Frau Merkel, die parlamentarische Demokratie und die Macht

Wenn sie es denn überhaupt wünschten, habe ich meinen Kindern gerne Märchen zum Einschlafen erzählt. Sie hatten fünf Begriffe zu nennen, ich hatte eine Geschichte mit ihnen zu bilden. Es wurde penibel gezählt, alle Begriffe mussten in der Geschichte auftauchen. Natürlich kam es auf den Wahrheitsgehalt der Geschichten nicht so an, deshalb nannte ich sie Märchen. Und sie waren genauso wahr wie alle Märchen.

Damit bin ich bei meinen heutigen Begriffen angekommen: Verzeihung, Impfstoff, Chile, Ausgehverbot und Mutanten.

Am Mittwoch, den 24.3. diesen Jahres entschuldigte sich Frau Merkel bei ihrem Volk, bat um Verzeihung und entmachtete so ganz nebenbei ihre Ministerpräsidenten. Weil sie alleine die Letztverantwortung für eine lebenswichtige Entscheidung trage, die zwei Tage zuvor von der Ministerpräsidentenkonferenz unter ihrem Vorsitz getroffen worden war. Sie zog den Vorschlag der Konferenz, mehr war es eigentlich gar nicht, für zwei Ruhetage vor Ostern im Kampf gegen die Pandemien 1 und 2 angeblich ersatzlos zurück. Und wer die Letztverantwortung trägt, braucht andere nicht zu fragen. Die Landesfürstinnen und die Landesfürsten (!) beeilten sich, ihre Mitverantwortung zu beteuern. „Ersatzlos zurück“ ist im übrigen nett gesagt, weil die Sache ein dickes Ende hat.

Der Kanzleramtschef und Arzt Helge Braun wies auf eine ganz gemeine Zwickmühle hin: Wenn parallel zum Impfen die Infektionszahlen rasant steigen, wächst die Gefahr, dass die nächste Virus-Mutation immun wird gegen den (vorhandenen) Impfstoff.

In Chile deutet sich so ein Desaster an. Mehr als ein Drittel der 19 Millionen Chilenen sind mindestens einmal geimpft, jeder Achte sogar zweimal. Dennoch explodieren die Zahlen. Vergangene Woche waren es täglich 7000. Umgerechnet auf Deutschland mit seinen gut 83 Millionen Einwohnern wären das ca. 31000 Erkrankte am Tag. Der chilenische Epidemiologe Jaime Cerda benennt einige Gründe. Einer davon lautet, dass Mutanten im Umlauf sind, auf “welche die Impfungen weniger gut ansprechen”. Wenn also in Deutschland ein Drittel der Bevölkerung oder 27 Millionen geimpft worden sind, muss sich noch gar nicht allzu viel verbessert haben.

Und damit komme ich auf mein “angeblich” aus dem von der mächtigen Frau Merkel zurückgezogenen Vorschlag mit dem dicken Ende zurück. Am gestrigen Montag hat sie in einer Fernsehsendung bei einer gewissen Frau Will nachgeschärft und dem Publikum die weitere Entmachtung der Landesfürsten, wenn diese notwendiges aus Sorgen um die Macht partout nicht wollen oder können, erläutert. Angesichts täglich steigender Zahlen geht es nicht um die Rücknahme von Lockerungen, sondern um weitere schnelle Schritte zur Eindämmung von Infektionen, verursacht durch die Covidmutanten.

Ihre ultimativen Forderungen sind begründet. Die Quelle der meisten Infektionen ist der private Bereich. Also ist ein nächtliches Ausgehverbot für alle, und vorerst auf wenige Wochen begrenzt, nicht zu umgehen. Die Arbeitgeber haben in den Großbetrieben Schnelltests zu organisieren, genauso wie die Länder für die Schulen und die Flughafengesellschaften für ihre Fluggäste. Was ist nun das Märchenhafte an dieser Geschichte? Eine Bundeskanzlerin hat den Landesfürsten, nein auch den Landesparlamenten ein Ultimatum gestellt. Die Lage scheint ernst, aber nicht hoffnungslos.

