, das Lessings Nathan ihm in den Mund gelegt hat: Es nehme jeder seinen Ring und eifre seiner von Vorurteilen unbestochnen freien Liebe nach.
Ich bin froh, dass wir uns darüber im weiteren Verlauf des Gesprächs verständigen konnten. Das stimmt mich zuversichtlich und hoffnungsvoll. Wir können die vielen Probleme nicht lösen, aber – ein erster Schritt – unsere Einstellung zu ihnen ändern. Dann können wir hartnäckig und mit langem Atem Bundesgenossen für Wege der Vernunft und des Ausgleichs von Interessen suchen, in unseren Familien und Freundeskreisen, aber auch und nicht zuletzt bei und mit unseren Nachbarn im Osten.
Seit 27. Februar 2022, drei Tage nach Russlands militärischer Invasion in die Ukraine, befindet sich die vor 33 Jahren um die DDR erweiterte BRD im Krieg gegen die UdSSR, im Krieg der Worte, Krieg der Boykotte und Sanktionen gegen die eine Kriegspartei, Aufrüstung und Waffenlieferungen in das Krisengebiet für die Andere in dem regionalen Konflikt.
– An diesem Tag rief der Kanzler eine neue „Zeitenwende“ aus.
„Rote Linien“ gäbe es für die Politik seiner Regierung nicht, eines seiner Lieblingsworte, das er schon im Krieg gegen das Virus Sars Cov 2 bevorzugt verwendet hat. Seither wird die Bevölkerung auf Kriegsbegeisterung, Feindseligkeit gegen das russische Nachbarvolk und angesichts der schon jetzt dramatischen Bumerangeffekte der Embargos und Sanktionen auf die eigene Wirtschaft auf bevorstehende Knappheit und Entbehrung eingeschworen – mit willfähriger Akklamation durch die propagandistisch vereinnahmte Medienlandschaft.
Die deutsche Außenministerin, höchste Diplomatin im Lande, will Russland „ruinieren“ und sorgt sich um die beginnende „Kriegsmüdigkeit“ im Lande und der Wirtschaftsminister will in Wild West Manier bei den Sanktionen gegen Russland gerne nochmal „nachladen“.
Das Wahlversprechen der Grünen – Wahlplakat Bundestagswahl
Ein gespenstisches Szenario der einseitigen moralischen Verurteilung, verstockten Verweigerung jeglicher Diplomatie und Verhandlungsbereitschaft mit einem der größten Handelspartner der BRD. Der Betrieb der in jahrelanger Arbeit erstellten Erdgaspipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee von Russland nach Rostock, die von den USA-Machthabern von Anfang an politisch torpediert, ist nun und auf deren Geheiß von der deutschen Regierung nicht genehmigt.
Menetekel an der Wand: Ihre Entscheidung kommt wie aus einer verhüllten Gefangenschaft. Wer sind die Fallensteller? Ist das willentliche oder unbedachte Zerstörung der eigenen energieabhängigen Wirtschaft? NATO, EU- Bürokratie, USA und Waffenlobby geben den Takt vor für diese beispiellose politische, kulturelle und wirtschaftliche Selbstaufgabe Bundesdeutschlands.
Und wir – die Bevölkerung, der Souverän – schauen gebannt zu und halten wie gelähmt still: Mitverursacher und Zeugen einer Art Selbstentleibung. „Der Leib, der sich aus den Weltwirtschaftsinteressen gebildet hat, bedarf der Pflege seiner Seele. Man sollte nicht warten, bis die Seele von selbst erscheint. Sie ist da; denn jeder hat eine Seele. Aber sie will mit ihrer Wesenheit auch in die Deutungsart der Menschen übergehen, um wirksam zu werden“, schrieb ein Sozialforscher 1921 am Vorabend einer großen Weltwirtschaftskrise in einer schweizerischen Wochenschrift 1.)
Der Weltwirtschaftsorganismus ist in zwei Jahrhunderten durch Tatsachen und Instinkt Wirklichkeit geworden: Alle arbeiten arbeitsteilig über die gesamte Erde hin füreinander. Faktischer Altruismus ist das, aber das Bewußtsein und die Moralität hierfür sowie die daraus resultierenden bewusst gewollten Kooperationen und assoziativ verbrieften Organe als Lebensbedingung für das Ganze hinken hinterher. Eine florierende, wertschöpfende Weltwirtschaft ist die Lebens- und Kulturgrundlage der Völkergemeinschaft und gedeiht, wenn ihr struktureller, arbeitsteiliger Altruismus bewusst gewollt und gepflegt wird. Sie ist ein hohes Gut der Menschheit. Deutschlands Politik gehört derzeit nicht zu den Vorreitern dieses geistigen Wachstums der Menschheit.- Dies wird stattdessen nun in Großmannssuchtgebärden, anachronistischen Nationalismen, ideologischen Verhärtungen torpediert.
Aus Deutschland als großem Nutznießer und Förderer des Weltwirtschaftsorganismus ist über Nacht eine zerstörerische Gefahr für ihn geworden durch einen politischen Sanktions- und Boykottfanatismus und ein erkranktes, manipuliertes öffentliches Geistesleben. Die Zerstörungswut der derzeitigen deutschen Regierung im Sog der EU-Bürokratie und USA/NATO-Weisungen sucht ihresgleichen und raubt einem den Atem. Aber das Wahrheitsgefühl in der Bevölkerung für die eigentliche Aufgabe wächst. Der Goldgrund des Geistes der Gegenseitigkeit und des Vertrauens in die Arbeit Aller füreinander macht sich behutsam und nun immer stärker im Bewusstsein der Zeitgenossenschaft geltend, je brutaler und rücksichtsloser von politisch Verantwortlichen an der Sanktions- und Eskalationsspirale gedreht wird.
