Geschichten aus der Rathenaustraße – Fortsetzung I Methnerstraße

Aufgrund meines Beitrages „Geschichten aus der Rathenaustraße“, Bettina Zarneckow, 16. Mai 2021, hatte ich bei Facebook vor einigen Tagen aufgerufen, mir ähnliche Erinnerungen zu senden, um sie vielleicht zu veröffentlichen. Den nicht ohne große Anteilnahme zu lesenden Bericht ihres vor wenigen Tagen verstorbenen Vaters Horst Kaczmarek hat mir seine Tochter Lona Nacke zugesandt. Ich werde ihn in mehreren Fortsetzungen veröffentlichen.

Bericht Horst Kaczmarek – Teil 1

Horst Kaczmarek (Foto privat)

„Die Rote Armee rückte immer näher auf Frankfurt zu. Der Wehrmachtsbericht meldete ständig Frontbegradigungen. An einen Endsieg glaubte in der Bevölkerung schon lange niemand mehr. Außer mir! Ich war gerade mal 16 Jahre alt und durch die Schule und die Hitlerjugend so manipuliert, dass ich mir gar nichts anderes als einen Sieg vorstellen konnte. Wer eine andere Meinung hatte und am Endsieg zweifelte, war ein Volksverräter, und der wurde mit dem Tode bestraft.

JANUAR 1945

Die Stadt Frankfurt (Oder) befand sich schon in einem Ausnahmezustand. Überall sah man Soldaten und Kriegsgerät, Schützengräben wurden eingerichtet, Straßensperren aufgebaut. Über die Oderbrücke zog ein nichtendenwollender Strom von Flüchtlingen seine Bahn, Pferdewagen, hoch beladen mit Hausrat und Gerätschaften. Auf manchen Wagen saßen obenauf alte Leute, die nicht mehr laufen konnten und weinende, kleine Kinder, die diese Welt und das, was da geschah nicht verstanden, angesteckt von der Angst der Erwachsenen.

Alle flohen vor der Front, vor der Roten Armee, von der Schreckensbilder gezeichnet wurden. Nicht alle Flüchtlinge hatten das Glück, einen Pferdewagen zu haben. Viele waren zu Fuß unterwegs und hatten nur einen Koffer oder einen Rucksack bei sich. Die meisten hatten kein Ziel vor den Augen. Sie wussten noch nicht einmal, wo sie die kommende Nacht verbringen konnten.

Am 27. Januar 1945 wurde die Stadt Frankfurt von Adolf Hitler zur Festung erklärt. Damit hatte die Wehrmacht das Sagen in der Stadt. Es war geplant, die Stadt für die Rundumverteidigung vorzubereiten und als Deckung für Berlin zu nutzen. Post und Zeitungen wurden nicht mehr zugestellt. Lebensmittel kaufen, war Glückssache, man musste wissen, wo noch ein Geschäft geöffnet war. Der Schulunterricht in Frankfurt war zuvor schon unregelmäßig erfolgt, da es den Schulen, unter anderem an Kohlen zum Heizen mangelte.

Am 4.Februar begann, auf Befehl des Festungskommandanten Biehler die Räumung der ersten Stadtteile. Wir, das waren meine Mutti und ich, bereiteten uns nun auch auf die bevorstehende Evakuierung vor. Vati war zu dieser Zeit dienstverpflichtet und musste in Oranienburg in einer Munitionsfabrik arbeiten.

Jeden Tag bin ich, mit einem Fernglas ausgerüstet, auf den Dachboden gestiegen. Von dort konnte man weit über die Oder schauen. Ich sah den Kleistturm am anderen Ufer der Oder und manchmal auch Flugzeuge der Luftwaffe, die in Richtung Osten flogen. Es waren Ju 87, sogenannte Sturzkampfbomber, die versuchten den Vormarsch der Roten Armee zu stoppen. Eines Tages ging ich wieder auf den Dachboden und was musste ich sehen, oder besser nicht sehen?: Der Kleistturm war weg, einfach nicht mehr da. Die Soldaten der Wehrmacht hatten ihn gesprengt, weil er eine Orientierungshilfe für die Rote Armee sein könnte. Das bedeutete aber auch, dass die Front immer näher an die Stadt Frankfurt heran rückte. Das Leben in der Stadt wurde immer gefährlicher. Immer öfter konnte man die Detonationen von Granateinschlägen in bedenklicher Nähe hören.