Reinhart Zarneckow

Keine Mitläuferin – kein einfaches Leben?

Ich bin die große Schwester der „Mitläuferin“ Bettina Zarneckow (Eine Mitläuferin-hier im Blog). Mein Name ist Camilla Klich. Ich hatte mich nie damit abgefunden, eingesperrt im Arbeiter- und Bauernstaat zu leben. Die Konzerte von Bob Dylan und von Bruce Springsteen nicht live sehen zu können, nicht unter Palmen liegen zu können und im 26 Grad warmen Meerwasser zu schwimmen, nicht Pepsi Cola trinken zu können. Ich sammelte Ansichtskarten aus jedem Winkel der Welt. Auf eine Ansichtskarte war ich besonders stolz. Sie stammte aus Südafrika. Für Politik interessierte ich mich wenig.

Wir haben Freunde in San Francisco. Das Ehepaar war 1976 bei uns zu Besuch. So lernte ich fleißig Englisch. Ich glaube, ich war recht gut, und so konnte ich ihre Briefe auch für die ganze Familie leicht übersetzen und mühelos antworten. Mein Berufswunsch war Lehrerin für Deutsch und Englisch. Fast allen aus meiner Klasse wurde ein Direktstudium verweigert. Die Jungen konnten ein Studium nach 3 jähriger Armeezeit antreten. In der Regel aber erhielten im besten Fall nur diejenigen einen schnellen Zugang ohne Umwege zu den Hochschulen, die ihre sozialistische Grundeinstellung und Parteikonformität nachweisen (oder glaubhaft vortäuschen) konnten. Also erhielten nur die beiden Mitschüler, die den Lehrerberuf in der Fächerkombination mit Staatsbürgerkunde ergreifen wollten, eine Zulassung zum Direktstudium.

Da das Reisen schon immer ein Faible von mir war, arbeitete ich im Reisebüro. Parallel lernte ich für ein Studium weiter Englisch an der Volkshochschule. Die Sommermonate waren toll. Da kamen die Touristen aus dem NSW, wie wir Reisebüroleute es nannten – die Touristen aus dem Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftssystem. Ich war aufgeschlossen und begierig, Neuigkeiten aus dem Ausland zu erfahren und sicherlich auch naiv, jedenfalls nahm ich kein Blatt vor den Mund und schilderte ihnen im Gespräch offen die Verhältnisse, unter denen ich in der DDR lebte. Bei dieser Gelegenheit lernte ich eine Frau aus Schweden kennen. Wir freundeten uns an. Sie besuchte mich. Wir fuhren nach Rostock und Warnemünde.

Mit der Personalchefin im Reisebüro hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Karin reagierte verständnisvoll, war immer bereit, sich meine Sorgen anzuhören, gab Ratschläge als ich mich (vergeblich) zum zweiten Mal für ein Lehrerstudium beworben hatte. Sie war selbst eine überzeugte Genossin und linientreue DDR-Bürgerin und versuchte mich zu überzeugen, in die SED einzutreten. Das kam für mich nicht infrage. Im Fernsehen sah ich vor allem „Westsender“. Ich verabscheute die Sendung „Der schwarze Kanal“ von und mit Karl Eduard von Schnitzler im DDR Fernsehen.

Dann kam am 9.11.1989 die Wende mit dem Mauerfall. Unmittelbar darauf verkündete Karin im Büro etwas zu lautstark, dass sie nicht gedacht hätte, wie viele Lügen die DDR-Regierung erzählt hätte und wie komfortabel die Oberen der SED in der Siedlung Wandlitz gewohnt hätten usw. Ich wusste gleich, dass sie das nicht ernsthaft meinte, glaubte ihr nicht.