Dieses Wahrheitsgefühl wird sich Bahn brechen und den Zynismus der Kriegsparteien und ihrer Anheizer ablösen. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West wurde siebzig Jahre geschürt und brach dann zusammen.
Als vor dreiunddreißig Jahren die innerdeutsche Grenze geöffnet und die Berliner Mauer weggeräumt wurde, waren das Früchte schmerzlicher Entbehrungen und Bewusstseinswerdungen und lichter Geistestaten. Selbstbefreiung aus einer unerträglichen Bevormundung des Staates. Manifestiert hat sich das in solch friedlichen Kundgebungen wie „Schwerter zu Pflugscharen“ „Wir sind das Volk“, „Besonnenheit für unser Land“ und „Keine Gewalt“.
– Das Bewusstsein für das eigene Menschentum durch die weltweite Arbeit und Verbundenheit füreinander könnte nun durch eine genügend große Zahl von Menschen den Bann brechen und die Gespenster verjagen.- Werden also im kommenden Herbst in diesem mitteleuropäischen Land nochmals solche klaren Einsichten, Worte und Taten das öffentliche Geschehen verändern und wenden wie: „Wir sind die Weltwirtschaft“, „Wir arbeiten füreinander“, „ Faire und richtige Preise sind unser Fundament“,„Wir haben Nordstream2 geschaffen und wollen es geöffnet sehen“?
Oder – warum die Grünen Bellizisten geworden sein könnten
Die Präsidentin von der Leyen hatte in der Sendung Anne Will vom 20.2.22 vor dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine angekündigt, dass sie seit Wochen Pakete mit Sanktionen gegen Russland vorbereitet. Die Sanktionen würden gewaltig in ihrer Wirkung sein, selbst die Mitgliedsstaaten der EU würden unter ihnen leiden, siehe dazu im Blog 21.2.2022.
Dabei muss der sich selbstbewusst gerierenden Präsidentin zugestanden werden, dass das Embargo für Öl (in Höhe von ca. 90 %) von der Präsidentin und ihrer Bürokratie zusammen mit den EU-Staaten erst zum 31.05. 2022 in das Paket Nr. 6 eingetütet wurde. Es soll im kommenden Jahr wirksam werden, sofern Russland nicht schon vorher die Gas- und Ölhähne für Deutschland zudreht – worauf einige grüne Politiker gerne hinweisen, wofür aber wenig spricht.
Warum soll Herr Putin nach dem „Schwarzen Peter“ gieren, wenn das grüne Deutschland demnächst sowieso das Embargo bei Öl unter dem Beifall der frierenden und um ihre Arbeitsplätze bangenden Bevölkerung vollziehen und so die Einigkeit und Stärke der EU für alle fühlbar manifestieren wird? Oder anders, warum soll Russland die zuverlässigen Kunden aus Deutschland vergrämen?
Putin hat begriffen, dass die Grünen in der Bundesregierung Frau Baerbock und Herr Habeck nicht Gas und ÖL für die deutsche Wirtschaft, sondern die Energiewende ohne Öl und Gas mit seiner Beihilfe anstreben. Er hat wohl auch deshalb gestern und für Herrn Habeck vermutlich etwas bedrohlich angekündigt, die Lieferung von Öl und Gas auszuweiten. Wenn denn endlich von Siemens (aus Kanada) die für den Betrieb von Nord Stream 1 erforderliche Turbine angekommen ist. Im übrigen sei ja auch Nord Stream 2 bereit. Gas in Hülle und Fülle also, sofern die Grünen und nicht nur die mitmachen.
Es gibt einige Wenige – unsere deutschen Extremisten von links und rechts – , die im Hinblick auf die sich schon jetzt in steigenden Preisen bei Benzin, Gas und Strom zeigende Energie-und Wirtschaftskrise Sorgen haben. Ihr Lösungsvorschlag : das Embargo beu Öl wird von Deutschland abgesagt.
Die Extremisten, die sich auch für einen Waffenstillstand im Ukrainekrieg einsetzen, verkennen die Komplexität der Lage. Und unterscheiden sich, wenn auch mit anderer und naiverer Begründung, nicht von Frau von der Leyen. Einer aufgebrachten und nur im Sinne des ukrainischen Präsidenten Selenskyj einfühlsamen Strategin des Wirtschaftskrieges gegen Russland.
Von der Leyen hat bei ihrer Strategie übersehen, dass ein Embargo bei Öl Russland nur bremst, wenn weltweit die thermische Nutzung dieser Energieformen wirksam untersagt werden kann. Können Gas und Öl nicht genutzt werden, führt das zur Wertlosigkeit der Vorräte bei Öl und Gas, weil kein Markt für sie besteht, siehe dazu FAZ 11.7.22, „die andere Energiewende“. Eine Katastrophe für alle Ölländer.
Umgekehrt führt die Verknappung bei Öl und Gas durch ein Embargo oder Sanktionen beliebiger Art auf den dann gleichsam süchtigen Markt zu einer Erhöhung der Energiepreise.
