Erneutes Nachdenken über Wirtschaftskriege

Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff haben eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihrer Studie über Geschichte und Gegenwart von Wirtschaftskriegen veröffentlicht. Meine Erlebnisse bei der Lektüre der ersten Ausgabe aus dem Jahr 2019 habe ich hier im September 2021 geschildert. Nun will ich gerne auch Anteil geben an meinen Eindrücken beim Lesen des neuen Buches.

Die deutsche Fassung ist nach einer englischen vom Sommer 2022 offenbar zum Jahreswechsel 2022 / 2023 fertig gestellt und gewiss nicht zuletzt durch die aktuellen Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 veranlasst worden. Das Buch hat über 100 Seiten dazu gewonnen, aus der Gliederung in 5 Kapitel sind jetzt 10 geworden. Die gute Lesbarkeit und die Zielstrebigkeit von Gedankenführung und Argumentation haben dadurch vielleicht ein wenig an Kraft verloren. An der Grundkonzeption haben die beiden Autoren jedoch nichts verändert. Meine frühere Würdigung wie auch meine Fragen behalten also ihre Gültigkeit, jedenfalls aus meiner Sicht.

Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

Auch das schöne Zitat aus Goethes Faust wurde übernommen: „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“ (S. 15). Allerdings muss ich ein wenig darüber grübeln, warum die sehr einleuchtende Anwendung dieses Leitmotivs aus der ersten Ausgabe nicht Eingang in die Überarbeitung gefunden hat: „Leider lässt sich tatsächlich ein großer Teil der Weltgeschichte als zeitlich und sachlich enger Zusammenhang von Krieg, Handel und Piraterie erzählen und erklären.“ (dort S. 10)

Vielleicht verbietet sich diese Sicht der Dinge für die Autoren, weil für sie seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine grundsätzlich veränderte Beurteilung der Wirklichkeit unumgänglich geworden ist: „Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Demokratien und Autokratien wird besser verstanden, die Zerbrechlichkeit vieler Produktions- und Lieferketten kommt zu Bewusstsein, und die Sensibilität für eigene Abhängigkeiten von nichtbefreundeten Mächten wächst. … Die westlichen Demokratien sehen ihre systemischen Rivalen und die Globalisierung mit anderen Augen. Ob sie aus dem so Erkannten auch die richtigen Schlüsse ziehen, bleibt abzuwarten.“ (S. 14) Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass nach meiner Überzeugung aus einem Welt- und Wirklichkeitsbild, das in „unüberbrückbaren“, also – wie es die zum Glück doch eigentlich überwundene Propagandasprache der marxistisch-leninistische Geschichtspolitik genannt hätte – „antagonistischen“ Gegensätzen denkt, selten die richtigen Schlüsse gezogen werden können. Immer gibt es neben Schwarz und Weiß die vielen Nuancen des Grau.

Meine Lektüre der Neuausgabe des Buches war geleitet von der Frage, ob es zu neuen Erkenntnissen helfen würde, die für eine Urteilsbildung über den Ukraine-Konflikt von Belang sein könnten. An verschiedenen Stellen wird der Werdegang des Konfliktes referiert, etwa im Abschnitt „Der Wirtschaftskrieg des Westens mit Russland“ (S. 56 ff.) Ich will das hier gar nicht kommentieren. Eine differenziertere Schilderung, die auch die russische Sicht und Wahrnehmung der Entwicklungen seit 2001 einbezieht, wäre aus meiner Sicht wünschenswert. Sie wird aber sicher erst mit größerem zeitlichem Abstand möglich sein. Einige Überlegungen dazu sind in meiner früheren Besprechung des Buches zu lesen.

Gegenwärtig stellt sich für die beiden Autoren vorrangig die Frage, ob die nach dem offensichtlichen Bruch des Völkerrechts durch den russischen Angriffskrieg seit dem 24.2.22 vom Westen eingeleiten Sanktionsmaßnahmen gerechtfertigt sind und Erfolg versprechen. Dazu lesen wir die eindeutige Antwort: „Die ergriffenen Wirtschaftssanktionen richten in Russland massiven Schaden an, sie sind für die Erreichung der westlichen Wirtschaftskriegsziele wirksam und steigern die Aussicht darauf, dass Moskau von seiner Aggression ablässt, und sie waren und sind trotz erheblicher Kosten die beste verfügbare Option.“ (S. 164)

Allerdings wird auch nicht verschwiegen: „Die westliche Koalition hat die Ziele ihres Wirtschaftskrieges gegen Russland nicht abschließend definiert. … Die ukrainischen Bedingungen könnten zum Beispiel der Rückzug der russischen Truppen weit hinter die eigene Staatsgrenze, Sicherheitsgarantien, Schadenersatz, Reparationen und die Bestrafung russischer Kriegsverbrecher einschließen. Bis zum Erreichen dieser Ziele könnten also westliche Wirtschaftskriegsmaßnahmen ganz oder teilweise fortgesetzt werden. Außerdem erscheint auf unabsehbare Zeit, die sich vermutlich eher nach Jahrzehnten bemisst, die strukturelle wirtschaftliche und technologische Schwächung Russlands geboten, solange sich dort kein durchgreifender Wandel vollzieht.“ (S. 154 f.)

