Mittendrin

Begegnungen in Frankfurt

Zielgerichtet mit energischem Schritt kam ein Mann wuchtiger Statur auf mich zu. Sein Gesicht war grimmig. Sein Äußeres ein wenig ungepflegt. In mir breitete sich Unbehagen aus und die Ahnung, dass er eher keinen Flyer oder Kugelschreiber von der Partei wollte, für die ich im Zentrum Frankfurts hinter dem Wahlstand stand.
Und mein Mann, wo war er in diesem Moment als ich ihn wieder einmal dringend brauchte?
Er schlenderte gut gelaunt einem Smalltalk am entfernten Wahlstand der Linkspartei entgegen.

Nur noch der Tisch mit den Werbeutensilien trennte den Mann und mich, der nun seinen gesamten Ärger über mich und meinesgleichen, verquickt mit seinen politischen Überzeugungen, lautstark auf mich niederprasseln ließ.

Zur Erklärung:
Im Dezember 2023, am selben Tag, als Herr Scholz die bedingungslose Unterstützung der Ukraine auf seine Agenda setzte und Herr Pistorius die Versetzung Deutschlands in Kriegstüchtigkeit als sein Ziel benannte, schrieb Reinhart nach dreiunddreißig Jahren Zugehörigkeit zur SPD seine Austrittserklärung.

Im Januar lud er zusammen mit Christian Gehlsen, einem Theologen aus Frankfurt, zu einem Bürgerforum ein zum Thema: ‚Was muss geschehen, dass wieder eine bessere demokratische Kultur in unserem Land herrscht, wie gelingt es uns, miteinander zu sprechen?‘
Wer am weiteren Austausch interessiert war, meldete sich im Anschluss per Mail bei Reinhart. So entstand eine kleine Gruppe, deren vornehmliches Ziel es war und ist, die Friedenspolitik des BSW zu unterstützen.

Christian Gehlsen und unsere Moderatorin Katrin Stoll-Hellert
Reinhart beim Bürgerforum


Politische Partizipation ist die Grundlage unserer Demokratie, heißt es.
Mit dieser Intention standen wir nun auf der Straße, sammelten Unterschriften für die Wahlzulassung des BSW, verteilten Flyer, brachten Plakate an und halfen bei der Organisation eines Auftritts von Frau Wagenknecht in Frankfurt.

Eine politische Diskussion möchte ich hier gar nicht beginnen, sondern von meinen Erlebnissen berichten.

Während Reinhart in meinen Augen der geborene Politiker ist, seine Großmutter ihm gar eine Karriere als Außenminister ans Herz legte, liegt mein Interessengebiet doch eher woanders.
Aber in Zeiten der Digitalisierung und anderer Herausforderungen sah ich meine Aufgabe, meinen Mann zu unterstützen.
So war ich an fast allen Initiativen und Unternehmungen beteiligt. Schließlich geht es mir auch um Frieden und um eine Rückkehr Deutschlands nicht nur zu diplomatischer Außenpolitik.

Zurück zu dem Passanten, dessen Aggressivität mich nicht etwa einschüchterte, wie ich es von mir erwartet hätte. Nein, seine feindselige, lautstarke, wirre Argumentation, gespickt mit selbst mir bekannten Totschlagargumenten, ließ mich innerlich auf die Barrikaden steigen und verlieh mir den Mut und ein wenig die Möglichkeit, politisch zu argumentieren.

Bevor er auftauchte, hatte sich eine ältere Dame zu mir gesellt: „Über Politik möchte ich mich mit ihnen gar nicht unterhalten“, sagte sie, „ich möchte ihnen nur ein wenig Gesellschaft leisten und vor allem beistehen, wenn sie hier so ganz allein auf der Straße stehen.“ Sie erzählte mir aus ihrem Leben, hatte früher im Halbleiterwerk gearbeitet und berichtete von einer Kollegin, die ihr eines Tages eine auf ihren Arm tätowierte Häftlingsnummer aus dem KZ zeigte.
Den Tränen nah, hielt die etwa 1,50 Meter große, zarte Frau an meiner Seite dem Unbekannten und seinem Gebrüll stand, bis endlich Reinhart von seiner Stippvisite am benachbarten Wahlstand zurückkehrte und den wutschäumenden Frankfurter Bürger übernahm.