Nicht zuletzt: Russland erreicht im ersten Halbjahr des Jahres 2022 bei Öl und Gas Spitzengewinne, das ist inzwischen Allgemeinwissen.
Saudi Arabien erhält von Russland erhebliche Mengen Öl etwa 30 Dollar unter dem Preis auf dem Weltmarkt, erzeugt damit seinen Strom und liefert so eingespartes Öl an europäische Staaten. Ähnlich verhält es sich bei Indien. Das sind durch die Sanktionen geschaffene, völkerrechtlich legale Win-win Geschichten, bisher haben die USA noch nicht reingegrätscht.
Deutsche Firmen kaufen zu überhöhten Preisen russisches Uralöl bei Saudi Arabien und Indien ein – je teuerer desto besser für die Preise bei erneuerbarer Energie.
Gewinner soll nach gemeinsamer Überzeugung der Bestimmer unter den Grünen die erneuerbare Energie sein, deshalb die ganze Übung. Was nicht rentabel für Unternehmer war, ist es aufgrund der hohen Preise für Gas und Öl geworden. Die Stunde der erneuerbaren Energie ist durch den Ukrainekrieg angebrochen.
Diese Chance darf der Philosoph und grüne Wirtschaftsminister Habeck nicht verspielen, selbst wenn der treuherzige Politiker dies alles weder vorausgesehen noch angestrebt hat. Manche nennen derartiges die Kraft des Bezüglichen. Ich bin misstrauisch. Wie ist es zu verstehen, dass die Grünen wider besseren Wissens die Lieferung von Gas und Öl durch Russland immer wieder infrage stellen? Um mit Frackingöl und Wiederinbetriebnahme von Kohlebergwerken „vorsorgen“ zu können, so tatsächlich die Verteuerung der Energie verstetigen? Warum beschimpft die Außenministerin Baerbock bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich ihren russischen Kollegen Lawrow und den Präsidenten Putin – um Verhandlungen vorzubereiten? Oder ist sie einfach naiv und ahnungslos? Russen lieben die Beschimpfung ihrer Politiker durch die deutschen Kollegen? Schön wäre es, wenn auch solche anzüglichen Fragen von Kleingeistern in den selbstbewussten Medien wie Fernsehen und Zeitungen wenigsten en passant beantwortet werden würden.
Wenn es nicht das kleine Wort „aber“ geben würde. Was geschieht, wenn das Embargo bei Öl und über dies auch bei Gas (vorerst nur von Litauen gefordert) zum 1.1.2023 von Deutschland durchgezogen wird? Öl wird es für die deutsche Wirtschaft dann nur noch und wenn überhaupt zu überhöhten Weltmarktpreisen und nicht zu den vor Jahren mit Gazprom langfristig ausgehandelten niedrigeren Preisen geben. Im Juni kostete das Gas in den USA 6,50 Dollar, in Europa aber 39 Dollar je Million britischer Wärmeeinheiten (Maßeinheit), FAZ 13.7.22. Weil Deutschland „sein“ preisgünstiges Gas und Öl bei Gasprom reduziert und dafür teureres auf dem Weltmarkt bei Ölstaaten wie Saudi Arabien geordert hatte.
Deutschland droht im kommenden Jahr noch mehr Ungemach. Dies in einem Umfang, wie es sich vielleicht nur ehemalige DDR-Bürger vorstellen können – die Herrschaft einer nunmehr grünen Bürokratie, die vieles plant, der aber wenig gelingt. Schon weil sich nicht nur die Energie verteuern, sondern auch das Geld verknappen wird. Im übrigen ist die Bürokratie ahnungslos, was eine staatliche Planwirtschaft unter marktwirtschaftlichen Bedingungen betrifft – bei den Chinesen werden die Grünen wohl zumindest nicht öffentlich um Amtshilfe bitten.
Nicht alle Löcher können in kommenden Jahren gestopft werden und dann welche. Das Geschrei der Leute, die den Krieg in der Ukraine aus Gerechtigkeitsgründen nicht vor einer Kapitulation Russlands beendet sehen wollen und sich in ihrem wieder aufgeflammten Russenhass derzeit nicht mehr einkriegen, wird ungeheuer sein.
Die Beschwörungen des sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer an die Bundesregierung, Frankreich und die USA, den Ukrainekrieg „einzufrieren“, verdienen keinesfalls die ihr in der gleichen Zeitung erwiesene süffisante Kommentierung sondern unser aller Aufmerksamkeit. Und keine säuerliche Belehrung nach dem Motto: Deutschland habe doch kaum etwas für die Ukraine getan, warum das Geschrei aus dem Osten?, FAZ vom 20. Juli 2022.
Deutschland wird diese Krise überwinden.
Die Politik der Grünen hat nicht die Unterstützung der Ukraine im Auge. Deshalb hat die ehemalige Friedenspartei auch keine Fragen danach, ob die deutsche Unterstützung den Ukrainern in ihrer Not hilft und wie der Verteidigungskrieg umgehend beendet werden kann. Mit dem Bellizisten Hofreiter an der Spitze wollen die Grünen eine forcierte Unterstützung der Ukraine mit Sanktionen, Geld und Waffen.
Sie nutzen den früher von ihr so verpönten altdeutschen Opfermut und Gerechtigkeitssinn der Deutschen für die grüne Ideologie einer Energiewende – ein solches strategische Vorgehen, genannt Kuppelungsgeschäft, hat Deutschland in seiner Geschichte nicht nur einmal erlebt.