Im abschließenden Teil des Buches unter der Frage „Was tun?“ wird dieser Gedanke aufgenommen und als eigene Empfehlung der beiden Autoren konkretisiert: „Russland muss nun zunächst und möglichst für immer beigebracht werden, dass es seine Lage durch militärische Gewaltanwendung nur verschlimmern kann. Danach mag es wieder zum Handelspartner und Rohstofflieferanten des Westens werden. Allerdings wird sich das geschwächte Russland in Zukunft wirtschaftlich wohl vor allem nach Asien orientieren, und man wird es dort vermutlich entsprechend einhegen, um den internationalen Frieden zu schützen. Es läge allerdings nicht im westlichen Interesse, sollte China in Russlands Fernem Osten unternehmerisch vordringen und darüber hinaus die gesamtrussische Infrastruktur instand halten und managen, denn das brächte Peking noch näher vor EU-Europas Tür. Russland soll sich China gegenüber behaupten können. Auch darum wird nach dem Ende des Ukrainekrieges ein gewisses Maß an westlicher Zusammenarbeit mit Russland nötig sein.“ (S. 281)

In diesen Sätzen wird ein dreifaches Problem deutlich. Zum einen verlassen die Autoren das Genus einer differenzierten wissenschaftlichen Analyse mit den Werkzeugen des Historikers und des Wirtschaftsethikers und öffnen sich einer politischen Programmatik. Wahrscheinlich ist dieser Wechsel in der bedrängenden aktuellen Situation unumgänglich. Wäre darauf verzichtet worden, hätte dies ebenso zu kritischen Nachfragen geführt. Aber klug beraten sind wir, wenn wir uns nüchtern den Vorbehalt vor Augen führen, dass für viele Überlegungen die Zeit noch nicht reif ist.

Zum anderen wird hier aber auch ein westliches Denken deutlich, das nun selbst nicht unwesentlich zum Konflikt beigetragen hat. Als ich die zitierten Sätze las, dachte ich: Um Himmels willen, hoffentlich liest das keiner in Moskau. Denn es ist auf russischer Seite ja genau dieses propagandistisch ausgenutzte, aber eben wie man sieht nicht völlig unbegründete Gefühl, das mit zu dem gegenwärtigen Desaster geführt hat: Der Westen will uns zähmen und schwächen und uns allenfalls gönnerhaft und widerwillig als Rohstofflieferanten akzeptieren. Und leider ist dieses Denken ja keineswegs erst seit dem 24.2.22 bestimmend.

Dafür gibt es viele, an anderen Stellen genügend aufgeführte Beispiele, ich komme später auf zwei von ihnen darauf zurück. Hier will ich nur noch einmal an die gelinde gesagt halbherzigen Bemühungen des Westens erinnern, zur Umsetzung der Minsker Friedensabkommen beizutragen, die ja keineswegs nur an Moskau gescheitert ist. Wohl eher im Gegenteil. Nebenbei: auch Minsk I und II waren geltendes Völkerrecht, das gebrochen worden ist. Und es hat in der ganzen Zeit bis zum Kriegsausbruch auch in Kiew andere politische Kräfte und Bewegungen gegeben, die einen Interessenausgleich mit dem russischen Nachbarn eher näher gerückt hätten als die Politik der Regierung, die von vornherein immer nur auf die Zusage der militärischen Unterstützung der NATO vertraut hat und auf die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste. Mich hat immer irritiert, dass diese anderen Stimmen aus Kiew in unseren Medien nie zu hören waren.

Und drittens: Nachdenklich im Blick auf die Positionierung des Westens stimmt mich in der zitierten Passage die Sorge, entgegen dem westlichen Interesse käme am Ende eine ungewollte Stärkung Chinas heraus. Es wäre ja tatsächlich nicht das erste Mal, dass das Fehlen einer von wirklicher Staatskunst und von historischer Bildung getragenen Politik zu Ergebnissen führt, die schlimmer sind als der ursprünglich bekämpfte Zustand – genügend Beispiele dafür stehen uns beklemmend und ernüchternd vor Augen. Und – wieder nebenbei zu den Risiken und Nebenwirkungen: Ob Polen wirklich auf Dauer glücklich bei der Vorstellung ist, dass nach einer nachhaltigen Schwächung Russlands nun ausgerechnet die Ukraine die neue Supermacht im östlichen Mitteleuropa wird, erscheint mir doch eher fraglich. Oder gibt es womöglich ein Interesse daran, ähnlich wie in Versailles 1919 eine Nachkriegsordnung zu errichten, die den Keim neuer Kriege schon in sich trägt?