Im Gegensatz zu einigen anderen Besuchern, die sich zwar nicht „bekehren“ ließen, sich aber im Anschluss an eine Unterhaltung mit Reinhart bei ihm bedankten, sich zum Nachdenken angeregt fühlten und doch einen Flyer mitnahmen, war hier ein weiterer Austausch sinnlos und ihn abzubrechen aus gesundheitlichen Gründen mehr als geboten.
Genau wie ich, musste sich die ältere Dame kurz erholen nach diesem „Gewitter“, das über uns hereingebrochen war.
Wir verabschiedeten uns sehr herzlich voneinander.

Man erlebt viel, wenn man sich auf eine derartige „Mission“ begibt. Viele nette Gespräche, verzweifelte Menschen, unentschlossene Menschen, Menschen mit genauen Vorstellungen, fragende und belehrenwollende Menschen. Menschen, die man aus dem Auge verloren hatte, früher Kunden im Laden waren, in dem ich lange gearbeitet habe. Polnische Nachbarn, interessierte Schüler und Studenten und Gruppen männlicher, offenbar aufgabenloser Migranten, wie ich sie in dieser Menge in meiner Heimatstadt nicht vermutet hatte. Man hört die Klage ängstlicher älterer Damen, die sich nicht mehr trauen, einen Parkspaziergang zu machen oder dort zu verweilen, weil zu viele ausländische Bürger die Bänke und Plätze belagern. Ich habe aber auch einen Lehrausbilder erlebt, der vom Eifer einiger Migranten, deren Wissbegierde und ihrer Lebensplanung hier in Deutschland schwärmte.

Reinhart im Gespräch mit einer syrischen Gymnasiastin

Wir haben mit allen gesprochen, die an einem Austausch interessiert waren. Auch mit Anhängern der AfD und mit ihren Vertretern, die zeitweise ihren Wahlstand direkt neben uns hatten.
Was mich und mein politisches Engagement betrifft, so wurde ich einfach im Strudel mitgerissen. Ich habe mich zwangsläufig mit Themen beschäftigt, die weniger in meinem Blickfeld lagen und dabei gemerkt, dass ein Tag mit Gesprächen mit mir unbekannten Menschen zu einem ganz besonderen und schönen werden kann. So wie dieser Tag, an dem mir die zerbrechlich wirkende ältere Dame Beistand geleistet hat, was mich bis heute rührt.


Ein wenig betroffen war ich am Ende unseres Brandenburger Wahlkampfes anno 2024 von dem Verhalten eines Menschen, dem ich mich verbunden fühle. Seine Frau hatte offenbar beobachtet, wie ich ein Wahlplakat in seiner Wohngegend anbrachte, kam erst mit dem Auto näher und brauste plötzlich davon. Im Wegfahren erkannte ich den Wagen. Wenig später erhielt ich einen Zeitungsartikel von ihm per WhatsApp. Belehrend und über den Dingen schwebend äußerte sich Wolf Biermann darin zum BSW.
Er statuierte: „Die, die zu feige waren in der Diktatur, rebellieren jetzt ohne Risiko gegen die Demokratie. Den Bequemlichkeiten der Diktatur jammern sie nach, und die Mühen der Demokratie sind ihnen fremd.“
Und das mir! Ich knüpfte doch gerade voll Mühe, auf einer Leiter stehend, ein Plakat an einen Laternenpfahl!

Reinhart berührte Biermanns Denunziation angeblich nicht: „Nach der Vertreibung aus seinem besseren Staat ist er nun zum Waschlappen mutiert, den niemand braucht,“ kommentierte er. Ah ja, da hatte sich mein Mann dem Niveau des Liedermachers angepasst. Mir war der Wanderer zwischen den Welten sowieso fremd.
Die Würdigung der Ausführungen Biermanns durch den Absender des Artikels als „analytische Schärfe“, lässt mich staunend zurück.