Und richtig, wir müssen uns und vieles verändern, in erneuerbare Energien investieren, in unseren Ansprüchen kürzer treten, den Menschen in Afrika und Asien, wenn sie es denn wollen, helfen. Um den vielen Herausforderungen – Hunger, Dürre, Klima sind meine Stichpunkte – zu entsprechen.
Übernehmen wir doch die so deutsche Strategie der Grünen. Kuppeln wir die Antwort auf die vielen Herausforderungen mit der Forderung des Ostdeutschen Kretzschmer an die angeblich so Mächtigen in Berlin, Paris und Washington. Sie sollen den Krieg in der Ukraine einfrieren. Und wenn sie das bisschen nicht wollen oder können, dann sollen sie abtreten.
Für Deutschland heißt das Zauberwort: Neuwahlen – am Frauentag 2023 –
Der hellsichtige Redakteur eines deutschen Kultursenders hatte im Februar für die allabendliche Vorlesestunde Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ ausgewählt. Ob er bei der Planung ahnte, dass wieder einmal die Stunde eines Abschieds schlagen würde? Beim Hören der Erzählungen von Zweig jedenfalls fühlte ich mich immer wieder wie in einem Zeitsprung – unwiederbringlich Verlorengegangenes, Scherbenhaufen soweit das Auge reicht und über allem ein Wehmutsschleier. Im Rückblick erweist sich für den Wiener Autor als größter Verlust die schmerzhafte Einsicht, dass mit der Welt von gestern auch die Welt der Sicherheit, einer soliden historischen Bildung, der Verlässlichkeit und des Glaubens an Vernunft und Fortschritt untergegangen war.
Ich will einmal dahin gestellt sein lassen, ob wirklich der 24. Februar unseres Jahres 2022 das Datum ist, mit dem die Zeitenwende, das neue Abschiednehmen eingeleitet wurde. Wahrscheinlich hat der Zusammenbruch ja schon viel früher begonnen und wurde forciert von vielen Akteuren, keineswegs nur aus dem Kreml. Die offensichtliche Genugtuung, mit der jetzt eilfertig festgestellt wird, dass die Russen von Gegnern zu Feinden geworden sind, ist ein beklemmendes Indiz dafür.
Vergessen sind alle Bekenntnisse zu einer strategischen Partnerschaft, zu einer europäischen Friedensordnung nicht ohne oder gegen, sondern mit Moskau – waren sie am Ende nie sonderlich ernst gemeint? Halbherzige Heuchelei, weil es um ganz andere globale oder besser gesagt transatlantische Interessen ging, in denen kein Platz war für ein ökonomisch starkes und militärisch stabiles Europa von Lissabon bis Wladiwostok? Wie schnell erfolgte der Abschied von der Grundfeste deutscher Außenpolitik, auf die ich ehrlich stolz war „Keine Waffen in Krisengebiete“! Ein Prinzip nur für Zeiten schönen Wetters? Ich kann es nicht fassen.
Welche Perspektive hätte sich für die Ukraine als Brückenland zwischen West und Ost ergeben können! Besonnene Stimmen gab es genug, die die Entwicklung vor den Abgründen bewahren wollten, in die wir nun hineingestolpert sind. Sie sollten nicht gehört werden, statt dessen jetzt das dümmliche „Nie wieder“, wenn es um die Überwindung einer vermeintlichen Abhängigkeit von russischen Energieträgern geht. Oder die absurden Eliminierungen russischer Kultur aus dem öffentlichen Leben – wir sollten allen unseren neuen Freunden und Verbündeten unmissverständlich zu verstehen geben, dass hier die Grundlagen der viel beschworenen Wertegemeinschaft verletzt sind. Brechts Mahnung „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser“ bleibt sehr aktuell.
Ein Joke aus meiner Studentenzeit geht mir durch den Sinn: Was ist der Unterschied zwischen einem Internisten, einem Chirurgen und einem Pathologen? Der Internist weiß viel, aber kann wenig. Der Chirurg kann viel, aber weiß wenig. Der Pathologe weiß viel und kann viel, aber es hilft nichts mehr.
Beim Nachdenken über unseren verstorbenen Patienten, die europäische Nachkriegs- und Friedensordnung, fiel mir dieser Witz ein. Diese „Welt von gestern“ liegt nun auf dem Tisch des Pathologen, nachdem zuvor andere Ärzte – oft genug wie gesagt leider nur halbherzig – versucht hatten, ihr Überleben zu sichern. Nebenbei: dass einige von ihnen meinen, sich jetzt für ihre Therapien entschuldigen zu müssen, will mir überhaupt nicht einleuchten. Wo kämen wir hin, wenn ein Zahnarzt sich für seine konservative Behandlung entschuldigt, nur weil der Zahn am Ende doch gezogen werden muss. Nein, da fallen mir ganz andere ein, die sich entschuldigen müssten!