Kleistturm

DIE EVAKUIERUNG

Es war Ende Februar, als der Befehl kam, dass alle Zivilisten die Stadt zu verlassen haben. Es herrschte das Kriegsrecht. Dem Befehl war also unbedingt Folge zu leisten. Auf dem Güterbahnhof, in der Hindenburgstraße stand ein Zug bereit. Unser Koffer war ja bereits gepackt und somit konnten wir auch gleich gehen. Es war ein eigenartiges und beklemmendes Gefühl. Werden wir gesund wiederkommen? Was wird der Krieg aus unserem Zuhause machen? Aber auf diese Fragen gab es keine Antwort. Mit uns kam noch unsere langjährige Nachbarin, Frau Malengrio, für mich Tante Liesbeth. Ihr Mann, für mich Onkel Walter, durfte die Stadt nicht verlassen. Er war für die Verteidigung der Festung vorgesehen.

Also machten wir uns zu dritt, mit schwerem Herzen und zusammen mit vielen anderen Frankfurtern, als Flüchtlinge auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Am Güterbahnhof angekommen mussten wir verschiedene Kontrollpunkte passieren. Dort wurde noch einmal kontrolliert, ob man wirklich berechtigt sei, die Festung zu verlassen oder ob man sich drücken wolle, die Festung zu verteidigen. Der letzte Kontrollpunkt war mit zwei Mann besetzt. Einem Zivilisten und einem Leutnant. Der Zivilist nahm meinen Ausweis rechnete kurz nach: Im Jahre 1928 geboren, bis 1945 sind 17 Jahre, also wehrpflichtig! Mir rutschte das Herz in die Hose. Der Leutnant nahm den Ausweis und sagte: “Aber erst am 6. November 28 geboren, also noch 16 Jahre alt und somit noch nicht wehrpflichtig.”

Wer hatte nun recht?

Da man sich nicht einig wurde, brachte man mich zur Dienststelle, die für die Durchführung der Evakuierung zuständig war. Man hörte sich den Fall an und entschied kurz: 16 Jahre, nicht wehrpflichtig. Der Junge hat die Stadt unverzüglich zu verlassen. Damit war der Fall geregelt. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Jetzt rannte ich, so schnell ich konnte, zurück zum Bahnhof. Der Zug stand noch da, mit meiner überglücklich Mutter darin. Irgendwann wurde es draußen lebhaft, laute Stimmen gaben etwas Unverständliches bekannt, eine Trillerpfeife ertönte und dann setzte sich der Zug mit unbekanntem Ziel in Bewegung. Nach etwa vier Stunden Fahrzeit und vielen Zwischenstopps hatten wir unser Ziel erreicht. Es war Hennigsdorf bei Berlin. Wir wurden schon erwartet. Ein ganzes Heer von Helfern stand bereit, um uns in unsere Quartiere zu begleiten.

HENNIGSDORF

Für uns war ein Zimmer im Obergeschoß eines Einfamilienhauses vorgesehen. Wir wurden dort nicht gerade freundlich empfangen, obwohl der Herr des Hauses ein Parteiabzeichen trug. Da Mutti und Tante Liesbeth unbedingt zusammen bleiben wollten, hatten sie einen Bedarf für drei Personen angegeben. In dem Zimmer waren jedoch nur zwei Betten. Mutti reklamierte das sofort. Die Antwort kam auch prompt: “Liebe Frau, wir haben Krieg und da muss jeder Opfer bringen. Dort in der Ecke steht ein Liegestuhl, das ist das dritte Bett” Ende der Diskussion . Das war nun für eine unbestimmte Zeit unsere Wohnung und der Liegestuhl mein Bett.

Der Tag war lang und aufregend. Wir bereiteten uns gerade auf die Nachtruhe vor, als wir im Radio Folgendes hörten: “Achtung, Achtung, eine Luftlagemeldung: ein feindlicher Bomberverband ist im Anflug auf den Südwesten unserer Hauptstadt.” Diese Information kam über Drahtfunk. Das war für uns neu. Wer einen Telefonanschluss hatte, konnte mit einem Rundfunkgerät, das über den Langwellenbereich verfügte die Luftlagemeldungen für die Stadt Berlin abhören. Nun erkannten wir auch, dass wir aus einem Gebiet mit relativ wenig Fliegeralarm, in ein Gebiet gebracht wurden, indem Fliegeralarm zur Tagesordnung gehörte. Jetzt kam aber erst mal eine Nacht, in der ich für Führer, Volk und Vaterland in einem Liegestuhl schlafen musste.

Na dann Gute Nacht auch!“

Fortsetzung folgt

4 Gedanken zu “Geschichten aus der Rathenaustraße – Fortsetzung I Methnerstraße

  1. Rosemarie Biegon

    Interessant für mich den Ablauf der Evakuierung zu lesen. Denn meine Eltern durften am 3. Februar 1945 Frankfurt nicht verlassen Sie hatten eine Fleischerei und dienten somit der Versorgung der uebriggebliebenen Bevölkerung. Es war wahrlich keine Freudenzeit. Aber Evakuierung und in der Fremde…….

    Gefällt 1 Person

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