Der Tag, als ich einen Einblick in meine Stasi-Akte erhielt: Ich arbeitete gerade in Berlin, als ich eine Aufforderung bekam, mich in der Stasi-Unterlagen-Behörde (BstU) zu melden. Ich dachte, was werden schon für Unterlagen über mich existieren. Nach meiner Schulzeit bestand die DDR ja nur noch 3 Jahre. Dann kam schon die Wende. Ich hatte mich getäuscht. Eine Dame brachte einen Rollwagen, der mit Akten vollgepackt war. Ich fand Aufzeichnungen über meine Kindheit. Das Kennenlernen mit meiner schwedischen Freundin wurde beschrieben. Die Kopie ihres Notizbuchs mit Adressen in Schweden und Dänemark fand ich vor. Wie war die Staatssicherheit nur daran gekommen?

Die Stasi hatte alle Nachbarn in unserem Haus über meine Schwester Bettina und mich ausgefragt. Welches Autos unsere Familie und der Bruder meiner Mutter fuhren. Über die Besuche einer Freundin meiner Mutter aus Kaiserslautern, das Treffen mit Freunden aus San Francisco. All meine in Englisch geschriebenen Briefe nach San Francisco fand ich maschinegeschrieben und sorgfältig übersetzt.

Ich wurde systematisch von drei Kolleginnen ausspioniert. Die erste war die damalige Leiterin der Zweigstelle des Reisebüros im jetzigen Oderturm in Frankfurt (Oder). Die andere Kollegin war Christel. Harmlos. Sie hat mich nie ausgefragt. Und die dritte Kollegin war Karin. Sie schrieb in allen Einzelheiten, was ich ihr in den 3 Jahren erzählt hatte und bewertete mich. Zum Beispiel, dass ich ein behütetes Kind war und meine Eltern mir jeden Wunsch erfüllten. Sogar der genaue Preis eines teuren Strickkostüms und einer Hose, die ich gekauft hatte, waren angegeben. Dazu noch ihre Anmerkung: „Viele Lebensmittel kauft die B. im Intershop und verspeist diese bei der Arbeit z. B. Joghurt beim Frühstück“. (B. wegen meines Mädchennamens Biegon) Tatsächlich war mein Vater Rentner, der nach Westberlin fahren durfte und uns immer etwas mitbrachte.

Ich erfuhr nun auch, warum ich immer Absagen zum Studium erhielt. Karin schrieb in einem Bericht, dass ich noch keinen „gefestigten Klassenstandpunkt“ hätte, ich im Grunde alles studieren würde, um etwas aus mir zu machen. Außerdem weigere ich mich beharrlich, in die SED einzutreten. Und dann der Satz: „Zu B. besitze ich gute persönliche Verbindungen, die ausbaufähig sind“.

In meiner Stasi-Akte stand auch, dass ich eine Jugendtouristreise nach Jugoslawien beantragt hatte, man wollte überprüfen, ob ich „Fluchtgedanken“ hätte. Zu diesem Zwecke schickte man einen Radiomoderator zu uns. Wir kannten ihn. Er wohnte auch in der Heinrich-Zille-Straße uns gegenüber und sollte das „abklopfen“. Als Grund seines Kommens gab er an, Informationen über unser Radioverhalten einholen zu wollen. Ich war misstrauisch und stellte meinerseits Fragen. „Von ihrer Mutter ängstlich gebremst“ vermerkte er deshalb in seinem Bericht. Er brach das „Interview“ ab und verabschiedete sich. Sein Auftauchen bei uns fand ich bedenklich. Alle Berichte wurden als „glaubwürdig“ gegengezeichnet. Von Oberstleutnant G., Major W., Hauptmann M.
Welch ein Aufwand für nichts.