Aber noch einmal zurück zu unserem Buch. Mit geschärftem Blick und – ich will es gleich vorweg nehmen – mit dem größten Erkenntnisgewinn habe ich jetzt noch einmal den Abschnitt über „Die Zusammenhänge von Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen“ gelesen, der im wesentlichen, nur unter einer neuen Überschrift aus der ersten Ausgabe übernommen wurde. Geschärft war mein Blick durch die Frage, ob der russische Angriff auf die Ukraine auch durch eine verfehlte Handels- und Wirtschaftspolitik des Westens begünstigt worden ist, mit anderen Worten, ob das Programm „Wandel durch Handel“ gescheitert oder am Ende von vornherein verfehlt gewesen ist. Viele Anklagen und Schuldbekenntnisse vor allem deutscher Politiker weisen in diese Richtung, ich konnte sie bisher immer nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Aber wie steht es nun wirklich um Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen?

Ich will zur Antwort auf diese Frage einen längeren Abschnitt aus dem Buch zitieren, in dem die Autoren eine Studie über Großmachtkonflikte von Dale Copeland aus dem Jahr 2015 referieren, „die dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Interdependenz und militärischen Auseinandersetzungen nachgeht“ (S. 165). Wiedergegeben werden die Ergebnisse der Untersuchungen von Copeland über Kriegsursachen in der Vergangenheit. Wir können beim Lesen aber immer wieder an Russland, die Ukraine und den Westen in der Gegenwart denken:

„Ausschlaggebend für den Entschluss zum Konflikt sei nicht der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen gewesen, sondern die Sorge der politischen Führer um die nationale Sicherheit. Für das Verständnis dieser Sorge kommt es entscheidend darauf an zu verstehen, dass wirtschaftliche Interdependenz eben immer auch Dependenz bedeute, das heißt die Abhängigkeit von weiterhin günstigen Handels- und Investitionsbedingungen und dem Zugang zu Rohstoffen. … Der Friede bleibe solange erhalten, wie die jeweils schwächere Macht die Hoffnung darauf behalte, dass sich das Handels- und Investitionsklima verbessern werde. Bei diesbezüglichem Optimismus stünden die Opportunitätskosten eines Krieges im Vordergrund, die durch Friedfertigkeit vermieden werden können; bei Pessimismus hingegen setzten sich die Sorgen über die Anpassungskosten der verschlechterten Wirtschaftsbeziehungen durch und trieben zum Krieg. Auf das aktuelle Niveau des Handelsaustauschs komme es nicht entscheidend an. Zusätzlich gebe es ein Handel-Sicherheits-Dilemma. Es beruhe im Kern auf unvollständiger Information und der daraus folgenden Ungewissheit über den Charakter, die Verlässlichkeit und die Absichten anderer Staaten, vor allem anderer Großmächte. Demokratien seien imstande, sich genauso aggressiv zu verhalten wie autoritäre Staaten… Und wenn ein Konkurrent allzu aggressiv seinen Handelserfolg auch militärisch schütze und sichere, dann drohe sich rasch eine Abwärtsspirale zu entwickeln: Es werde ihm friedliche Eindämmung entgegengesetzt, die ihrerseits oft militärisch flankiert werde, was wiederum den Adressaten der Eindämmung in seiner Aggressivität bestätige und bestärke („Sie wollen uns niederhalten“), und die Prognosen wie auch die Lage würden immer düsterer. Darum seien militärische und wirtschaftliche Großmächte gut beraten, als eigene Charaktereigenschaften Vernünftigkeit und Mäßigkeit zu kommunizieren, und darum seien Institutionen nützlich, die positive Erwartungen zu stabilisieren helfen. Zu alledem komme schließlich die Gefahr hinzu, dass exogene Faktoren wie etwa die Kapriolen kleinerer Mächte oder ein allzu rasches Wachstum des Schwächeren ein durch das Handels-Sicherheits-Dilemma angespanntes Großmachtverhältnis destabilisieren können.“ (S. 156 f.)

Soweit die Wiedergabe der Copeland-Studie durch die beiden Autoren unseres Buches. Ich habe sie hier so ausführlich zitiert, weil sie aus meiner Sicht eine vorzügliche Beschreibung unserer aktuellen Lage bietet, ihrer Ursachen und möglichen Auswege. Sicher, die Parallelen zur Gegenwart müssen eine wechselnde Rollenverteilung zwischen Stärkeren und Schwächeren berücksichtigen. Im Verhältnis zu den Nachbarn ist Russland der Stärkere, im Verhältnis zum Westen ist es oder fühlt sich zumindest als der Schwächere.

Vor allem aber lernen wir: es gibt keinen Grund dafür, das Bemühen um eine enge wirtschaftliche Verflechtung des Westens mit Russland zu verdächtigen. Die Ursache für das Scheitern dieser Politik ist vielmehr das tatenlose Zusehen – wenn nicht die bewusste Forcierung – einer sich beschleunigenden Abwärtspirale durch eine Eindämmungsstrategie des Westens gegenüber Russland und deren zunehmende militärische Flankierung. Wir erinnern uns an den Aufbau eines Abwehrschirms in Polen zur Abwehr iranischer Raketen (!), dessen Planung frühzeitig begann. Alle Warnungen besonnener Politiker sind leider in den Wind geschlagen worden. Und auch die traurige Geschichte um die Pipeline Nord Stream 2 ist ein Beispiel dafür. Man muss sich ja nur ein wenig vor Augen führen, wie das Hin und Her auf der russischen Seite angekommen ist, von vielen Vorgeschichten schon bei Nord Stream 1 und den Dauerkonflikten um den Gas- und Öltransit aus Russland nach Westeuropa, vom ökonomischen und geopolitischen Interesse der USA und von manchen „Kapriolen kleinerer Mächte“ gar nicht zu reden. Copelands Beschreibungen finden hier eine treffende Illustration.

