Aus der Geschichte lernen? Eine Plauderei über ein ewiges Thema.

Ehrlich gesagt war ich gespannt, wie und ob der 150. Jahrestag der Reichsgründung am 18. Januar im gesellschaftlichen Diskurs des heutigen Deutschland eine Würdigung oder ein Erinnern erfahren würde. Die öffentliche Aufmerksamkeit hielt sich dann in den zu erwartenden Grenzen. Im Deutschlandfunk gab es ein Interview mit dem Bismarck-Biographen Christoph Nonn zum Jubiläum, in der ZEIT diskutierte Heinrich August Winkler mit Hedwig Richter. Einige weitere Beiträge könnten hier erwähnt werden, die meisten lassen sich jedoch zusammenfassen unter der sich immer wiederholenden Frage: War das 1871 gegründete Kaiserreich eine Keimzelle des modernen, demokratischen Deutschland oder des autoritären und nationalistischen Führerstaates, der zum Glück im Mai 1945 untergegangen ist? Dahinter mag die leidige Diskussion darüber stehen, ob das Dritte Reich ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte war oder eine zwangsläufige Folge von Fehlentwicklungen, denen nicht rechtzeitig der gebotene Widerstand entgegengesetzt wurde.

Eine leidige Diskussion? Ja, denn das Bemerkenswerte an den auszutauschenden Argumenten ist: es kann keine eindeutigen Antworten geben, sowohl die eine wie die andere Position kann durchaus Gründe für ihre Berechtigung ins Feld führen. Hier liegt die bleibende Wahrheit des berühmten Programmsatzes von Leopold von Ranke aus seiner Vorrede zu den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 – 1535“ von 1824: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen. So hoher Ämter unterwindet sich vorliegender Versuch nicht; er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen.“

Nicht die Vergangenheit richten, kein Versuch pädagogischer Nutzbarmachung der Geschichte, statt dessen zeigen, wie es wirklich war – das ist das bestechende Programm des Historismus. Neben Ranke ist vor allem Johann Gustav Droysen aus dem pommerschen Treptow an der Rega mit dieser historiographischen Schule verbunden, Friedrich Meinecke hat nach einem komplizierten Weg der Erkenntnis eine immer noch lesenswerte Darstellung geschrieben. Ich nenne diese Namen, weil sie sehr zu Unrecht immer mehr in Vergessenheit geraten.

Die Stärke des Historismus – die Befreiung von der Versuchung durch „Geschichtspoltik“ – ist zugleich seine Schwäche: die Relativierung aller möglichen historischen Erkenntnisse. Nebenbei: Einmal mehr bestätigt sich hier, dass wir bei der Betrachtung der Wirklichkeit oder auch bei der Beurteilung von Menschen in unserer Nähe nicht unterscheiden sollten zwischen Stärken und Schwächen. In der Regel sind die Stärken zugleich auch die Schwächen – und umgekehrt. Mir ging diese Lebensweisheit gerade während des Niederschreibens dieser Überlegungen durch den Sinn beim Nachdenken über den Jubilar dieser Tage, Michael Gorbatschow. Aber wie gesagt: das nur am Rande! Jedenfalls zunächst.

Ob das Ziel Rankes „zu zeigen wie es wirklich gewesen“ erreicht werden kann, bleibt freilich eine offene Frage. Am Bemühen darum sollten Historiker dennoch nicht sparen. Die Erzählungen von der Reichsgründung vor 150 Jahren sind selber ein beredtes Zeugnis dieser Herausforderung. Schnell wird sichtbar: Welcher der möglichen Positionen für die Deutung ich mich anschließe, hängt weniger von den zu bedenkenden historischen Fakten ab, als viel mehr von den Faktoren und Prägungen, die meine Sicht auf die Geschichte bestimmen. Geschichte verläuft nicht nach einlinigen Ursache-Wirkung-Mechanismen, sondern immer vielschichtig, komplex und nicht selten chaotisch. Wenn ich aus ihr lernen will, muss ich zuerst nach mir fragen, nach meinen Interessen, Erfahrungen und Hoffnungen. Das kann mich vor fruchtloser Rechthaberei bewahren und vor Polarisierungen, die ein Feind aller Lernprozesse sind.

Aus der Geschichte, oder besser aus der Betrachtung der Geschichte kann ich eigentlich nur lernen, dass es keinen „Alleinvertretungsanspruch“ auf historische Wahrheit gibt. Das entbindet mich natürlich nicht von der Pflicht zu eigener Urteilsbildung. Aber es lässt mich duldsamer und geduldiger mit anderen Urteilen umgehen, vielleicht auch unbefangener und selbstbewusster mit eigenen Positionen.

