„Der lange Weg nach Westen“ – unter diesem Titel hat Heinrich August Winkler vor einem Vierteljahrhundert eine zweibändige Geschichte Deutschlands veröffentlicht. Er erzählt anschaulich das Auf und Ab der Herausbildung des deutschen Nationalstaats. Er beschreibt die Alternativen zwischen einer klein- oder einer großdeutschen Lösung, die Zerrissenheit Deutschlands im Spannungsfeld von Großmächten in der nördlichen, östlichen und westlichen Nachbarschaft, Schweden, Russland und Frankreich, die konfessionelle Spaltung, ökonomische und bündnis- und parteipolitische Turbulenzen, Nibelungentreue und Großmachtphantasien. Am Ende, so suggeriert der Titel, kommt die deutsche Geschichte zum Ziel. Das Land ist nun eingebunden in den Westen.
Zweifellos kann man die deutsche Geschichte in dieser Meistererzählung schildern. Und ebenso kann man sich über dieses Ziel eines von Verirrungen, Abgründen und Opfern belasteten historischen Weges durchaus freuen. Einerseits. Eine innere Unruhe bleibt. Geschichte verläuft nicht zielgerichtet. Sie folgt auch nicht irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten, höchstens dem Gesetz der Wiederholung. Leider. Wichtiger ist mir aber die Frage, ob Deutschland mit all seinen Prägungen und Erfahrungen den Platz für seine Verantwortung am Ende dieses langen Weges nach Westen dort wirklich gefunden hat.
Beim Nachdenken darüber geht mir ein Buch mit dem Titel „Mitteleuropa“ nicht aus dem Sinn. Ein erstes Mal bin ich darauf aufmerksam gemacht worden von Walter Romberg, später der letzte Finanzminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maiziere. Ich habe mit ihm mehrere Jahre in einer Arbeitsgruppe des Kirchenbundes zusammengearbeitet. In der Umbruchszeit vor und nach 1989 regte er an, über das Programm „Mitteleuropa“ neu nachzudenken, in ganz loser Anbindung an Friedrich Naumanns Buch aus dem Jahr 1915. Die Überlegungen haben sich im Strudel der Ereignisse verlaufen, ich habe den Kontakt zu Romberg schon lange vor seinem Tod verloren. Ich glaube nicht, dass er an der konkreten Füllung des Konzeptes „Mitteleuropa“ im Buch von Naumann besonders interessiert war oder ihr gar zugestimmt hat. Aber die Frage hat ihn umgetrieben: Ist Deutschlands Platz im Westen oder nicht doch besser in Mitteleuropa, wenn es dem gerecht werden will, was von ihm erwartet werden kann?
Über Friedrich Naumann und sein Buch kann man sich sehr gut informieren in einer spannenden Darstellung von Leben und Werk des Politikers und Publizisten aus der Feder von Theodor Heuss. Sie ist 1937 erschienen und, wie der Verfasser schreibt, Erfüllung einer inneren Verpflichtung dem 1919 verstorbenen Freund gegenüber. Nebenbei: das Buch von Heuss ist beeindruckend – sachlich, differenziert, frei von jedem Pathos oder geklitterter Geschichtsdarstellung, wie man sie eigentlich erwarten musste im Erscheinungsjahr. Nach dem Krieg veröffentlichte Heuss eine zweite, nahezu unveränderte Auflage.