Bettina Zarneckow

Die Außenministerin Baerbock nutzt nur etwas, wenn sie Deutschlands Interessen anerkennt und ohne wenn und aber weltweit vertritt.

Die Außenministerin Baerbock ist dabei vorzuführen, was eine „menschenrechtsgeleitete, feministische“ Außenpolitik ist. Ein Ergebnis ist die Umbenennung des Raumes „Bismarck“ in „Saal der Deutschen Einheit“.

Dabei gibt es zwischen Bismarck und Baerbock einige wenige Gemeinsamkeiten. „Unsere Waffenlieferungen helfen offensichtlich sehr deutlich, Menschenleben zu retten. Also sollte sich eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik ständig fragen, wie sie durch weitere Waffenlieferungen helfen kann, noch mehr Dörfer (in der Ukraine) zu befreien und damit Menschenleben zu retten“, FAZ Baerbock-Interview vom 22.9.22.

„Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden […], sondern durch Blut und Eisen“, Otto v. Bismarck als Ministerpräsident von Preußen am 18.9.1862. Warum cancelt Baerbock also Bismarck, zumal die Ehrung des Reichskanzlers erst nach 1989 in einer Demokratie erfolgt ist?

Frau Baerbock führt aber nicht nur durch die Umbenennung des Raumes in die Irre.

Sie lud zu einer Fachtagung der G7-Außenminister am 3./4.11.2022 im „Friedenssaal“ des historischen Rathauses von Münster ein. Münster war die Wiege des modernen Völkerrechts, so unsere Außenministerin zu ihrem Anknüpfungspunkt.

Münster – Foto Kirche und Leben.de

Die Wahl des Saales wäre in der Tat sensationell und wegweisend gewesen, wenn der russische Außenminister Lawrow von ihr eingeladen worden wäre. Etikettenschwindel?

1648 und davor ging es darum, widerstreitende Interessen der Kriegsparteien des 30-jährigen Krieges zwischen Protestanten und Katholiken auszugleichen und so einen Friedensschluss zu erreichen. „Man kann es geradezu als Weltwunder bezeichnen, dass derart auseinander strebende Interessen sich in dem gemeinsamen Willen getroffen haben, ihre eigenen Dinge zusammen mit den Angelegenheiten der gesamten Christenheit an einem einzigen Ort auszuhandeln“, so der venezianische Vermittler Alvise Contarini zum Westfälischen Friedenskongress.

Frau Baerbock und Kollegen aus den G7-Staaten ging es dagegen bei der Tagung um die Organisation der gemeinsamen Unterstützung der Ukraine zur Fortführung des Krieges in der Ukraine – Sieg der Demokratie über die Autokratie, das Gute gegen das Böse.

Die menschenrechtsgeleitete Außenministerin Baerbock und ihre grünen Berater werden aus der Geschichte des Westfälischen Friedens einiges lernen müssen, wenn Deutschland einigermaßen heil aus dem mörderischen Konflikt in der Ukraine herauskommen soll. Nach vielen Jahren eines grausamen Krieges wurde damals anerkannt, dass um Interessen und nicht nur um den Teilbereich Religion gestritten worden war. Interessenanalyse als diplomatische Aufgabe, erst dann der Interessenausgleich. Das war die Lösung, die zur Beendigung des 30-jährigen Krieges durch einen Friedensvertrag führte.

Keine Vorbedingungen, kein hinterhältiges, „die andere Seite will doch gar nicht“, keine Behandlung der anderen Seite als Inkarnation des Bösen, kein Lamentieren mit den Gräueltaten des Krieges, kein Alleinanspruch einer Religion – an „einem“ Ort, in Münster und Osnabrück,  hatten die Interessenvertreter gemeinsam zu arbeiten. Und haben dann auch den Friedensvertrag präsentiert.

Die unterschiedlichen Interessen und der mörderische Krieg waren nicht mehr das allgegenwärtige, auszurottende Böse, sondern nur noch der Grund für eine Interessenanalyse mit dem Ziel eines Interessenausgleichs.