Umso dringlicher wird der Rat an alle Beteiligten und eben auch an den Westen, Vernünftigkeit und Mäßigkeit zur bestimmenden Maxime politischer Entscheidungen werden zu lassen, auch und gerade jetzt wenn es darum geht, wie wir aus dem Desaster herausfinden! Denn, so schließen Oermann und Wolff ihre Wiedergabe der Copeland-Studie: „Angesichts dieses Befundes drängt sich die Frage auf: Was haben wir zu erwarten? Wirtschaftskriege auch mit anderen Staaten als Russland, oder noch Schlimmeres?“ (S. 167)

Je länger ich beim Lesen des Buches über den Krieg des Westens gegen Russland nachdenke, um so mehr festigt sich auch für mich die Überzeugung, dass der Ukrainekrieg nur Verlierer haben wird und weder militärisch noch durch eine exzessive Sanktionspolitik zu gewinnen ist. Sehr zu Recht wird wohl aus diesem Grund von deutscher Seite das Kriegsziel nur negativ beschrieben: Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren. Positiv formulierte Aussagen verbieten sich offenbar.

Dem Bruch des Völkerrechts muss widerstanden werden wo immer (!) er geschieht, gewiss auch militärisch und mit Sanktionen – gewiss aber nicht mit einer Ausmerzung der ganzen russischen Kultur aus der europäischen Landschaft und einer dauerhaften Herabstufung dieses reichen Landes als gehorsamen Rohstofflieferanten. Alle Energie und alle Staatskunst müssen vielmehr stets auch und vor allem darauf gerichtet sein, die wirklichen Kriegsursachen differenziert, nüchtern und selbstkritisch zu analysieren. Im Ergebnis kann endlich ein verlässliches gesamteuropäisches Sicherheitsmodell entstehen und mit Leben erfüllt werden – Gorbatschows Gemeinsames Haus Europa! -, in dem wieder Wandel durch Handel stattfinden kann, in dem in gleicher Weise imperialistische Verirrungen wie auch nationalistische „Kapriolen“ eingedämmt werden durch „Vernünftigkeit und Mäßigkeit“ (alle drei Stichworte gefallen mir immer besser!), in dem außereuropäische Mächte und Interessen zum gegenseitigen Vorteil einbezogen werden unter der Bedingung ihres Verzichts auf alle hegemonialen Ambitionen oder durch deren beherzte Abwehr. Mit einem Wort ein Zustand, in dem der uns in West und Ost anvertraute ökonomische und kulturelle Reichtum aus der Geschichte und der Gegenwart unseres Kontinents auch seine Zukunft prägen kann.

Zum Schluss aber: ein herzlicher Dank an Nils Oermann und Hans-Jürgen Wolff für ihr lehr- und hilfreiches, an vielen Stellen klärendes Buch! Ich hoffe, dass ich hier Lust auf eine eigene Lektüre machen konnte.

Christoph Ehricht

Eine Woche in Feindesland

Ermitage in St. Petersburg (Aufnahme von 1987 B.Z.)

Ende Januar bin ich für eine Woche nach St. Petersburg gereist, die Stadt, in der ich um die Jahrtausendwende einige Jahre gelebt und gearbeitet habe und die ich seit Oktober 2019 nicht mehr besuchen konnte. Ich war aufgeregt und gespannt, was mich erwarten würde. Eine Freundin, der ich meinen Besuch angekündigt hatte, schrieb mir: Schön, dass Du kommst. Aber hast Du keine Angst, dass die Stadt Dir mit Attacken begegnen wird? Nein, die Angst hatte ich nicht oder wenn, dann war sie überlagert von der Gewissheit, dass Besuche und Zeichen der Verbundenheit nie so wichtig waren wie gegenwärtig. In dieser Gewissheit, um dies gleich vorweg zu sagen, bin ich mehr als bestätigt worden. Es hat außerdem keine einzige bedrohliche oder unangenehme Situation während meiner Reise gegeben.

Die Anreise ist kompliziert geworden. Was früher in zwei Stunden Flug von Berlin oder Hamburg zu schaffen war, braucht heute mindestens einen Tag. Ein Hamburger Reisebüro regelt alles schnell und unkompliziert, die Visabeschaffung und die Buchung des Fluges nach Helsinki und von dort die siebenstündige Busfahrt an die Newa. Die Grenzkontrolle war etwas umständlich und nicht immer nachvollziehbar, aber freundlich und locker. Da hatte ich schon anderes erlebt. Um bei den aktuellen Komplikationen zu bleiben: Man ist gut beraten, genügend Bargeld mitzunehmen, denn die westlichen Karten funktionieren nicht mehr. Wechselstuben sind aber geöffnet und tauschen Rubel etwa zu dem Kurs ein, der vor Kriegsbeginn üblich war.