Wie auch immer – nun ist der Pathologe dran. Welche Todesursachen lassen sich feststellen? Können wir Einsichten gewinnen, um es künftig besser zu machen? Es ist wohl zu früh für Antworten auf diese Fragen – oder auch zu spät. Warnende Stimmen und Ereignisse gab es eigentlich genug, spätestens als nach dem Zerfall Jugoslawiens längst überwunden geglaubte nationalistische Leidenschaften und Demagogien triumphierten, von wo aus auch immer sie gesteuert wurden. Ich habe in jenen Jahren in Russland gelebt und ein Lebensgefühl wahrgenommen, das auf Plakaten in spontanen Demonstrationen gegen das NATO-Bombardement Ausdruck fand: „Heute Belgrad, morgen Moskau“. Offenbar wurde hier der Nährboden bereitet für eine Stimmung, die heute vernünftige Konfliktlösungen erschwert. Und die jetzt bei vielen zu einer resignierten Ohnmachtserfahrung führt wie auf dem Foto jener einsamen ukrainischen Demonstrantin, die ihr kleines, gelbblaues Plakat trug mit der Aufschrift „No Putin, No Nato“. Wie nahe fühle ich mich ihr. Mein Entsetzen über das Kriegsgeschehen kann ich darum nicht trennen von meiner Erschütterung über seine lange Vorgeschichte.
Aber noch einmal zurück zu Stefan Zweig. Sein Blick auf die „Welt von gestern“ ist geleitet von einer klugen und nüchternen Analyse auch des eigenen Standortes. Er macht sich keine Illusionen darüber, dass seine Trauer über den Untergang zugleich eine Trauer über das Ende einer privilegierten Existenz als begüterter und gebildeter Bürger in der immer maroder werdenden bürgerlichen Welt ist. Nun, beim Schreiben seiner Erinnerungen, ist er heimatlos geworden, abgeschnitten von allem, was ihm bisher Energie und Lebensfreude bereitet hatte. Zurückgeworfen auf die Grundeinsicht des Historikers vom Werden und Vergehen der Reiche dieser Welt. Und auf die Gewissheit, dass auch tragische Perioden in der Geschichte einmal zu Ende sein werden. Es fragt sich eben nur: um welchen Preis!
Zeitenwende, Abschied nehmen von liebgewordenen Zielen. Was kann das jetzt heißen? Wenn doch ein Fünkchen Vernunft übrig geblieben ist, dann wird das für den Kreml heißen müssen, Abschied zu nehmen von der Vorstellung eines mit militärischer Gewalt erzeugten „Cordon sanitaire“ rings um Russland. Das wird nicht funktionieren, dafür wird äußerstenfalls der Westen sorgen. Der wiederum sollte so schnell wie möglich alle Bemühungen einer dauerhaften Schwächung und Demütigung Russlands einstellen. Auch das wird nicht funktionieren, dafür ist das Land zu stark. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht schließlich, wenn unsere Medien zurückkehren würden zu einer ausgewogenen und differenzierten Berichterstattung, in der abweichende Meldungen und Meinungen nicht länger durch „Haltungsjournalismus“ (ich habe dieses fürchterliche Wort, das mich sehr an eine andere Welt von gestern erinnert, gerade lernen müssen!) unterdrückt oder nieder geredet werden.
Bei gutem Willen ist jeder Konflikt lösbar, auch die gegenwärtige Krise zwischen Russland und der Ukraine. Wie gesagt: bei gutem Willen. Dazu aber hilft wohl nur eine wirkliche Zeitenwende!
Da gibt es nach einer heutigen Erklärung des ukrainischen Botschafters Melnyk defätistische Pseudointellektuelle wie den Philosophen Precht, der mit Seinesgleichen zum sofortigen Waffenstillstand im Ukrainekrieg aufruft. Vom Aufruf habe ich gehört, gelesen habe ich ihn zwar noch nicht. Ich rechne mich dennoch schon jetzt zu den Defätisten.
Da gibt es die Grünen, die SPD und die CDU/CSU, die der Ukraine Geld und Waffen liefern und sie neben vielen Sanktionen mit einem Gasembargo quasi unbegrenzt weiterhin unterstützen wollen. Zumindest solange, bis die Ukraine aus eigener Entscheidung bereit ist, in Verhandlungen mit dem Aggressor Russland zur Beendigung des Krieges zu treten.
Ich stelle mir das so vor: Das Parlament der Ukraine (die Rada) und der ukrainische Präsident wissen, dass Europa und die USA den Verbündeten Ukraine finanziell, mit Waffen und Sanktionen auf Dauer unterstützen werden. Bis die Ukraine souverän entschieden hat, in Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges zu treten. Die scheinbar bedingungslose Unterstützung – Militär will die NATO nicht einsetzen – ist auch glaubhaft, weil schon seit längerer Zeit und immer mehr geliefert wird. Überdies sagt Europa/Deutschland den Wiederaufbau der Ukraine zu. Und da soll die Ukraine aufgeben? Wäre das nicht Defätismus?
Ich bin davon überzeugt, dass der tapfere ukrainische Präsident Selensky das Leben seiner Ukrainer schützen und das Beste für sein Land will. Er will vielleicht immer noch und sogar unverzüglich verhandeln. Kann er das aber überhaupt ?
Wie soll angesichts einer bedingungslosen umfangreichen Unterstützung aus den USA und Deutschland/Europa der beredte Präsident die Rada, die ausgehungerte Wirtschaft, die gierigen Oligarchen, die tapfere Armee und seine schwer geprüften Ukrainer mit den vielen Verlusten an Leib und Leben, ja sich selbst davon überzeugen, im Rahmen einer Verständigung auf nur einen Quadratmeter Land zu verzichten? Ohne als Defätist dazustehen, wie es schon jetzt Herr Melnyk bei Herrn Precht und Konsorten exerziert. Was wird Herr Melnyk seinem Präsidenten antun?
