Meinungsvielfalt im deutschen Protestantismus

Ein kleiner Beitrag zur Meinungsvielfalt im deutschen Protestantismus

Der Greifswalder Kirchenmusiker und Musiktherapeut Bernd Ebener hat in der hiesigen Kirchenzeitung einen Leserbrief veröffentlicht, den wir mit seinem Einverständnis gerne auch den Leserinnen und Lesern von Schreibundsprich zur Kenntnis geben wollen – als Anregung zur Diskussion, als Ergänzung zu manchen hier schon geäußerten Gedanken und Überlegungen und nicht zuletzt als Zeichen dafür, dass es in der evangelischen Kirche durchaus unterschiedliche Positionierungen zum Krieg in der Ukraine gibt.

Bernd Ebener hat seinen Brief übrigens zuerst der Autorin des Offenen Briefes zugeschickt und ihn erst, als er keine Antwort erhielt als Leserbrief eingereicht. Der Text, auf den er Bezug nimmt, ist in der Mecklenburgischen und Pommerschen Kirchenzeitung 15/ 23 nachzulesen und hier als Bild eingefügt.

Christoph Ehricht

Einbettung 61 sowjetischer Soldaten durch den Volksbund, Kriegsgräberstätten Lebus, 12.Mai 2023
Foto: Reinhart Zarneckow


„Werte Frau Pastorin Fischer,

„russländische Propaganda“, „russländischer Terror“, „russländische Räuber“ lese ich in Ihrem in der Kirchenzeitung Nr. 15 gedruckten „offenen Brief“. Warum nicht einfach „russisch“, dem landläufigen Sprachgebrauch folgend? Wir sagen doch auch nicht „deutschländische Diplomatie“ oder „frankreichische Revolution“… – welche Intention steht hinter Ihrer Semantik?

Und: Sie erwecken (zumindest bei mir) den Eindruck, als würde es ukrainische, europäische, amerikanische und deutsche Propaganda, Räuber, Terror nicht geben. Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Perikopen vom Splitter und Balken im Auge bei Matthäus, Lukas, auch Römer 2,1 bekannt sind. Warum also dieser Tunnelblick in Ihren Ausführungen? Warum diese Ignoranz der eigenen deutschen, amerikanischen, europäischen und NATO-völkerrechtswidrigen Kriegs-Geschichte gegenüber? Vietnam, Kambodscha, Afghanistan, Jugoslawien, Syrien, Libyen, Irak und, und, und … – natürlich die Vorgeschichte zur Ukraine-Rußland-Situation incl. der späten Bekenntnisse Merkels zu Minsk II. M.K.n. waren und sind US-Amerikaner die bislang ersten und einzigen geblieben, die Atombomben eingesetzt haben. „Little Boy“ hießen propagandistisch-verbrämend die Geschosse, die hunderttausenden Frauen, Männern und Kindern den sofortigen Tod oder ein schleichend-elendigliches Dahinsiechen brachten und bis heute und noch weit in die Zukunft die Erbanlagen künftiger Generationen schädigen. Und es war die NATO, die im Irak, in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan hochtoxische und radioaktive Uran-Munition verwendete, rücksichtslos gegen eigene Soldaten und die Zivilbevölkerung der betroffenen Länder, die ebenfalls noch über Generationen an deren strahlenden Folgen leiden werden. Statt die Verwendung dieser Munition als Kriegsverbrechen zu geißeln, soll sie nun auch in der Ukraine eingesetzt werden oder wird es schon, während zeitgleich in unseren Wertemedien ein dröhnendes propagandistisches Schweigen darüber herrscht.

Sie erwecken weiterhin den Eindruck, dass russische, amerikanische, europäische und deutsche Interessen und Handlungsweisen jeweils auf einer homogenen Bevölkerungsmeinung beruhen. Es widerspricht jedenfalls meiner Erfahrung und meinen Kenntnissen. Und selbst wenn Sie hier Mehrheitsmeinungen festgestellt haben wollen, wissen wir doch alle, dass diese nicht zwingend auch Wahrheiten verkörpern bzw. richtiges, ethisch verantwortbares Handeln bewirken. Wir berufen uns auf die Propheten, auf Jesus, Luther, Bonhoeffer … – Wahrheiten brauchen keine Mehrheiten. Und Mehrheiten allein sind kein Argument. Wir kennen aus der Bibel, aber natürlich auch sonst aus der Geschichte viele Geschehnisse, die davon berichten, dass sich Mehrheiten verlaufen und es später oft genug auch bereuen. Menschen sind überall leicht manipulierbar. Das „Hosianna“ der Volksmassen bei Jesu Einzug in Jerusalem geht fast nahtlos ins „Kreuzige ihn!“ über.