Das ist jetzt 32 Jahre her. Ich war inzwischen in vielen Ländern. Unter anderem in den USA, hier San Francisco und Los Angeles. In Irland, in der Normandie, Griechenland und England …. Als das Flugzeug auf dem Flughafen in San Francisco landete, konnte ich nicht sprechen, so überwältigt war ich. Unsere Freunde holten uns ab.
Ich hörte das „Kling, kling“ der Cable Cars, von dem sie mir immer geschrieben hatten, sah die Golden Gate Bridge, besuchte die ehemaligen Gefangeneninsel „Alcatraz“, machte einen Bummel durch China-Town. – Erst jetzt erfuhr ich aus ihren Tagebuchaufzeichnungen, dass sie 1976 bei ihrer Einreise von der Stasi befragt wurden, welchen Grund ihr Besuch bei uns hätte, wie lange sie bleiben würden usw. – In Los Angeles war ich unter anderem in Beverly Hills, Santa Monica und in Hollywood.

Ich bin mit mir im Reinen. Das Leben hat es gut mit mir gemeint. Lehrerin für Deutsch und Englisch bin ich nicht geworden. Aber ich habe meinen Arbeitsplatz in der Europa-Universität Viadrina in meiner Geburtsstadt Frankfurt(Oder) gefunden und arbeite mit Studenten zusammen. Die Wende kam noch rechtzeitig.

Camilla Klich

DLK-Foto 1982

SCOUBIDOU

In Berlin am Dom, gleich neben dem Eingang, saßen Anna und Lauri und bastelten Scoubidouandenken. Kleine Plastikbänder in wunderschönen Farben. Hübsche Armbändchen, süße Herzchen mit besonders viel Rot, Schlüsselanhänger. Touristen belagerten sie. Sie kauften ihnen alles ab.

Ein Maschinenbauer kam. Er prahlte: „Drei Tage benötige ich, um eine Maschine zu entwickeln, die Scoubidoubänder herstellt.“

Tatsächlich saß dieser Maschinenbauer drei Tage später neben den knüpfenden Kindern. An seiner Seite hatte er einen Koffer mit der konstruierten Maschine. Auf dem Schoß bediente er einen Laptop. Seine Finger tippelten fast so schnell an dem Rechner, wie die flinken Kinder flochten. Aus einer kleinen Öffnung neben dem Koffergriff kroch ein geknotetes Scoubidou-Bändchen hervor. Nach und nach wurde es länger. Schließlich fiel es herunter. „Ein Schlüsselanhänger“ rief er laut den Touristen zu. Schon zeigte sich ein neues Bändchen im Loch.

„Ich möchte gern eine Mütze aus diesem Material haben.“ Mit dem Zeigefinger wies ein älterer Mann auf seine Glatze. „Verstehe“, sagte der Mann. Dann setzte er sich großspurig auf und tönte laut: „Eine Woche benötige ich, um eine Maschine zu entwickeln, die Scoubidou – Mützen herstellt.“

Nach einer Woche saß der Maschinenbauer wieder bei den knüpfenden Kindern. Neben ihm stand eine Holzkiste, in welcher sich mehrere käferähnliche Roboter befanden, vielleicht fünf an der Zahl. Aus ihren kleinen Leibern ragten gebogene drahtähnliche Fortsätze hervor. Wie kleine Beinchen bewegten sie sich.

Wieder tippte der Mann etwas in seinen Computer ein und schon flochten die kleinen Automaten mit den Plastikfäden. Blitzschnell entstanden mehrere Scoubidouanhänger. Sofort verbanden sie diese zu einer Fläche. Schließlich lag auf einem Brettchen eine modische kunterbunte Baskenmütze aus Plastik. Der Mann setzte sie auf. Sie passte ihm und sie stand ihm gut. Lautstark lobte der Maschinenbauer seine Erfindung.

Die kleinen Maschinchen arbeiteten weiter und weiter. Immer schneller wurden die Fäden zusammengewunden. „Es reicht“, sagte der Mann mit der Baskenmütze. Er wollte gerade gehen, da bemerkte er, dass dem Maschinenbauer der Schweiß auf der Stirn stand. Heftig tippte dieser in den Laptop. Der Laptop aber reagierte nicht.

„Meine Maschine lässt sich nicht anhalten.“ Verzweifelt sah er um sich.