Nur das sollte das Rollenverständnis oder die Stellenbeschreibung von Frau Baerbock über ihre Aufgaben als Vertreterin der Interessen Deutschlands bei der Beendigung des Krieges in der Ukraine bestimmen.

Die Salzburger Historikerin Lena Oetzel weist auf eine weitere, aus bitteren Erfahrungen entstandene Erkenntnis der damaligen Zeit hin. Die Vertreter der Hauptmächte oder der Kurfürsten hatten nach allgemeiner Überzeugung auch für die Interessen dritter, kleinerer Mächte einzutreten. Spitz bemerkt die Historikerin: „Die gegenwärtig immer wieder geführte Diskussion, welche Rolle die Vereinigten Staaten bei Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine spielen sollten, zeigt die große Bedeutung solcher Rollenverständnisse.“ FAZ 14.12.22.

Reinhart Zarneckow

Erlebt das Reich des Bösen eine Wiedergeburt?

Europäische Studenten 2018

Ich muss von einem Erlebnis berichten, das mich in den letzten Tagen beschäftigt, besorgt, ein wenig ratlos und am Ende doch hoffnungsvoll gestimmt hat – und möchte gerne zum weiteren Gespräch und Nachdenken darüber anregen.

Am Rande eines Familienfestes war ich – meist eher widerwillig – an unterschiedlichen Diskussionen über die vielen aktuellen Streitthemen beteiligt. Widerwillig, weil ich zu oft erlebe, wie fruchtlos solche Gespräche gegenwärtig sind. Angst, Wut und sicher auch Hilflosigkeit stehen einem ruhigen Austausch von Argumenten und Gesichtspunkten gerade sehr im Wege. Das muss man aushalten, möglichst ohne die Gesprächspartner zu verdächtigen oder das Tischtuch zu ihnen zu zerschneiden. Der Hausherr, von dem in einer Kolumne die Rede war, weil er einen Freund zum sofortigen Verlassen seines Hauses aufforderte, nachdem dieser eine abweichende Meinung zum Krieg in der Ukraine geäußert hatte, möglicherweise die Frage, ob die bedingungslose Solidarität des Westens mit Kiew wirklich eine kluge und auch für die Ukraine gute Entscheidung war, ist für mich ein erschreckendes Symptom für eine früher so nicht gekannte Zerrissenheit und mentale Aggressivität in unserer Gesellschaft.

Darum wollte ich eigentlich auch schweigen, als auf unserem Fest die Ereignisse in der Ukraine angesprochen wurden. Zumal wir alle in unserem Entsetzen über diesen völlig sinnlosen russischen Angriffskrieg einer Meinung waren. Bei der Erörterung der Ursachen und der Bewertung von Gegenmaßnahmen gingen die Meinungen dann doch etwas auseinander, wie kaum anders zu erwarten war. Ich habe aufgemerkt, als eine jugendliche Teilnehmerin unserer Runde erklärte, für sie füge sich die russische Aggression ein in eine Strategie des Kremls, die seit langem geprägt sei von einem Kampf gegen Liberalität, Demokratie und Menschenrechte und die die gefährlichen rechtsradikalen Netzwerke in Westeuropa nach Kräften unterstütze.

O weh, gleich gingen mir viele Fragen auf einmal durch den Sinn: Erlebt jetzt etwa das Trauma von der russischen Gefahr, früher festgemacht von rechtskonservativen Kräften an einer kommunistischen Unterwanderung, eine Wiederauferstehung, diesmal im eher linksliberalen Milieu? Muss Dieter Süverküp seine „Erschröckliche Moritat“ vom Kryptokommunisten mit seinen Unterwanderstiefeln um- und neu schreiben? Geht es am Ende bei den Sanktionen und Boykotten doch nicht nur um die Abwehr der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, sondern um eine viel grundsätzlichere Abgrenzung von Traditionen und Kulturen des Ostens, eine neue Mauer zum Schutz vor einem wiedererstandenen Reich des Bösen? Müssen wir darum miterleben, wie einseitig und undifferenziert wir informiert werden?