Auf dem Petersburger Busbahnhof gegen 22 Uhr angekommen bin ich mit einem Taxi ins Hotel gefahren. Mein Versuch, mit dem Fahrer ins Gespräch zu kommen, war etwas holprig. Auf meine Frage, wie denn sein Leben jetzt wäre, antwortete er unwirsch: Was soll die Frage, alles ist normal. Ob dahinter seine Gefühlslage stand: Diese scheinheiligen Westler, brocken uns die Misere ein und fragen dann, wie es uns geht. Aber vielleicht liege ich mit dieser Deutung ganz falsch, ich weiß es nicht. Das krampfhafte Bemühen um Normalität im Alltag in Verbindung mit einer deutlichen Reserviertheit habe ich allerdings in der ganzen Woche immer mal wieder wahrgenommen.

Am ersten Tag meines Aufenthaltes in Petersburg war Gedenktag an das Ende der Blockade im Januar 1944. Putin war aus diesem Anlass in die Stadt gekommen. Im Fernsehen wurde die offizielle Gedenkveranstaltung übertragen, sie war wie früher auch geprägt von tiefer Trauer, die Reden, soweit ich sie verfolgen konnte, nicht scharfmacherisch oder kriegerisch. Stärker als früher dominierte allenfalls das Motiv „Bolshe nikogda“, nie wieder. Wenn damit die Sorge zum Ausdruck gebracht werden soll, einer Einschnürungsstrategie des Westens ausgesetzt zu sein, dann kann die derzeitige politische Elite Russlands einer großen Zustimmung in der Bevölkerung gewiss sein. Die Meinungen gehen allerdings weit auseinander in der Frage, wie damit umzugehen ist und vor allem, ob dadurch der Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt werden kann. Putin nutzte übrigens das Datum des 27. Januar zu einem Besuch in der Großen Synagoge und zu einer Begegnung mit dem Vorstand der jüdischen Gemeinde. Auch darüber und über den Holocaustgedenktag berichtete das Fernsehen ausführlich, sicher mit der unausgesprochenen Botschaft: Vergesst nie, was geschehen kann, wenn man sich nicht rechtzeitig wehrt.

Das Stadtbild hat sich in den drei Jahren seit meinem letzten Besuch verändert, weil die vielen Werbebanner, die quer über die breiten Prospekte gespannt waren, erheblich dezimiert worden sind. Das ist ein deutlicher Gewinn für den Betrachter der schönen Stadtlandschaft, auch wenn die Ursache möglicherweise das Fehlen von Auftritten internationaler Showgrößen ist, für die früher so aufdringlich geworben wurde. Im Marinski-Theater dirigiert Valeri Gergiew jeden Abend – meine Petersburger Freunde sind mit einer Art von Galgenhumor dankbar für diese Folge deutscher Kulturpolitik. Überhaupt kein Verständnis haben sie dafür, dass in Nachbarländern die russische Kultur insgesamt ausgemerzt werden soll. Ich nebenbei gesagt auch nicht.

Das Angebot in Geschäften und Supermärkten ist unverändert, soweit ich das sehen konnte, auch die Preise für Lebensmittel sind nach wie vor moderat, wenn auch teurer als früher. Kostenexplosionen hat es wohl auf anderen Gebieten gegeben. Die Deshurnaja in meinem Hotel erzählte mir, dass sie mit der Renovierung ihrer Wohnung begonnen hatte, sie aber wegen der Teuerung nicht vollenden konnte – mit dem Ergebnis, dass sie ihre Wohnung verkaufen und in einen Vorort ziehen musste. Sicher kein Einzelschicksal. Sie stammt übrigens aus Kiew. Als ich vor vielen Jahren das erste Mal mit ihr zusammentraf fragte ich sie, ob sie lieber ukrainisch oder russisch spräche. Völlig egal, das ist doch alles eins – so antwortete sie damals. Ob sie das heute auch noch sagen würde?

Viele meiner Freunde arbeiten seit Corona im Home-Office. Insgesamt, so mein Eindruck, ist die Digitalisierung des Alltags weiter voran geschritten als bei uns. Als ich mit einer Freundin in ihre neue Wohnung gegangen bin, sah ich in der Nachbarschaft einen Supermarkt. „Das ist ja praktisch, hier kannst du gleich einkaufen“ – sie sah mich erstaunt an: Geht ihr in Deutschland noch einkaufen? Ich bestelle alles, was ich brauche und es wird umgehend geliefert. Als am Abend die Zeit heran war, bat ich sie, mir ein Taxi zu bestellen. Sie tippte etwas in ihr Handy und sagte: Unten wird in fünf Minuten ein weißer Mazda stehen mit der Wagennummer 5699. Normalität des Alltags. In vielem sicher eher typisch für die Weltstadt, und nicht für Mütterchen Russland. Aber immerhin.