Schließlich: Was verstehen Sie unter „Faktenanalyse“ und „theologisch verantworteter Ethik“? Zur Wahrheit gehört immer der differenzierende Blick auf’s Ganze. Zumindest jedoch der spürbare Versuch dessen! Und mit Propaganda und Manipulation haben wir es immer dann zu tun, wenn wesentliche, für die ethisch-faire Beurteilung einer Situation notwendige Informationen verschwiegen werden.

Ich hätte noch weitere Fragen, doch will ich mich zunächst auf die benannten beschränken, da ich sie für die wesentlichsten halte.

Habe ich etwas nicht oder falsch verstanden?

Freundliche Grüße!
Bernd Ebener“

Bernd Ebener Foto: berndebener.de
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Die Seele braucht Stille zum Atmen.

www.berndebener.de


Helmut Schmidt (1978!!!):
"Es gibt im Fernsehen Nachlässigkeiten gegenüber dem Gewaltproblem. Sie reichen von der Tagesschau bis tief
in die Unterhaltungssendungen. Die häufige Vorspiegelung, Konflikte seien besonders einfach mit Gewalt zu 
lösen, muss eine verheerende Auswirkung auf die politische Struktur einer Demokratie haben. Demokratie muss
Konflikte mit den ihr eigenen Möglichkeiten und Methoden lösen können. Das Schwarz-Weiß-Schema von Gewaltlösungen darf nicht zu einem Vorbild für unsere Gesellschaft werden."

Bundeskanzler Helmut Schmidt in: "Plädoyer für einen fernsehfreien Tag - Ein Anstoß für mehr Miteinander 
in unserer Gesellschaft". (Quelle: "Die Zeit" 22/1978 vom 26. Mai 1978)

Wer Waffen liefert, will Krieg - sonst würde er Diplomaten schicken. (Sahra Wagenknecht)

Die Kirchen der Welt sind immer in die Irre gegangen, wenn sie Gewalt legitimiert haben. (Margot Käßmann, 25. Februar 2023)

Predigt am 27.2.2022 in der Schlosskapelle Ludwigsburg bei Greifswald

Christoph Ehricht

Schlosskapelle Ludwigsburg (*Bild 1)

Markus 8, 31 – 38, Jesu Leidensankündigung in Caesarea Philippi:

Des Menschen Sohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete davon frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er wandte sich um und sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Hebe dich, Satan, von mir, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.

Gott segne dieses Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde,

Jesus mutet seinen Freunden und Anhängern einiges zu. Sie hatten ihm vertraut und sich auf den Weg mit ihm gemacht, weil er Kranke gesund machen konnte, Liebe an die Stelle von Kaltherzigkeit setzte und vielleicht sogar das Ende der verhassten römischen Fremdherrschaft und der wie ein Krebsgeschwür wuchernden Korruption im Lande herbeiführen konnte. Ein Held, der lang ersehnte Messias. Und nun müssen sie diese Rede hören: nicht Sieg, sondern Leiden wird angekündigt, sogar der Tod. Kein Wunder, dass sich lauter Widerspruch regt. Aber den weist Jesus scharf zurück und bedroht sogar seinen treuesten Anhänger Petrus: Hebe dich hinweg, Satan. Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.

Auch unserem Glaubensmut und unserem Gottvertrauen wird gerade einiges zugemutet. Die lange zermürbende Coronazeit, der Klimawandel und nun auch noch der Krieg mitten in Europa. Trauer, Wut und Angst beherrschen mich wie wahrscheinlich auch Sie, da hilft kein Wegschauen und es gibt nichts schönzureden. Antworten auf die vielen Fragen, die sich jetzt bedrängend stellen, haben wir alle nicht, allenfalls im Hören auf unser heutiges Sonntagsevangelium die Zusage, dass Gott uns durch seinen Sohn gerade auch im Leiden, in der Ratlosigkeit und Angst und Ohnmachtsgefühlen nahe ist. Ein schwacher Trost?

So schwer es ist, liebe Gemeinde, wir müssen in diesen Tagen wohl endgültig Abschied nehmen von der Vorstellung, dass unsere Welt und unser Lebensmodell sicher sind. Dass wir über unsere Zukunft verfügen und dass Frieden und Fortschritt und Wohlstand machbar sind. Diese Sicherheit verlieren wir gerade – Jesu Warnung bestätigt sich, wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Eine bittere Einsicht, ich sage dies wirklich nicht leichtfertig, eher mit großem und ehrlichem Schmerz. Aber nur, wenn wir dieser Wahrheit in’s Auge sehen, werden wir den nötigen Mut bekommen, Verantwortung wahrzunehmen ohne kurzatmigen oder irregeleiteten Aktionismus, ohne Panik und Hysterie, nur dann werden wir frei werden von lähmender Angst.

Und wir werden dann vielleicht auch erahnen können, welchen Gewinn uns das Vertrauen auf den schweren Weg Jesu verspricht. Gott schickt ihn in seine Passion, auf den Leidensweg zum Kreuz, weil er die noch unerlöste Welt durch Liebe vollenden und erlösen will und weil Liebe sich eben mit Gewalt nicht durchsetzen lässt. Am Ende aber hat sie den längeren Atem und wird alles verwandeln, in ein neues Licht rücken, wenn nicht in dieser, so in der kommenden Welt. Das ist gewiss.