Davon, wie sehr solche Ängste vor einer russischen Gefahr wiederum wie seinerzeit im Kalten Krieg die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen vor allem der Rüstungsindustrie bedienen, wenn auch nun unter umgekehrtem Vorzeichen, will ich hier gar nicht reden. Die Auseinandersetzungen um NordStream 2 sind ein lehrreiches und beklemmendes Beispiel dafür. Es gehört leider untrennbar zur Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine. Nebenbei: Ob es inzwischen wenigstens einigen der Akteure in der breiten Gegnerfront der Pipeline wie Schuppen von den Augen gefallen ist, wessen Interessen sie in Wahrheit bedient haben? Ich bin außerdem gespannt auf den Tag, an dem die Erbauer der Gasleitung die Rechnung für die auf dem Grund der Ostsee versenkten Milliarden aufmachen. Wer wird dann wohl für die Vertragsverletzungen bezahlen?

Nein, mir geht es heute um etwas anderes. Um es gleich deutlich zu sagen: ich lebe sehr gerne in der freiheitlichen und liberalen Gesellschaft und habe – noch! – Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates. Die antiwestliche Propaganda in Russland ist mir oft fremd und nur mit Mühe kann ich viele ihrer Motive verstehen. Ich glaube allerdings, dass sie genau so wirksam ist wie die seinerzeitige Propaganda in der DDR. Die zunehmende Gefährdung der Demokratie sehe ich daher weniger in Moskau oder in irgendwelchen von dort geförderten rechten Netzwerken, sondern eher bei uns selber, in den unserem westlichen Lebensmodell innewohnenden Widersprüchen: es lebt von dem Wohlstand, dessen ökonomischer und moralischer Preis hoch, zu hoch ist, als dass er auf Dauer Bestand haben und gerechtfertigt werden könnte. Auf dem Nährboden dieser Widersprüchlichkeit gedeihen dann die Ängste und Verwerfungen, mit denen wir es nun zu tun haben und die – pardon – ein gefundenes Fressen für Demagogen aller Couleur sind.

Alle, die sich dem Überlebenskampf der Demokratie verpflichtet fühlen, sollten also klug, besonnen und nüchtern die wirklichen Ursachen ihrer aktuellen Gefährdungen analysieren und ebenso klug, besonnen und nüchtern Alternativen entwickeln, statt an der Schimäre eines neuen Reiches des Bösen zu werkeln – so sehr die gegenwärtigen Machthaber in Moskau auch Gründe dafür liefern mögen. Wenn die mediale Meinungsbildung der letzten Jahre mehr von solchen Überlegungen und Fragen geleitet gewesen wäre als von der Sorge um Pussy Riot oder Alexei Navalny, stünden wir jetzt besser da. Im Blick auf den Ukraine-Konflikt bin ich im Übrigen unverändert der Überzeugung, dass eine friedliche Lösung möglich gewesen wäre, wenn der Westen sie wirklich gewollt hätte. Putin hätte nach seiner Rede im Deutschen Bundestag 2001 beim Wort genommen werden müssen durch ernsthafte Verhandlungen über eine europäische Sicherheitsstruktur mit Russland. Gorbatschows Vision vom gemeinsamen europäischen Haus war damals durchaus noch lebendig! Leider ist nichts dergleichen versucht worden, eher im Gegenteil. Jetzt ist das Kind im Brunnen. Die gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen, dass wir keine Kriegspartei seien, verlieren mit jedem Tag an Glaubwürdigkeit.

Die nun nötige ehrliche Bestandsaufnahme wird zum Abschied auch von manchen anderen liebgewordenen Lebenslügen führen müssen. Unser westliches Lebensmodell kann keineswegs von einer selbstverständlichen Überlegenheitsgewissheit ausgehen. Und: hinter der viel beschworenen Wertegemeinschaft und der moralischen Entrüstung über deren vermeintliche Verletzungen durch andere ( immer nur durch andere! ) lauern oft genug in Wahrheit Scheinheiligkeit oder ganz andere, sehr handfeste Interessen.