In fast allen Gesprächen kamen wir über kurz oder lang doch immer wieder auf die Ukraine zu sprechen. Standpunkte und Positionen wurden mehr oder weniger offen geäußert, ich will dies hier im einzelnen gar nicht wiedergeben. Letztlich habe ich wenig Überraschendes gehört, vielleicht mit einer Ausnahme. Über die muss ich aber nachdenken, sicher weil sie mir so sympathisch war und ist.

Isaakskathedrale – St. Petersburg (Foto 1987 B.Z.)

Es war in einem Gespräch in einer Stolowaja mit Zufallsbekannten, offenbar einer Gruppe von Studenten. Nach anfänglicher kaum verhohlener Wut mir gegenüber sagte einer, ein Geschichtsstudent, wie sich später herausstellte, wie enttäuscht auch er wäre, dass Deutschland Waffen und nun auch noch Panzer an die Ukraine liefere. Hättet ihr nicht eure Erfahrungen beim Überwinden von Feindschaften, bei Vertrauensbildung zwischen ehemaligen Gegnern, bei Versöhnung und Friedensstiftung in die Wagschale werfen können, die gerade ihr Deutschen gewonnen habt? Statt dessen habt ihr einseitig nur die unterstützt, die von vornherein ausschließlich auf die Waffenversprechungen des Westens vertraut und ihre Politik danach ausgerichtet haben. Es hat doch auch in Kiew durchaus andere Stimmen gegeben, die möglicherweise eine friedliche Beilegung der vielen Konflikte eröffnet hätten. Wenn man die unterstützt hätte, wäre den Kriegstreibern auf beiden Seiten vielleicht ein wenig Boden unter den Füssen entzogen worden. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.

Ich denke oft an diesen jungen Mann, an seine Enttäuschung, die Ratlosigkeit und die tiefe Trauer, die aus seinen Worten sprach und an die leise Hoffnung. Diese komplexe Gemengelage im Lebensgefühl hat meine Wahrnehmung der Realität in Petersburg bestimmt, sie beherrscht mich bis heute.

Als Reiselektüre vor allem für die vielen Stunden im Bus hatte ich mitgenommen eine pdf-Datei der erweiterten und aktualisierten Neuausgabe des Buches „Wirtschaftskriege“ von Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff sowie den 2. Band von Heinrich August Winklers Geschichte Deutschlands unter dem Titel „Der lange Weg nach Westen“. Zum Lesen bin ich aber nicht wirklich gekommen. Zu neugierig war ich auf der Hinfahrt auf Gespräche mit Mitreisenden, auf der Rückfahrt hielten mich Erinnerungen und die Verarbeitung von Eindrücken vom Lesen ab. Über das Wirtschaftskrieg – Buch werde ich an anderer Stelle in diesem Blog berichten, in Ergänzung zu meiner früheren Rezension. Bei Winklers Buch regt mich vor allem der Titel immer wieder zum Nachdenken an. Ein langer Weg nach Westen, ohne Frage. Zum Segen für die deutsche Geschichte? War der Preis am Ende doch zu hoch? Hätten die europäische Mittellage Deutschlands und eine gebildetere Verantwortung vor unserer Geschichte doch andere Perspektiven eröffnen können? Mehr Bescheidenheit, weniger verlogene Selbstgerechtigkeit? Eine Außenpolitik, die ihre wahren Interessen oder Abhängigkeiten offen benennt und nicht hinter einer vermeintlichen Werteorientierung verschleiert? Mehr Bismarck, weniger Baerbock?

Während ich diese letzten Sätze schrieb, machte mich ein Freund auf Antje Vollmers Gedanken zum Jahrestag des Kriegsausbruchs aufmerksam (siehe Link am Ende). Denen kann ich eigentlich nichts hinzufügen. Allenfalls noch meine Bitterkeit darüber, dass ich meine Reise als Reise in ein Feindesland bezeichnen muss, wo ich doch eine ganz andere Wirklichkeit erlebt habe. Die bekümmerte Traurigkeit der schon erwähnten Deshurnaja ging und geht mir nahe, als sie mich beim Abschied fragte: Wird nun nur negativ über uns berichtet in euern Medien? Ja, musste ich wohl oder übel antworten.

Christoph Ehricht

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443

Deutschland im Blindflug und ohne Kapitän, Herr Selenskyj ist nicht verfügbar

Es kommt wohl die Zeit, dass meine Freunde und Bekannten die Kurve kratzen, wenn sie mich sehen. Voller Wut und Entsetzen verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich rede und rede über die Ukraine und Russland, die Ursachen des Krieges und das Leid für die Menschen in der Ukraine und auch Russland. Ich sehe die  Wand immer näher kommen. Die da heißt, endlich muss Schluss sein, einfach reinhauen, nicht nur Waffen sondern auch starke bewaffnete Truppen in die Ukraine schicken oder ganz anders einfach full stop und back to the roots.

Wer will sich das alles noch anhören. Die Ereignisse beginnen mich zu erdrücken. Aber wir sollten dennoch mutig und hellwach  nach vorne schauen. Nach 40 Jahren DDR und über 30 Jahren ertragener Vergangenheitsbewältigung will ich mich auch ein wenig absichern. Ihr solltet das auch tun, Deutsche mit der  DDR – Vergangenheit, die  mit back to the roots nicht gemeint sein soll.