Hier beginnt aber auch die Heuchelei der westlichen Politiker mit Herrn Biden, Herrn Macron und Herrn Scholz an der Spitze. Sie wissen genau, dass der ukrainische Präsident vor der ukrainischen Öffentlichkeit mit Putins Russland einen Verständigungsfrieden – beispielsweise unter Abgabe der Krim – von sich aus nicht mehr vorschlagen und riskieren kann.
Wird das Ende des Krieges in der Ukraine mit einer Atommacht von Herrn Biden also überhaupt gewollt? Oder geht es um eine „Ermattung“ der Russen? Der USA-Experte Prof. Hacke hat das zuletzt in der Sendung Maischberger kritisch zum Thema gemacht, unsicher beäugt von Frau Maischberger. „Die USA bekämpfen Russland bis zum letzten Ukrainer“, zitiert der Journalist Küppersbusch einen amerikanischen Journalisten in der gleichen Sendung und überzeichnet so hoffentlich die wahre Lage der Ukrainer um einiges. Jedenfalls kann sich so Vietnam oder Afghanistan mit vielen toten Amerikanern nicht wiederholen, „denkt der Präsident“.
Glauben wir an das Gute im Menschen.
Deshalb fordere ich folgende Forderung an Kiew aus Berlin und erinnere den Bundeskanzler an seinen Amtseid:
Die Ukraine muss verhandeln und Verluste für die Beendigung des mörderischen und von Russland ausgegangenen Krieges akzeptieren, wenn sie weiter unterstützt werden will:
Verlust der Krim, eine neutrale Ukraine, keine Zugehörigkeit zur NATO.
Oder anders gesagt, die Ukraine ist souverän und kann entscheiden wie sie will – dann aber ohne Unterstützung und Anreize zum Durchhalten von außen.
Ich sehe keinen Grund dafür, dass meine Kinder, nein alle Deutschen leiden und sich Sorgen machen müssen, weil die Ukrainer nicht auf etwas verzichten wollen oder sollen, was de facto aus vielen Gründen – eine zweite lange Geschichte – schon 2014 verloren gegangen ist.
Reinhart Zarneckow
P.S. Wenn die NATO heute eine zweite Eiszeit – Demokratie gegen Autokratie – ausruft, wird sie die Bürger, die wegen der Erwärmung des Planeten durch CO2 in großer Sorge sind, damit auch nicht beruhigen.
„Man muss nicht zum Heiligen werden, um das eigene Leben, die eigene Freiheit und die seiner Lieben verteidigen zu dürfen. Und man wird nicht zum Teufel, wenn man – verbohrt und verführt, machtverstrickt und verirrt, dumm und in Böses verliebt – über die Freiheit, das Recht und das Leben des Nächsten herfällt. Man bleibt auch dann noch Mensch. Das ist unser Elend, und das ist unsere Würde.“ EKD-Vorsitzende Kurschus 08.06.2022 FAZ
Merke: auch Präsident Putin ist also ein Mensch. Und sind nicht sogar die Russen Menschen wie wir?
Ich denke an mein Leben in der DDR, den Alltag mit den „Waffenbrüdern“ und „Freunden“ – russische Uniformen, Militärfahrzeuge, süßlicher Parfümgeruch, Kinder in Schuluniformen, Mädchen mit ihren Zöpfen, die mit sogenannten Propellerschleifen zusammengehalten wurden.
Unser Geschirr schütterte, wenn russische Panzer unter ohrenbetäubendem Lärm an unseren Fenstern in der Rathenaustraße vorbeirollten. Ihre Ketten hinterließen kreideähnliche Spuren auf den Straßen. Es brauchte Wochen, ehe sie von Regen und Alltagsverkehr wieder beseitigt waren.
Bild: s00.yaplakal.com
Es herrschte eine besondere Form friedlicher Koexistenz zwischen Russen und Deutschen. Man nahm sich wahr, hatte nicht viel miteinander zu tun. Die russische Garnison hatte ihr Eigenleben, ein eigenes Krankenhaus, eigene Kindergärten und Schulen.
Wir deutschen Kinder wagten manchmal eine Mutprobe, wenn wir Uniformierte mit den Worten „Kamerad Emblem“ um ein Abzeichen baten. Nicht selten kam ein abwehrendes „niet“ als Antwort. Einige blieben aber auch stehen, überlegten welches der Abzeichen sie entbehren könnten, lösten es von ihrer Uniform und schenkten es uns.
Die Versorgungslage in der DDR war nicht rosig. Es war ärgerlich, wenn die Offiziersfrauen begehrte Waren vor der Nase wegkauften. Konsterniert und erbost war ich, als mir an einem heißen Sommertag eine Russin eine Wassermelone aus dem Einkaufskorb nahm, zur Kasse ging, bezahlte und verschwand. Ob sich meine energische Schwester das hätte gefallen lassen? Ich jedenfalls, vielleicht neun Jahre alt, war sprachlos. Bekam das Schuhgeschäft in der Rathenau- Ecke August-Bebel-Straße Ware, waren die Offiziersfrauen allzu oft schon vor uns dort. Die Schuhe wurden gleich angezogen und die alten im Papierkorb vor dem Geschäft entsorgt.