Naumann, 1860 als sächsischer Pfarrerssohn geboren, studierte Theologie in Erlangen und Leipzig und fand seinen beruflichen Weg zunächst als Pfarrer im Umkreis der kirchlichen Sozialarbeit, inspiriert von Johann Hinrich Wichern, später vor allem von Adolf Stöcker und dem Evangelisch-Sozialen Kongress. Schrittweise löste er sich vom Pfarramt und wurde zum politischen Publizisten, bald selbst auch zum einflussreichen Sozialpolitiker. Er war Gründer und langjähriger Schriftleiter der „Hilfe“, die später von Theodor Heuss herausgegeben wurde und zu einem Organ des Linksliberalismus der Kaiserzeit wurde. Von Stoecker trennte er sich, nicht zuletzt wegen seiner Ablehnung des Stöckerschen Antisemitismus. Heuss zitiert aus einer Rede Naumanns aus dem Jahr 1903: „Ich habe den antisemitischen Gedanken nicht behalten und mit Bewusstsein nicht behalten, weil ein großes Volk imstande sein muss, auch Elemente fremder Stämme, seien es Juden oder Polen, zu assimilieren und in seine Geschichte hineinzuzwingen.“ So zu lesen wohlgemerkt in einem deutschen Buch aus dem Jahr 1937! Ab 1907 war Naumann mit Unterbrechungen Reichstagsabgeordneter, 1919 Mitglied der Nationalversammlung mit dem Mandat der von ihm mitgegründeten Deutschen Demokratischen Partei. Bereits im August 1919 ist er in Travemünde gestorben.

Ein reichliches Jahr nach Ausbruch des Weltkrieges hat Naumann sein Buch „Mitteleuropa“ veröffentlicht. Es war nach „Kaisertum und Demokratie“ sein zweites bedeutendes und viel gelesenes Buch. Dort, in seinem ersten Buch, hatte er die Möglichkeiten einer demokratischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung bedacht, wenn sie auf dem Fundament einer stabilen und stabilisierenden Macht ruht, die nicht von Mehrheitsentscheidungen in´s Wanken gebracht werden kann und die für den Ausgleich und die Zähmung auseinanderstrebender Partikularinteressen oder lautstarker Minderheiten zu sorgen in der Lage ist. Für heutige Leser vielleicht fremd, oder doch nachdenkenswert? In einer Gedenkveranstaltung zum Jubiläums des Grundgesetzes sagte neulich ein Redner: Seit seiner Verabschiedung hat das Grundgesetz 237 Änderungen und Ergänzungen erlebt. Es ist nach jeder einzelnen von ihnen eher schlechter geworden.
Aber zurück zu Naumanns Buch. „Mitteleuropa“ erschien noch in der Zeit, als im Reich alle Debatten über Kriegsziele untersagt waren, damit keinem Zweifel am Charakter des Krieges als einem den Deutschen aufgezwungener Verteidigungskrieg gewollt oder ungewollt Vorschub geleistet werden konnte. Dennoch rührten sich bereits Stimmen, die von einem Siegfrieden und von Annexionen im Osten und im Westen und in Übersee sprachen.
Naumann war zwar überzeugt von der militärischen Stärke Deutschlands und der Mittelmächte. Gleichwohl hielt er nichts von den Gedankenspielen der Alldeutschen. Winkler charakterisiert Naumanns Buch sicher nicht ganz unzutreffend als „Bibel des moderaten deutschen Weltkriegsimperialismus.“
Naumann rechnete 1915 mit einem unentschiedenen Ausgang der kriegerischen Handlungen. Aber wie kann eine Nachkriegsordnung aussehen? Eine Aussöhnung mit Frankreich hat er lange für möglich gehalten. Jetzt glaubte er nicht mehr daran, zu intensiv sind dessen Bindungen an England und Russland. Darum setzte er seine Hoffnungen auf einen starken Pfeiler in der Mitte Europas, der in einer Jahrhunderte langen gemeinsamen Geschichte gewachsen ist – errichtet auf dem Erbe des Kampfes zwischen Rom und Byzanz, gereift in konfessionellen Kriegen, gestählt in der Abwehr der Türken, geprägt durch eine reiche Kultur und eine starke Wirtschaft in Industrie und Landwirtschaft. Damit sind die Stichworte genannt, denen Naumann in seiner Erzählung folgt, ein zeitgeschichtlich interessanter, aber oft durchaus auch heute lesenswerter anregender Text!