In der letzten Sendung bei Illner wurde durch den ehemaligen militärischen Berater von Frau Merkel, Ex General Vad, einiges bemerkt, was in der FAZ vom 18.3. kolportiert wird. Wichtig erscheint mir, was die Zeitung dabei unterschlägt.

Nicht verschwiegen wird seine Bestätigung der Befürchtung des Grünen Robert Habeck, der eine atomare Eskalation als realistische Bedrohung dem hoffentlich hellhörig werdenden deutschen Publikum nahe brachte. Für die russische Militärdoktrin gelte im Unterschied zur amerikanischen auch die Taktik  begrenzter  Atomschläge. Nicht erörtert wurde, was  die USA oder die NATO für diesen Fall vorgesehen haben.

Unterschlagen wurde Vads  zaghafter Hinweis, dass für die Ukraine und Russland ein guter Zeitpunkt besteht, sich zu verständigen. Russland habe bestimmte Kriegsziele in Form von Geländegewinnen erreicht, die Ukraine verteidige sich weit über die Erwartungen der Russen. Also würde keiner das Gesicht verlieren. Eisiges Schweigen und Unverständnis in der Runde.

Die Frage nach den Vorstellungen der Ukraine für eine Beendigung des Krieges wurde durch den anwesenden ukrainischen Botschafter nicht beantwortet. Die Ukraine sei bereit, „alle möglichen Kompromisse“ einzugehen. Konkret werden könne die Ukraine erst in den direkten Verhandlungen der beiden Präsidenten.

Lauter Beifall von der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages Strack-Zimmermann. Das sei allein eine Angelegenheit der Ukraine. Deshalb muss es heißen Blindflug der Bundesregierung, notiere ich.

Überhört wird auch der Hinweis des Generals, dass das gegeneinander Aufrüsten keine gute Idee sei. Die Pläne der Grünen für eine neue Sicherheitsdoktrin Deutschlands erwähnte er nicht. Wurde der General im Hinblick auf die amerikanische Ankündigung einer Zahlung weiterer 800 Millionen Dollar für Rüstungsgüter  an die Ukraine von Frau Merkel gar gebeten, in der Sendung auf die Bremse im Sinne einer Entspannung der demoralisierten und schuldbewussten deutschen Politiker zu treten? Habeck stand kurz vor den Tränen. Ich möchte Frau Merkel wieder haben, meine Stimme hätte sie.

Wir kennen in etwa die Vorstellungen Putins, die offenbar immer noch von vielen Russen geteilt werden, von 71 % ist nach einer wohl seriösen Umfrage die Rede. Eine wirklich neutrale Ukraine außerhalb der NATO, Russland soll behalten, was es mit der Krim, Luhansk und Donezk schon hat.

Die Frage ist nicht, ob das der Atommacht Russland zusteht. Das Völkerrecht sagt dazu ein klares Nein, genauso wie schon früher beim Irakkrieg, Kosovokrieg etc. Da offenbar im Konfliktfall bei starken Mächten das Völkerrecht oft mit angeblichen höchst moralischen Gründen ausgesetzt wird, müssen Lösungswege ohne es gefunden werden. Das ist die Stunde von Politikern wie Talleyrand, Bismarck, Willy Brandt und Egon Bahr.  Wir dürfen  nicht den  Krieg sich selbst überlassen, weil eine Seite im Unrecht ist und das partout nicht einsehen will. Und überhaupt, wo wollen wir da  beginnen? Chirurgen wie Sauerbruch quatschen nicht, sie konsultieren sich aber und beginnen dann sofort mit der Operation.

Ein Krieg muss sofort beendet werden, er darf keine Chance zur Ausbreitung erhalten. Die Vergangenheitsbewältigung kommt später, viel später, wenn sie nachhaltig sein soll. Macron und Scholz, hört auf zu  telefonieren, um so en passent die nächsten Wahlen zu gewinnen. Bleibt sauber, es wird alles durchschaut. Verhandelt auf Augenhöhe mit beiden Seiten des Krieges und sorgt dafür, dass die USA und weitere Mitglieder der NATO mitmachen. Und wir sollten aufhören, uns moralisch zu erregen, sondern von den Entscheidern Leistungen für den Frieden fordern. Wir sind nicht  die Opfer und wollen es auch nicht infolge der Unfähigkeit der Bosse werden.

Biden hat mit seiner Erklärung, dass die NATO für die Ukraine nicht kämpfen würde, einiges auf den Weg gebracht. Die Frage ist, ob Putin es bei dem von der EU, den USA und der NATO ersatzweise geführten Wirtschaftskrieg belässt. Den Russland nicht gewinnen kann, ganz im Gegenteil, die Wirtschaft Russlands wird vernichtet werden, meinen einige fröhlich und optimistisch. 