Unterdessen machten die kleinen Maschinenkäfer weiter. Eine Mütze nach der anderen entstand, in Windeseile. Plötzlich knoteten sie nur noch an einer Fläche. Bald war der Bürgersteig mit einer bunten Plastikdecke bedeckt. Die Menschen auf der Straße applaudiert. Dann wurde der Maschinist eingeknotet – zusammen mit seinem Laptop. Die Umstehenden lachten. Jemand wollte ihm helfen. Auch dieser wurde sofort mit verknotet. Nun wichen die Zuschauer zurück.

Inzwischen hatten die kleinen Maschinenkäferchen den Dom erreicht. Dieser riesige Dom. Sofort begannen die kleinen Automaten am Fundament. Als die Feuerwehr mit ihrem Tatütata eintraf, war der Dom bereits halb angezogen. Ein Feuerwehrmann stieg auf die große Leiter. Er wollte eine der Käfermaschinen greifen, doch da wurde er selbst auch schon samt Leiter in ein buntes Scoubidou gewoben. Ja, sogar das große rote Feuerwehrauto gleich mit. Und dessen grelle Warnleuchten strahlte nun ein buntes Partylicht.

Wieselflink die kleinen Automaten. Der Dom war nun von unten nach oben und bis in die Turmspitze hinein bunt geschmückt. Der ganze Dom – ein einziges Scoubidou. Dann ging es über auf die umstehenden Bäume. Auch sie wurden bunt beflochten. Am Ende leuchtete jedes einzelne Blatt in den fröhlichsten Farben. Ein kleiner Märchenwald am Dom. Dann die Brücke. Die Pfeiler, die gebogenen Geländer, die kunstvollen Lampen – binnen Minuten war auch das alles scoubidös und glänzte weithin sichtbar. Das Wasser der Spree fing an, bunt zu schillern. Die Fische, die kleinen wie die großen, zeigten sich in Scoubidouanzügen. Am gegenüberliegenden Ufer bedienten die Kellner ganz in Scoubidou gekleidet. Die Tische, die Stühle, dann die Gäste, der Kaffee, der Kuchen – statt mit Zuckerguss alles in Scoubidou. Selbst die Zinken der Kuchengabeln wurden beknotet – jede einzeln, nacheinander und in rasendem Tempo.

Immer weiter flochten die kleinen Roboterkäferchen. Weiter und weiter und schneller und schneller. Über die Häuser, die Straßen und Plätze, immer weiter. Und wer still ist, mucksmäuschenstill, der kann sie sogar hören.

Aus dem Buch „Märchen und Geschichten“ ausgedacht und aufgeschrieben von Karl-Ludwig von Klitzing „Für meine Enkel und alle anderen kleinen und großen Kinder“

Bilder Peter Sottmeier

Aus der Geschichte lernen? Eine Plauderei über ein ewiges Thema.

Ehrlich gesagt war ich gespannt, wie und ob der 150. Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar im gesellschaftlichen Diskurs des heutigen Deutschland eine Würdigung oder ein Erinnern erfahren würde. Die öffentliche Aufmerksamkeit hielt sich dann in den zu erwartenden Grenzen. Im Deutschlandfunk gab es ein Interview mit dem Bismarck-Biographen Christoph Nonn zum Jubiläum, in der ZEIT diskutierte Heinrich August Winkler mit Hedwig Richter. Einige weitere Beiträge könnten hier erwähnt werden, die meisten lassen sich jedoch zusammenfassen unter der sich immer wiederholenden Frage: War das 1871 gegründete Kaiserreich eine Keimzelle des modernen, demokratischen Deutschland oder des autoritären und nationalistischen Führerstaates, der zum Glück im Mai 1945 untergegangen ist? Dahinter mag die leidige Diskussion darüber stehen, ob das Dritte Reich ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte war oder eine zwangsläufige Folge von Fehlentwicklungen, denen nicht rechtzeitig der gebotene Widerstand entgegengesetzt wurde.