Russisch war ab der fünften Klasse Unterrichtsfach. Als ob das nicht genug gewesen wäre, sollte man auch Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft werden. Meine Erklärung vor der Klasse, mein Onkel sei viele Jahre im russischen Internierungslager gewesen, ich müsse das ablehnen, wurde schweigend angehört. Unsere Russischlehrerin, Frau M., eine respekteinflößende ca. 1.85 m große Frau mit dunkler Stimme, behielt mich einige Zeit später nach dem Unterricht zurück. Die freundliche Unterredung endete mit meiner Mitgliedschaft in der DSF. Über den monatlich zu zahlenden Beitrag ärgerte ich mich jedesmal. Nach der Wende erzählte Frau M. meiner Mutter, dass sie in Greifswald von dem Pfarrer Dietrich Zarneckow konfirmiert worden war. Sie hatte erfahren, dass ich seinen Sohn geheiratet hatte.
Brieffreundschaften mit Schülern der Sowjetunion waren ein großes Thema. Jeder sollte und wollte einen Brieffreund oder – Freundin haben. So sollte von Staats wegen die Bindung zu den russischen Freunden gestärkt und Sprachkenntnisse verbessert werden. Das war bestimmt nicht die schlechteste Idee unserer Genossen. Bei einigen verliefen die Briefwechsel im Sande. Bei anderen hielten sie ewig.
Bei Herrn Gurck, einem Orchestermitglied des Frankfurter Kleisttheaters, hatten meine Schwester und ich Klavierunterricht. Oft im Turmzimmmer auf dem Theatergelände. Genauso oft aber auch in der gelben Kaserne in der Bebelstraße, von 1945-1991 das Haus der russischen Offiziere (heute Sprachzentrum der Europa-Universität Viadrina). Hier stand ein alter, ziemlich verstimmter Flügel, den wir nutzen durften. Ohne jegliche Kontrolle und völlig selbstverständlich betraten und verließen wir die Kaserne, meist mit einem „Strastwuitje“ (guten Tag). War der große Raum gerade besetzt, räumten Offiziere oder Soldaten sofort für uns das Feld. Klaviernoten gab es kaum zu kaufen. Mit Pionier- und FDJ Liedern natürlich schon. Unsere Mutter hatte für uns noch Noten aus ihrer Kindheit, einfache Kinder- und Volkslieder. Herr Gurck stieß auf dieses russische Notenbuch, dessen Stücke wir durchaus mochten.
dritte und vierte EtüdeKlavierschule
Was wir immer wieder beobachteten und meinen Eltern besonders leid tat, war der Drill blutjunger, russischer Soldaten, die fern der Heimat, abgeschottet vom Leben, in den Kasernen ihren Dienst tun mussten. Man sah und hörte sie eigentlich nur, wenn sie, oft bei größter Hitze, Dauerläufe mit langen Hosen und schweren Stiefeln absolvierten. Was innerhalb der Kasernen geschah, das wusste niemand.
Es gab in Frankfurt mehrere Russenmagazine. Zu gern gingen wir Kinder dort einkaufen. Süßigkeiten natürlich. Während der Fleischstand nicht gerade appetitlich wirkte, roch es in der Obstabteilung im Sommer nach reifen Früchten. Wir interessierten uns aber nur für das russische Konfekt. Es lag lose in Warenkörben, nach Sorten getrennt. Jedes Stück dieser Köstlichkeiten war in buntes Papier gewickelt, mit einem Bild darauf. Ich erinnere mich an das eines Braunbären. Dabei dachte ich an das russische Märchen: Mascha und der Bär. Bezahlt wurde bei einer akkurat gekleideten und gepflegten, unnahbar wirkenden Dame. Sie schob an einer Art Rechenmaschine (Abakus) schwarze und helle Kugeln in rasanter Geschwindigkeit von A nach B, hin und her, vor und zurück, mal in der oberen Reihe, mal eine Reihe tiefer, bis sie auf diese geheimnisvolle Weise zu einem Ergebnis gekommen war.
Was gibt es noch zu erzählen: Als die Russen 1945 nach Frankfurt kamen, quartierten sich Offiziere in Häuser der Deutschen ein, die sich dann eine andere Bleibe suchen mussten. So auch in das der Familie Schlenz in der Leipziger Straße. Karl Schlenz war der Bruder meiner Großmutter. Um das Haus im Auge zu haben und auch sonst ein wenig nach dem Rechten zu sehen, ging seine Frau Lenchen mit ihrer Tochter fast täglich in das Haus und sorgte für Ordnung. Die kleine Heidemarie spielte gerne mit einem leeren Puppenwagen. Ihre erste Puppe legte ihr ein russischer Offizier in den Wagen. Es war eine ausgestopfte Eule. Später bekam sie von ihm eine richtige Puppe. Sie hieß Katja. Die Frau des Offiziers und ihre Kinder, zwei Jungen etwa 4 und 5 Jahre alt, haben sie auf diesen Namen getauft.
Ob das nun alles Russen waren, von denen ich hier berichtet habe, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Höchst wahrscheinlich waren darunter auch Georgier oder Letten, Tataren oder Ukrainer. Alle wurden „Sowjets“ oder ganz offiziell sowjetische Freunde genannt. Bestimmt waren aber alle Menschen.
Ich blicke zurück auf den Dezember des Jahres 2021: Es gab noch keinen Krieg in der Ukraine, meine Mutter lebte noch. Die Welt war in Ordnung. Oder nicht? Für mich war sie es.