Die Diskurskultur in unserer Gesellschaft sei bedroht, so erklärte etwas später die schon erwähnte jugendliche Teilnehmerin unserer Familienrunde. Bedroht nicht etwa durch cancel culture, sondern durch rechte Stimmungsmache, wenn zum Beispiel bestimmte Leute erklären, dass sie nicht mehr wagen zu sagen, was sie wirklich denken. Natürlich kann jeder und jede sagen, was er oder sie denkt, so brach es aus ihr heraus. Sie müssen nur darauf gefasst sein, dass wir sie dann nach Strich und Faden auseinander nehmen. Es gab einen Moment betretenen Schweigens, in den ich dann leise einwerfen konnte, dass eine bestimmt auch für die Rednerin unstrittige Autorität wie Moses Mendelssohn sicher ein anderes Verständnis vom diskursiven Suchen nach Wahrheit gehabt habe. Am Ende bleibe doch nur das Vermächtnis, das Lessings Nathan ihm in den Mund gelegt hat: Es nehme jeder seinen Ring und eifre seiner von Vorurteilen unbestochnen freien Liebe nach.

Ich bin froh, dass wir uns darüber im weiteren Verlauf des Gesprächs verständigen konnten. Das stimmt mich zuversichtlich und hoffnungsvoll. Wir können die vielen Probleme nicht lösen, aber – ein erster Schritt – unsere Einstellung zu ihnen ändern. Dann können wir hartnäckig und mit langem Atem Bundesgenossen für Wege der Vernunft und des Ausgleichs von Interessen suchen, in unseren Familien und Freundeskreisen, aber auch und nicht zuletzt bei und mit unseren Nachbarn im Osten.

Christoph Ehricht

Impfpflicht, Impfgegner, Querdenker und der Präsident von Frankreich

Macron benutzte das Wort “emmerder”, als er lauthals erklärte, Impfgegner zwar nicht einer Zwangsimpfung zu unterziehen aber sie “bis zum bitteren Ende piesacken“ zu wollen, Wiegel, Michaela: Impfgegner sind für Macron keine Bürger mehr, FAZ, 05.01.22. Und ich tappte in die Falle eines unkontrollierten Ärgers. Wer kann angesichts der Gefährlichkeit von Covid-19 und seiner Mutationen, tausenden Toten und einer im Sinkflug befindlichen Realwirtschaft nicht nur die Impfung verweigern, sondern öffentlich in dreister und teils provozierender Weise gegen sie protestieren?

Der Präsident sprach vielen aus der Seele. Endlich wurde nicht mehr rumgeeiert, sondern die Sache beim Namen genannt. Oder spaltet der mächtigste Mann von Frankreich die Gesellschaft, weil er Impfgegner als Gruppe separiert? Weil sie aus unterschiedlichen Gründen die Impfung verweigern, wird ihnen vom Präsidenten nicht nur Verantwortungslosigkeit und ein Mangel an Solidarität vorgeworfen, nein er will sie auch piesacken. Und sie halten fein still und vertrauen dem demokratischen Rechtsstaat?

Mir geht es nicht darum, die Verletzung von Bürgerrechten durch den besorgten Präsidenten in kleinlicher Weise anzuprangern. Mich besorgt, dass die Corona-Inzidenz in Deutschland und auf der ganzen Welt rasant zunimmt und der demokratische Rechtsstaat nicht bereit erscheint. Mich besorgt, dass im “Krieg” (so Macron) gegen das Virus der demokratische Rechtsstaat versagt, weil die Politik das Wechselverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat nicht beherrscht.

Der Rechtsstaat verhindert keinesfalls ein energisches Handeln von Parlament und Regierung, sehr wohl aber Eingriffe bei Menschen, die mit dem Wort “piesacken” umschrieben werden. Ich gewinne aus seriösen Verlautbarungen der Wissenschaft die Gewissheit, dass gegen das Virus ohne Impfung mit bekannten Stoffen wie Biontech oder Moderna kein Kraut gewachsen ist. Warum dann keine Impfpflicht per Gesetz? Und damit nicht nur eine verbindliche Regelung für die Eindämmung des Virus, sondern vor allem ein Ende damit, dass mit jeder neuen Variante von Covid eine weitere Sau inform neuer Regelungen durch die deutschen Lande getrieben wird.