In weiten historischen Bögen, mitunter in ganz eigenwilligem prophetischem Pathos entfaltete Naumann seine Vision von einem starken Mitteleuropa, gruppiert um die Machtzentren Berlin, Wien und Budapest:
„Wir ahnen in Nord und Süd, dass wir noch weiteren schweren Dingen in der Zukunft entgegengehen, dass die Welt für uns voll dunkler, unheimlicher Gefahren bleibt; wie schützen wir uns da gegenseitig, dass nicht eines Tages aus irgendeinem menschlichen Grunde die Gemeinsamkeit nicht da ist? Der Schutz liegt sicherlich nicht in bloßen Staatsverträgen. Es lässt sich zwischen souveränen Staaten kein Vertrag formulieren, der nicht seine Ritzen und Lücken hätte. Der Schutz liegt in der Vielseitigkeit des staatlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, im freiwilligen und organisierten Überfließen des einen Körpers in den anderen, in der Gemeinschaft der Ideen, der Historie, der Kultur, der Arbeit, der Rechtsbegriffe, der tausend großen und kleinen Dinge. Nur wenn wir diesen Zustand der Wesensgemeinschaft erlangen, sind wir ganz fest verkettet. Aber schon der Wille, ihn zu erreichen, ist unendlich viel wert. Im Sinne dieses Willens verkünden wir Mitteleuropa als Ziel der Entwicklung.“

Ich will eine längere Passage aus Naumanns Buch wiedergeben, um sein Denken in dieser Zeit (1915!) zu vermitteln:
„Wir wollen versuchen, das neue überstaatliche Gebilde der Menschheitsgruppe Mitteleuropa etwas genauer soziologisch zu begreifen. Wir betrachten also die drei relativ fertigsten Großkörper: Großbritannien, Amerika, Russland. Jeder dieser Körper ist an Umfang und Masse gewaltiger, als es Mitteleuropa je werden kann. Im besten Falle kann, soweit heute Menschenaugen sehen, Mitteleuropa der vierte Weltstaat werden. Von den drei ersten, schon aus der vorhergehenden Periode hervorgebrachten Weltstaaten ist der russische am meisten auf Zwang, der amerikanische am meisten auf Freiwilligkeit gegründet; England steht in der Mitte. Darüber, ob Zwangsbildung oder Freiwilligkeitsbildung dauernder und fester ist, lässt sich kein allgemeines Gesetz aufstellen, da beide Prinzipien, sobald sie übertrieben werden, den Staat zersprengen. Jeder übernationale große Staat ist ein Kunstwerk, ein Wagnis, ein täglich sich erneuernder Versuch. Er ist wie eine große Maschinerie, die beständig irgendwo repariert werden muss, damit sie arbeitsfähig bleibt. Und wie jedes Kunstwerk bestimmt wird durch den Künstler und den Stoff, so erwächst der Großstaat aus der führenden Nation und den begleitenden Völkern, aus den Ideen und Sitten der Herrschenden und den Qualitäten der Beherrschten, aus dem Können großer Männer und dem Willen breiter Massen, aus Geschichte, Geographie, Landwirtschaft, Handwerk und Technik. Dieser seelische Charakter des Großstaates darf nie außer acht gelassen werden, wenn man sein Wesen begreifen will. Eine bloß mechanistische Betrachtungsweise nützt gar nichts. Je größer und je gebildeter und anspruchsvoller die zu regierenden Mengen werden, desto mehr Elastizität gehört zu ihrer Leitung, eine Elastizität, die als Erbweisheit von Geschlecht zu Geschlecht übernommen werden muss. Diese richtige Mischung von Einheitszwang und Freiheitsgewährung wirkt als Anziehungskraft gegenüber den mitfolgenden Teilen.“
In der letzten Phase des Weltkrieges bemühte sich Naumann, seine Ideen in die politische Wirklichkeit einfließen zu lassen. Die Verhandlungen um einen Frieden mit Russland in Brest-Litowsk begleitete er engagiert und erlebte etwas ratlos und überrascht das erste Auftreten einer ukrainischen „Rada“ als Völkerrechtssubjekt und den nicht wirklich geglückten Versuch eines Ausgleichs mit polnischen Interessen. Er unternahm kräftezehrende Reisen in das Gebiet der Mittelmächte, im Oktober hielt er mehrere Vorträge bei der Obersten Heeresleitung in Spa. Sie zeugen von Naumanns Ringen um Ideen für eine Nachkriegsordnung in Mitteleuropa, seiner Skepsis gegenüber Präsident Wilsons Völkerbund-Programm, dessen Rationalismus er abwehrt in seiner naturrechtlichen Begrifflichkeit und in dem „durch die Schwierigkeiten der Welt hindurchmoralisierenden Pathos“, wie Theodor Heuss schreibt.