Ich sehe dennoch sehr gute Chancen für eine Zurückhaltung des sich verrechnet habenden Putins,  meine aber, dass der Wirtschaftskrieg Deutschland und der ganzen Welt schadet und  ein  Ende des Krieges verzögert.

Deutschland schießt sich selbst ins Knie, wenn es nicht aufpasst. Das aber ist gar nicht das Schlimmste. Ich sage es mit den beschönigenden Worten des ukrainischen Botschafters Melnik, der das Restrisiko einer atomaren Auseinandersetzung in Europa klein redet  Das „bisschen“ Restrisiko ist schlimm und gefährlich für Deutschland, sogar mehr als die gerne besungenen  Rechts- oder Linksradikalen  oder gar die AFD im Inneren.

Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie den sicheren Weg geht. Das Interesse der Deutschen kann nicht die blinde Zustimmung zur Aufrüstung der Ukraine mitten in diesem Krieg sein. Es darf nicht einmal in einer strategischen Überlegung  konzediert werden, dass Putin wegen der Waffenlieferungen plus Wirtschaftskrieg  „den Waffengang“ nach Westen ausdehnen könnte.

Doch ist das Kind nicht schon in den Brunnen gefallen? Deutschland ist durch die Waffenlieferungen und Sanktionen zumindest mittelbar Beteiligter an diesem Krieg, alles andere ist Augenwischerei. Deutschland befindet sich in einem mit allen Mitteln geführten Wirtschaftskrieg. Dies ist nur dann gerechtfertigt, wenn Deutschland sich an den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland mit starker Stimme beteiligt. Das lehnen die Herren aber ab, niemand kann es logisch begründen.

Beginnen wir mit dem Kleinen, mit  Anstand und etwas mehr Selbstbewusstsein. Es wird nicht geklatscht, wenn fremde Staatsoberhäupter deutsche Politiker beschimpfen,  nicht im Bundestag oder auch nur in einer Talkshow, es wird gebuht oder eisig geschwiegen.   Ziel kann nur die Beendigung des Krieges, die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat und die Eindämmung der Sanktionen sein, bei gleichzeitigem Aufbau einer Sicherheitsstruktur für ganz Europa. Zug um Zug, Abbau von Sanktionen gegen Aufbau von Sicherheit für die Westeuropäer,  alle Russen, Ukrainer und die vielen nationalen Minderheiten. Das ist die Hauptaufgabe.

Und die NATO mit Deutschland an der Spitze wiederholen demgegenüber das, was ihnen Putin seit Jahren vorwirft. Ohne den Weg der Verhandlung mit Russland zu beginnen, Vertrauen zu schaffen, wird einseitig unter Bruch von Vereinbarungen die Ostflanke der NATO gestärkt – was die baltischen Staaten schon seit Jahren gefordert hatten. Worüber hat sich der französische Präsident über sechs Stunden mit Herrn Putin unterhalten, darüber und darauf verschließt sich die Auster Putin? 

Eine neue nationale Sicherheitsstruktur  a la Baerbock mit Tarnbombern und Beteiligung an der atomaren Aufrüstung Deutschlands insgesamt, noch mehr Einfluss auf die NATO,  erschreckt auf längere Sicht nur die Nachbarn. Oder bleiben die Tarnbomber bei dem nächsten Konflikt auf dem Boden? Nütze den Krieg in der Ukraine, um die lahme Bundeswehr aufzurüsten, wieder mal gegen die Gefahr aus dem Osten, ist das die neue Losung?  Ich kann gar nicht so schnell denken, wie sich die Grünen militarisieren. Was ist mit ihrer Vergangenheitsbewältigung Nr.1?

Solange die Ukraine auf ein inhaltsleeres  „zu allen Kompromissen bereit“ beharrt, Verhandlungen der beiden Präsidenten  nicht zügig vorbereiten lässt, nicht wie die Russen  ihre Ziele  darstellt,  darf Deutschland die Ukraine nur bei der Linderung der Not der Menschen unterstützen. Das ist eine Lehre aus dem Scheitern von  Minsk 2, das Deutschland nicht zu verantworten hat.  Kein Euro und keine Patrone, wenn …

Fazit: Es wird eine Hungersnot in Afrika mit Millionen von Hungertoten und Flüchtlingen nach Europa ab dem Jahr 2023 prognostiziert, wenn Russland und die Ukraine ihren Weizen nicht anbauen und liefern können. Es besteht die Gefahr, dass wir die Klimawende nicht meistern. Es geht um die Not der Welt und nicht darum, ob wir Deutschen in der kalten Jahreszeit etwas mehr anziehen oder ob die Energiepreise in Deutschland steigen. Um letzteres geht es aber auch. Und solange die Bundesregierung nichts schafft, sollte niemand frei Haus auf etwas verzichten. Um der Verschwendung für militaria ein wenig Einhalt zu gebieten oder den toll Gewordenen etwas zu signalisieren.

Übrigens glaube ich auch nicht daran, dass eine Landmacht ohne atomare Unterstützung durch einen Dritten einer Atommacht widerstehen kann, ohne dass es zu einem Kollateralschaden größeren Ausmaßes kommt.

Reinhart Zarneckow