Anfang des Monats bekam ich eine WhatsApp von unserem Freund Christoph Ehricht mit dem Hinweis auf ein Konzertwochenende im Mai in Peenemünde, organisiert vom Usedomer Musikfestival. Eingeladen zum 20. Geburtstag der Friedenskonzerte waren die New Yorker Philharmoniker. Wir beschlossen an einem der Konzerte gemeinsam teilzunehmen. So saß ich am 11.12.2021 am Computer und erwartete ein wenig angespannt die Freischaltung des Kartenvorverkaufs, die wirklich Punkt 9.00 Uhr erfolgte. Einige Klicks und ich hatte für Reinhart und mich Karten im Warenkorb. Hui, nicht gerade preisgünstig, aber wir sparten ja die Reisekosten nach New York, hatten Christoph und ich uns zuvor beruhigt.
Noch immer spüre ich bei solchen Ereignissen meine Prägung durch die DDR. Die Möglichkeit, derartige Konzerte besuchen zu können, ist für mich, und das Gefühl werde ich mir hoffentlich bewahren, eine beglückende Besonderheit. Keine Selbstverständlichkeit. Genau wie meine sechs Udo Jürgens Konzerte, die ich immer als ein Wunder ansah und während mancher Melodie glaubte, inmitten eines Traums zu sein. Verrückt und unglaublich schön!
Wir hatten uns für das erste Konzert am Freitag mit dem Pianisten Jan Lisiecki entschieden. Vor Beginn sahen wir uns das Gelände mit dem alten Kraftwerk an. Es ging 1942 in Betrieb und versorgte die Heeresversuchsanstalt (HVA) mit Strom, in der die erste funktionsfähige Großrakete Aggregat 4 (später V2 genannt) unter Wernher von Braun entwickelt und getestet wurde. Die HVA war bis 1945 das größte militärische Forschungszentrum Europas. Auf einer Fläche von 25 km² arbeiteten 12000 meist Zwangsarbeiter gleichzeitig an Waffensystemen, die im 2. Weltkrieg eingesetzt wurden und Vorläufer von heute eingesetzten Raketen im Ukrainekrieg sind. Das alte Kraftwerk wurde nach dem Krieg als einziges Gebäude nicht gesprengt, zu DDR-Zeiten weiter zur Stromerzeugung genutzt und beherbergt seit 1991 das Historisch-Technische-Museum sowie einen Konzertsaal.
Aggregat 4Walter-Schleuderim Turbinensaal
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Was traf an dem Wochenende auf diesem historischen Grund nicht alles zusammen?!
Die New York Philharmonics, 106 Orchestermitglieder, die nach drei Jahren coronabedingter Pause erstmals wieder in Europa zusammen auftraten.
Ihr Dirigent Jaap van Zweden – Niederländer.
Die Solisten: Anne-Sophie Mutter (Violine) – Deutsche.
Jan Lisiecki (Klavier) – in Kanada geborener Sohn polnischer Eltern.
Thomas Hampson (Bariton) – Amerikaner.
Und ein internationales Publikum.
Jan Lisiecki
Um in den Konzertsaal zu gelangen, gingen wir Freunde der Musik erst einmal geordnet durch das Kesselhaus, über eine Treppe in das Maschinenhaus. Vorbei an Maschinen – Zeugen längst vergangener Zeiten, die einst hier ihren Dienst taten.
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Die Atmosphäre war beeindruckend. 1200 Menschen mit und ohne Maske (die wegen Covid 19 verhängte Maskenpflicht war aufgehoben) stiegen über eine Metalltreppe und dann durch eine Art Luke in den Turbinensaal. Sofort stand man vor dem Orchesterpodest, auf dem die New York Philharmonics bereits ihre Instrumente stimmten.
Ein paar Fotos, dann den Platz gesucht und einfach nur alles in sich aufnehmen:
Die Europapremiere von Nina Shekhars Komposition „Lumina“ – ein Stück, in dem elf Minuten lang die Sonne aufgeht.
Mein Lieblingsstück an diesem Abend das Klavierkonzert Nr. 5 von Ludwig van Beethoven, gespielt von Jan Lisiecki. Beethoven komponierte dieses Klavierkonzert 1805 in einer Zeit als Napoleons Truppen Wien belagerten und auch sein Wohnviertel dort unter Artilleriebeschuss stand.
Nach einer Pause dann die Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op.70 von Dimitri Schostakowitsch. Der Komponist sollte die siegreiche Beendigung des Zweiten Weltkrieges „musikalisch kommentieren“, so der Auftrag von der KPdSU. Schostakowitsch: „Aber in einem Krieg mit zig Millionen Toten gibt es doch eigentlich nur Verlierer.“
Dass ausgerechnet Schostakowitsch gespielt und nicht aus dem Programm genommen wurde, empfand ich als ein wohltuendes, starkes Zeichen ganz im Sinne dieser Friedenskonzerte. Am Schluss – tosender Beifall, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt habe.
Man sagt so einfach: Die New Yorker Philharmoniker gastierten in Deutschland, im Kraftwerk von Peenemünde, spielten Beethoven, Previn und Schostakowitsch. Aber es ist doch wie ein Jahrhundertereignis, an dem wir teilhaben konnten und das uns begeistert und sehr beeindruckt hat. Ich möchte es jedenfalls vor dem Hintergrund des groteskerweise als Zeitenwende bezeichneten derzeitigen Weltgeschehens so sehen.
Und ich muss noch dies im Hinblick auf die sich aneinanderreihenden Weltereignisse gestehen: Reinhart und ich verlebten anschließend ein wunderbares Restwochenende in Zinnowitz bei schönstem Strandwetter und gutem Essen, bevor wir am Montag wieder nach Hause zurückkehrten.