Eine leidige Diskussion? Ja, denn das Bemerkenswerte an den auszutauschenden Argumenten ist: es kann keine eindeutigen Antworten geben, sowohl die eine wie die andere Position kann durchaus Gründe für ihre Berechtigung ins Feld führen. Hier liegt die bleibende Wahrheit des berühmten Programmsatzes von Leopold von Ranke aus seiner Vorrede zu den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 – 1535“ von 1824: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen. So hoher Ämter unterwindet sich vorliegender Versuch nicht; er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“

Nicht die Vergangenheit richten, kein Versuch pädagogischer Nutzbarmachung der Geschichte, statt dessen zeigen, wie es wirklich war – das ist das bestechende Programm des Historismus. Neben Ranke ist vor allem Johann Gustav Droysen aus dem pommerschen Treptow an der Rega mit dieser historiographischen Schule verbunden, Friedrich Meinecke hat nach einem komplizierten Weg der Erkenntnis eine immer noch lesenswerte Darstellung geschrieben. Ich nenne diese Namen, weil sie sehr zu Unrecht immer mehr in Vergessenheit geraten.

Die Stärke des Historismus – die Befreiung von der Versuchung durch „Geschichtspoltik“ – ist zugleich seine Schwäche: die Relativierung aller möglichen historischen Erkenntnisse. Nebenbei: Einmal mehr bestätigt sich hier, dass wir bei der Betrachtung der Wirklichkeit oder auch bei der Beurteilung von Menschen in unserer Nähe nicht unterscheiden sollten zwischen Stärken und Schwächen. In der Regel sind die Stärken zugleich auch die Schwächen – und umgekehrt. Mir ging diese Lebensweisheit gerade während des Niederschreibens dieser Überlegungen durch den Sinn beim Nachdenken über den Jubilar dieser Tage, Michael Gorbatschow. Aber wie gesagt: das nur am Rande! Jedenfalls zunächst.

Ob das Ziel Rankes „zu zeigen wie es wirklich gewesen“ erreicht werden kann, bleibt freilich eine offene Frage. Am Bemühen darum sollten Historiker dennoch nicht sparen. Die Erzählungen von der Reichsgründung vor 150 Jahren sind selber ein beredtes Zeugnis dieser Herausforderung. Schnell wird sichtbar: Welcher der möglichen Positionen für die Deutung ich mich anschließe, hängt weniger von den zu bedenkenden historischen Fakten ab, als viel mehr von den Faktoren und Prägungen, die meine Sicht auf die Geschichte bestimmen. Geschichte verläuft nicht nach einlinigen Ursache-Wirkung-Mechanismen, sondern immer vielschichtig, komplex und nicht selten chaotisch. Wenn ich aus ihr lernen will, muss ich zuerst nach mir fragen, nach meinen Interessen, Erfahrungen und Hoffnungen. Das kann mich vor fruchtloser Rechthaberei bewahren und vor Polarisierungen, die ein Feind aller Lernprozesse sind.

Aus der Geschichte, oder besser aus der Betrachtung der Geschichte kann ich eigentlich nur lernen, dass es keinen „Alleinvertretungsanspruch“ auf historische Wahrheit gibt. Das entbindet mich natürlich nicht von der Pflicht zu eigener Urteilsbildung. Aber es lässt mich duldsamer und geduldiger mit anderen Urteilen umgehen, vielleicht auch unbefangener und selbstbewusster mit eigenen Positionen.

Duldsamkeit und Geduld: Mich bekümmert und besorgt in der gegenwärtigen Lage mit am meisten, dass ich nicht selten in Gesprächen zu hören bekomme: Ich werde nicht sagen, was ich wirklich denke, weil ich keine Lust habe, mich dann niedermachen zu lassen. Das ist schade und gefährlich. Sicher muss sich, wer so denkt und redet, fragen lassen, ob das Problem mehr in seinen unausgesprochenen Gedanken als in den darauf zu erwartenden Reaktionen liegt. Aber dennoch: wenn der Druck einer vermeintlich korrekten öffentlichen Meinung zu stark wird, öffnen sich irgendwann unkontrollierbare und ungewollte Ventile.