Wir brauchen ein Impfgesetz nicht irgendwann, wenn der letzte Zweifler überzeugt worden ist, sondern “sofort, unverzüglich”. Und das richtet sich auch an die derzeitige nicht nur in dieser Sache uneinige Bundesregierung. Die Pandemie kann nicht à la Kohl ausgesessen werden.

Ich erinnere an die in diesem Block im Frühjahr 2020 kritisierte Ablehnung des Mundschutzes in Eigenproduktion durch Prof. Wieler vom Robert-Koch-Institut, die den Träger nicht schützen würde, siehe auch Beitrag vom 21.03.2020. Schnee von gestern. Der Mundschutz wird heutzutage gepriesen. Wir befinden uns in einer vergleichbaren Situation der Ratlosigkeit. Das ständige Gerede über die Pandemie hängt allen zum Halse heraus. Das Impfgesetz muss her, im Dienst der Klarheit, ich sage stattdessen Rechtssicherheit. Aber ein Gesetz, das nicht nur den Bürger vor dem Virus, sondern ihn auch vor Übergriffen des Staates schützt.

So wie selbst in der DDR nach Einführung der Wehrpflicht eine Regelung für Wehrdienstverweigerer getroffen wurde, müssen auch die Gegner der Impfung die Möglichkeit erhalten, in einem geordneten Verfahren vor einem kompetenten und unabhängigen Gremium ihre Verweigerung zu begründen und die Chance erhalten, von der Impfung freigestellt zu werden. Allerdings muss der demokratische Rechtsstaat “gut drauf” sein. Wir benötigen keine Mehrheit im Bundestag, die eine in der causa Corona Fundamentalopposition darstellende AFD verächtlich macht und ausgrenzt. Wir benötigen angesichts der Demonstrationen in Stadt und Land eine Opposition, die die Anliegen der Impfgegner im Bundestag engagiert vertritt und sich nicht provozieren lässt. Vielleicht gar um der Sache willen und keinesfalls dagegen hält und so “entwaffnet” – eine schöne Träumerei.

Und dennoch: Schluss mit der Verteilung von Adrenalin in mit Aerosol getränkten Sprechblasen zu vieler Abgeordneten. Wir brauchen in schwierigen Zeiten keine Konsensgesellschaft, sondern den besonnenen Streit um die beste Lösung für Pandemien.

Die Medien sollen berichten und informieren, nicht aber erziehen und Zensuren verteilen. Die genussvoll vorgetragenen Berichte über die so unterschiedlichen Demonstranten bei den ”Spaziergängen”, zu denen immer mehr Rechtsradikale gehören würden, sind vergleichbar mit einem Prinzip der politischen Justiz, das der Jurist Kirchheimer beschrieben hat. Der politische Gegner wird kriminalisiert, indem er auf eine Anklagebank neben den Kriminellen gesetzt wird. Und bei der Berichterstattung über die Demonstrationen der Impfgegner wird sortiert und heuchlerisch bedauert, dass zunehmend Rechtsradikale dabei sind und keine Distanzierung von ihnen erfolgt. Und das immer wieder, Tik-Tak.

Alle dürfen demonstrieren, lieber kritischer Leser, und die Polizei muss die Einhaltung des Demonstrationsrechtes durchsetzen, ohne Gejammer, dazu sind sie da. Und wir unterstützen die Polizei durch unsere Anerkennung. Oder schaffen wir das Demonstrationsrecht lieber ab?

Das Parlament verabschiedet die Gesetze, die Regierung setzt sie durch und die Gerichte achten darauf, dass die Gesetze in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz stehen und korrekt angewandt werden. Das hört sich einfach an und ist doch so kompliziert. Rechtsstaat bedeutet nicht Konservierung von Grundrechten oder des status quo unseres Staates nach einem einmal vorgegebenen Schema. Er darf notwendige Veränderungen bei Gefahr des Unterganges nicht verhindern.