In Aufsätzen und in einer seiner letzten großen Reden vor dem Reichstag machte Naumann deutlich, dass er deutlicher als früher nicht allein die materiellen Interessen, die Nützlichkeitserwägungen als ausschlaggebend für die Entschlüsse der Nationen beurteilt, „sonst wäre es gar nicht zum Kriege gekommen. Es lebt außer dem Nutzen noch vieles andere im Blut und im Gehirn der Völker, tiefe, unterirdische Strömungen, verborgener Hass, angeborene Kriegshaftigkeit, alte Natur, sei sie gut oder böse. Ist der jetzige Wilsonsche Völkerbund wirklich etwas Ewiges, wofür es sich verlohnt Opfer zu bringen wie für ein Reich Gottes auf Erden? Ist er die Vollendung der christlichen Verheißung, dass es einen Hirten und eine Herde geben soll, ist er die Verwirklichung des wunderbaren Traumes der Menschlichkeit, den gerade unsere deutschen Dichter und Denker in ihrer Seele trugen? Oder ist er nur Ausdruck eines gewöhnlichen Aufklärungsoptimismus, der das für wahr hält, was er wünscht, ein Kunstprodukt der theoretischen Vernunft, ein gespensterhaftes Gebäude, in dem die Delegierten der Nationen teils sich vergnügen, teils sich zanken?“
In manchen dieser Überlegungen klingt das an, was Heinrich August Winkler wie bereits erwähnt als moderaten Weltkriegsimperialismus bezeichnet hat. Naumanns Vertrauen auf eine deutsche Führungsrolle ist als solches natürlich überholt, zum Glück. Er selber hat das nachhaltig erlebt und erlitten. Aber dahinter steht vielleicht eine Einsicht, die wir nicht vorschnell abtun sollten, die Überzeugung Naumanns, wie sehr demokratisch organisiertes Zusammenleben etwa in einem mitteleuropäischen Großstaat eines stabilen Machtzentrums bedarf. Der viel zitierte Satz eines deutschen Verfassungsrechtlers, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht schaffen kann (und darf!), findet hier vielleicht seine entscheidende Ergänzung.
Mir liegt jede plakative Polemik oder kurzschlüssige Programmatik im Gefolge Naumanns fern, für oder gegen seine Überlegungen. Dafür gibt es Berufenere. Ich habe auch keine Vorstellung davon, wie lebendig seine Gedanken in der nach ihm benannten Stiftung oder in der FDP sind, die sich in seiner Tradition sieht. Nein, nur das Nachdenken darüber, wie es mit der deutschen Geschichte auf ihrem langen Weg in den Westen weitergehen kann, weitergehen soll und weitergehen wird, es lässt mich nicht los. Und – ich suche Mitdenkende…
Einen wichtigen Baustein im Lebenswerk von Friedrich Naumann habe ich bisher gar nicht erwähnt, obwohl er für sein Bemühen, dem Projekt Mitteleuropa eine Seele zu geben, ganz entscheidend ist. Er gehörte 1907 zu den Mitbegründern des Werkbundes, einer Vereinigung von Künstlern, Architekten, Formgestaltern, Publizisten und Politikern, die für die deutsche Kulturlandschaft entscheidende Impulse gegeben hat, im Bauhaus, in Hellerau und an vielen Orten, in Ateliers und Werkstätten. Ach, das hat mehr Bestand als alle politischen Ideen. Am Ende wäre der Grundsatz „Form folgt der Funktion“ auch hilfreich für eine Gestaltung des Gemeinwesens, nüchtern, nicht ausufernd in den Ländereien von Absurdistan, aber resilient gegenüber allen Welterlösungs- oder Weltuntergangsparolen, die oft so schwer voneinander zu unterscheiden sind. Wie gut ließe es sich dann leben in Mitteleuropa.
Christoph Ehricht