O weh, bin ich mit diesem letzten Satz nun selber der Verführung aufgesessen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen „zum gegenwärtigen Nutzen“? Ja. Und natürlich lässt sich das nicht vollständig vermeiden. Zum Hineintappen in eine Falle wird es nur, wenn ich nicht weiß, was da geschieht und nicht besonnen damit umgehe, wenn ich das Wissen um die Grenzen und Vorläufigkeit meiner Erkenntnisse verdränge.

Aber nun will ich doch noch einmal zurückkehren zum Jubiläum der Reichsgründung. Neue historische Erkenntnisse kann und will ich hier selbstverständlich nicht vorlegen, wohl aber in Beherzigung des bisher Gesagten eine Art Rechenschaft darüber ablegen, was mich bewegt, wenn ich an dieses Datum denke. Im Erleben vieler Zeitgenossen bewirkte die Reichsgründung vor allem einen starken und lange ersehnten Modernisierungsschub. Der Spagat zwischen Bewahrung und Erneuerung gelang alles in allem erstaunlich gut. Das reiche Erbe der „Gründerjahre“ in einer Stilepoche, die auch unter dem Oberbegriff Historismus firmiert und Kunst, Musik, Dichtung und Architektur in einer großen Spannbreite vereint, hat bis heute nichts an beeindruckender Schönheit verloren. Es war die Wiege einer Kultur, die Hanns Eisler einmal beschrieben hat „Untergang des Abendlandes, gewiss. Aber welch ein Abendglanz!“

Durchaus mit neidvoller Sehnsucht betrachte ich manches Zeugnis dieses selbstbewussten bürgerlichen Geistes. Er erlaubte dem neuen Reich auch eine mich heute sehr nachdenklich stimmende Außenpolitik, für die der Reichskanzler Bismarck und sein Rückversicherungsvertrag steht – der stete Versuch, die geographische Mittellage des neuen Reiches auch für eine politische Mittlerrolle zwischen Ost und West zu nutzen, ein Gleichgewicht der Mächte in der Mitte Europas zu konstruieren und zu erhalten und jede einseitige Bindung zu vermeiden. Jedenfalls war das die Idee des Dreikaiserbündnisses, das einige Krisen in den siebziger und achtziger Jahren entschärfen konnte, am Ende aber leider gescheitert ist. Gescheitert an seinen Stärken, die zugleich seine Schwächen waren und die ich hier in dieser Plauderei einmal auf sich beruhen lassen will. Es gibt ja genügend Erzählungen darüber. Über einen Vergleich mit dem Scheitern des schon erwähnten Michael Gorbatschow in unseren Tagen lohnte sich übrigens ein ruhiges Nachdenken…

Hinterher ist man immer klüger – vielleicht ist diese Binsenweisheit die einzige Lehre, die wir wirklich aus der Geschichte ziehen können. Jetzt, hinterher wissen wir, dass die Abkehr von der auf Ausgleich und gegenseitige Bändigung zielenden Politik Bismarcks in die Abgründe der Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt hat. Rechtzeitiger Widerstand gegen Machtpolitik, säbelrasselnde Rhetorik, allerlei Verlogenheiten und gegen die Dominanz ökonomischer Interessen wäre geboten gewesen.

Und wieder muss ich aufseufzen o weh. Werden spätere Generationen, wenn sie noch Gelegenheit dazu haben, uns am Ende fragen, warum wir damals, also heute nicht klüger gewesen sind? Warum wir so gelähmt dem Ausheben der neuen Schützengräben eines seine Auferstehung feiernden Kalten Krieges zugesehen haben? Die Verpflichtungen ignorierten, die uns unser geographischer und historischer Standort auf den Weg gibt? Wo blieben Duldsamkeit und Besonnenheit?

Christoph Ehricht

https://www.zeit.de/2021/02/deutsches-kaiserreich-kaiser-wilhelm-autoritaet

DIE ZEIT 6 / 2021 Kommentare Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. 2 Bde. 1936