Vom Kirchenvater Augustin lernen wir zu unterscheiden zwischen Sicherheit und Gewissheit. Sicherheit gibt es nicht, aber der Allmacht und Überlegenheit der Liebe Gottes dürfen wir gewiss sein. In dieser Gewissheit, liebe Gemeinde, sollen wir in dieser aufwühlenden Zeit vor allem das Gespräch untereinander suchen. Keiner und keine, vor allem auch unsere Kinder und Enkel nicht, soll sich mit seinen Sorgen und seiner Angst allein gelassen fühlen. Nähe ist der beste Trost.

Liebe Gemeinde, schon vor einigen Jahren hat ein Philosoph aus Jena, Hartmut Rosa, ein Buch veröffentlicht, auf das ich erst jetzt aufmerksam geworden bin. Es heißt „Unverfügbarkeit“ und entfaltet unter verschiedenen Blickwinkeln das spannungsvolle Verhältnis von Verlust und Gewinn, von dem unser Sonntagsevangelium spricht. Es geht in dem Buch um die Einsicht, dass unser Leben seinen Reichtum, seinen beglückenden Glanz, seinen Klang, seine Resonanz, wie Rosa sagt, durch das gewinnt, worüber wir nicht verfügen, was wir nicht machen können, ja, was wir mit den Mitteln unseres Denkens und unserer Sprache kaum erfassen, geschweige denn verfügbar machen können. Eine unverfügbare Wirklichkeit. Natürlich, das weiß er gut, natürlich muss es auch besonnenen Umgang mit dem geben, worüber wir verfügen können. Alles andere wäre wirklichkeitsfremd und lebensfeindlich. Nur darf eben das Verfügbare nicht zum letzten Maß aller Dinge werden. Dann greifen der Vorwurf, den Jesus seinem Freund Petrus macht und die Warnung vor einem unwiederbringlichen Verlust!

Hartmut Rosa veranschaulicht dies an einem schlichten, fast banal wirkenden Beispiel: Es ist wie mit dem Schnee, den wir nicht machen oder bestimmen können, den wir kaum vorhersagen und schon verloren haben, wenn wir ihn festhalten wollen. Aber wenn er denn fällt, wird unsere Welt verwandelt, Dunkelheit wird erhellt und ein wärmendes, geheimnisvolles Gefühl von Geborgenheit erfüllt uns. Mir gefällt dieses Bild. So stelle ich mir gerne die Verwandlung am Ende der Zeit vor, wenn Gottes Liebe alles bestimmt.

Martin Luther hat diese Verwandlung in seinem schönen Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ besungen. Es steht in unserem Gesangbuch zwar als Weihnachtslied. Wir wollen es dennoch jetzt gemeinsam singen und mit besonderem Ernst und besonderer Zuversicht in dieser beginnenden Passionszeit einstimmen in den Vers: „Das ewig Licht geht da herein und gibt der Welt einen neuen Schein. Es leuchtet mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis.“ Amen.

Der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Liebe Gemeinde, schon vor einiger Zeit hat Kyrill, der Moskauer Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, zu der viele Gemeinden in Russland und in der Ukraine gehören, seinen Gläubigen ein Friedensgebet an’s Herz gelegt, das wir jetzt in der Verbundenheit mit unseren Schwestern und Brüdern dort beten wollen:

Herr Jesus Christus, unser Gott,
siehe herab mit deinem barmherzigen Auge auf das Leid und das so schmerzerfüllte Schreien deiner Kinder, die in der Ukraine sind.
Befreie dein Volk vom Bruderkrieg, verringere das Blutvergießen,
befreie von den Nöten, die der Krieg mit sich bringt.
Die, die ein Haus verloren haben, lass wieder ein Zuhause finden,
gibt den Hungernden zu essen, tröste die Weinenden, vereine die Getrennten.
Lasse es nicht zu, dass deine Kirche Jemanden verliert aus Wut gegenüber Mitmenschen und Verwandten, sondern schenke uns wie ein großzügiger Gott baldige Versöhnung.
Erweiche die Herzen derer, die hart geworden sind und lass uns zurückkehren zur Erkenntnis deiner Weisheit. 
Schenke Frieden deiner Kirche, ihren treuen Kindern und allen deinen Völkern, mache uns zum Werkzeug deines Friedens, damit wir mit einem Herzen und einigen Lippen dich preisen, unseren Herrn und Heiland von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Buch Hartmut Rosa (*Bild 2)

*Bild 1: commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21934129, Erell-Eigenes Werk, CCBY-SA 3.0

*Bild 2: https://ethik-heute.org/wp-content/uploads/2019/04/9783701734467-web2.jpg