Wir leben in einem Land, in dem die jeweilige parlamentarische Mehrheit nur auf Zeit das Sagen in den Grenzen des Grundgesetzes hat. Schlafwandler werden vom Volk exmatrikuliert. Wer das Impfgesetz unter Hinweis auf Art. 2 des Grundgesetzes verhindern will, hat nicht begriffen, dass sich die Verfassung des Landes in den letzten zwei Jahren durch die Pandemie schon längst verändert hat. Und es Aufgabe des Parlaments ist, die Verfassung von Deutschland zu gestalten und die Macht nicht der Pandemie Corona, sprich den Auguren der Wissenschaft oder Populisten zu überlassen.

Impfpflicht muss Impfzwang bedeuten, was denn sonst. Wer sich ungerechtfertigt nicht impfen lässt, sollte mit Zwangsgeld und ersatzweise auch mit Zwangshaft rechnen müssen. Mit dem § 888 ZPO haben wir eine Regelung, die für ein Impfgesetz Vorbild sein könnte. Aber keine Angst, die übergroße Mehrheit wird sich ohne Zwang impfen lassen, die ordnende Verwaltung wird nicht zusammenbrechen.

Andererseits zwingt die Installierung des Impfzwanges den Rechtsstaat zumindest zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit seines Handelns. Gibt es Gründe, die zur Verweigerung der Impfung berechtigen?

Gibt es nicht einen Unterschied zwischen der Autokratie China und unserem demokratischen Rechtsstaat? Wohin geht die Reise?

Welche Gründe könnten das also sein? Ich denke an die Schwangere oder die Mutter, die ihr Kind stillt und meint, der Impfstoff könnte dem Kind schaden. Die Wissenschaft liefert niemals die eine absolute Wahrheit, die Weigerung der Frauen wäre für mich nachvollziehbar. Genauso kann es gesundheitliche Gründe geben, die Gegenstand einer Anhörung sein können. Welche Bedeutung hat die kreatürliche Angst vor einer Impfung für die Psyche Heranwachsender oder auch Erwachsener? Und auch der edle Stamm der impfkritischen Anhänger der Anthroposophie sollte berücksichtigt werden. Und es bedarf eines Katalogs der Rechte, die bis zur Impfung nicht wahrgenommen werden können. Arbeit in Kliniken und Pflegeheimen? Was ist mit der Teilnahme an diversen öffentlichen Veranstaltungen. Keine Trennung (Apartheid) der Menschen in Gruppen gemäß ihrem Impfstatus – ein weites und durch die Geschichte belastetes, schwieriges Feld. Das aber sorgfältig so beackert werden muss, dass der demokratische Rechtsstaat (im Sinne eines kritischen Miteinanders und Gegeneinanders von Demokratie und Rechtsstaat) bestehen bleibt.

Der Impfgegner muss seinen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen dürfen, ohne dass er als Gruppe separiert wird. Hier sind nicht moralisierende Aufgeregtheiten, sondern Fantasie, Verständnis und Solidarität gefragt. Denn wenn wir es ertragen müssen, auf unabsehbare Zeit mit den schlauen und um ihre Existenz kämpfenden Mutationen von Covid zu leben, sollten wir bereit und lernfähig genug sein, den Gegnern der Impfung bestimmt, aber auch mit Respekt entgegenzutreten. Um so einem Zusammenleben ohne Gewalt eine Chance zu geben.

Übrigens stimmt das auch. Es war Herr Macron höchstpersönlich, der sich auf die Anklagebank in der Angelegenheit Populismus gesetzt hat.

Bettina fragt, was ich mit dem letzten Satz meine. Ich wünsche kein anbiederndes Gequatsche, sondern einen klugen Plan, gemeint ist da im besonderen auch unser geheimnisvoller Bundeskanzler, der sich einen Namen erst noch machen muss, liebe Bettina.

Reinhart Zarneckow