Duldsamkeit und Geduld: Mich bekümmert und besorgt in der gegenwärtigen Lage mit am meisten, dass ich nicht selten in Gesprächen zu hören bekomme: Ich werde nicht sagen, was ich wirklich denke, weil ich keine Lust habe, mich dann niedermachen zu lassen. Das ist schade und gefährlich. Sicher muss sich, wer so denkt und redet, fragen lassen, ob das Problem mehr in seinen unausgesprochenen Gedanken als in den darauf zu erwartenden Reaktionen liegt. Aber dennoch: wenn der Druck einer vermeintlich korrekten öffentlichen Meinung zu stark wird, öffnen sich irgendwann unkontrollierbare und ungewollte Ventile.

O weh, bin ich mit diesem letzten Satz nun selber der Verführung aufgesessen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen „zum gegenwärtigen Nutzen“? Ja. Und natürlich lässt sich das nicht vollständig vermeiden. Zum Hineintappen in eine Falle wird es nur, wenn ich nicht weiß, was da geschieht und nicht besonnen damit umgehe, wenn ich das Wissen um die Grenzen und Vorläufigkeit meiner Erkenntnisse verdränge.

Aber nun will ich doch noch einmal zurückkehren zum Jubiläum der Reichsgründung. Neue historische Erkenntnisse kann und will ich hier selbstverständlich nicht vorlegen, wohl aber in Beherzigung des bisher Gesagten eine Art Rechenschaft darüber ablegen, was mich bewegt, wenn ich an dieses Datum denke. Im Erleben vieler Zeitgenossen bewirkte die Reichsgründung vor allem einen starken und lange ersehnten Modernisierungsschub. Der Spagat zwischen Bewahrung und Erneuerung gelang alles in allem erstaunlich gut. Das reiche Erbe der „Gründerjahre“ in einer Stilepoche, die auch unter dem Oberbegriff Historismus firmiert und Kunst, Musik, Dichtung und Architektur in einer großen Spannbreite vereint, hat bis heute nichts an beeindruckender Schönheit verloren. Es war die Wiege einer Kultur, die Hanns Eisler einmal beschrieben hat „Untergang des Abendlandes, gewiss. Aber welch ein Abendglanz!“

Durchaus mit neidvoller Sehnsucht betrachte ich manches Zeugnis dieses selbstbewussten bürgerlichen Geistes. Er erlaubte dem neuen Reich auch eine mich heute sehr nachdenklich stimmende Außenpolitik, für die der Reichskanzler Bismarck und sein Rückversicherungsvertrag steht – der stete Versuch, die geographische Mittellage des neuen Reiches auch für eine politische Mittlerrolle zwischen Ost und West zu nutzen, ein Gleichgewicht der Mächte in der Mitte Europas zu konstruieren und zu erhalten und jede einseitige Bindung zu vermeiden. Jedenfalls war das die Idee des Dreikaiserbündnisses, das einige Krisen in den siebziger und achtziger Jahren entschärfen konnte, am Ende aber leider gescheitert ist. Gescheitert an seinen Stärken, die zugleich seine Schwächen waren und die ich hier in dieser Plauderei einmal auf sich beruhen lassen will. Es gibt ja genügend Erzählungen darüber. Über einen Vergleich mit dem Scheitern des schon erwähnten Michael Gorbatschow in unseren Tagen lohnte sich übrigens ein ruhiges Nachdenken…

Hinterher ist man immer klüger – vielleicht ist diese Binsenweisheit die einzige Lehre, die wir wirklich aus der Geschichte ziehen können. Jetzt, hinterher wissen wir, dass die Abkehr von der auf Ausgleich und gegenseitige Bändigung zielenden Politik Bismarcks in die Abgründe der Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt hat. Rechtzeitiger Widerstand gegen Machtpolitik, säbelrasselnde Rhetorik, allerlei Verlogenheiten und gegen die Dominanz ökonomischer Interessen wäre geboten gewesen.

Und wieder muss ich aufseufzen o weh. Werden spätere Generationen, wenn sie noch Gelegenheit dazu haben, uns am Ende fragen, warum wir damals, also heute nicht klüger gewesen sind? Warum wir so gelähmt dem Ausheben der neuen Schützengräben eines seine Auferstehung feiernden Kalten Krieges zugesehen haben? Die Verpflichtungen ignorierten, die uns unser geographischer und historischer Standort auf den Weg gibt? Wo blieben Duldsamkeit und Besonnenheit?

Christoph Ehricht

https://www.zeit.de/2021/02/deutsches-kaiserreich-kaiser-wilhelm-autoritaet

DIE ZEIT 6 / 2021 Kommentare Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. 2 Bde. 1936

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