von Bettina Zarneckow
„Weißt du, was ich damit verbinde“, fragte ich meine Tochter und zeigte ihr eine alte lederne Reisetasche? „Mit ihr ist dein Großvater immer in den Westen gefahren.
Bis auf sein Insulin und sein Spritzbesteck, das er wegen seiner Diabetes stets dabei haben musste, war sie da noch leer, dann aber auf der Rücktour voll schönster Dinge, die wir uns gewünscht hatten oder mit denen er uns überraschte.“

Mein Vater war Invalidenrentner und durfte mehrmals im Jahr nach Westdeutschland und Westberlin reisen.
Einmal im Jahr erhielten Ostdeutsche bei der Einreise in den Westen dreißig Deutsche Mark, ab 1988 hundert DM. Das Geld war schnell ausgegeben und so kam er auf die Idee, „Ostmark“ zum Umtausch mit hinüber zu nehmen. Im Wissen, dass das verboten war, suchten meine Eltern ein geeignetes Versteck. Sie entdeckten in besagter Reisetasche einen doppelten Boden, unter dem mein Vater, sicherlich mit erhöhtem Pulsschlag, DDR-Mark über die Grenze schmuggelte.
Wir Zurückgebliebenen sorgten uns und mussten darauf vertrauen, dass bei der Ausreise alles gut gegangen war. Heute würde man selbstverständlich zum Smartphone greifen und die Bangenden nach überstandener Grenzkontrolle von der Sorge befreien.
„Wenn du mir früher davon erzählt hast, ist mir gar nicht bewusst gewesen, was es bedeutet hat, dass dein Vater in den Westen fahren konnte und ihr nicht mit durftet“, antwortete meine Tochter.
„Ja, ich verstehe, dass das heutzutage schwer vorstellbar ist“, entgegnete ich, „die Westreisen deines Großvaters waren dabei für alle anstrengende, aufregende, schöne und auch bedrückende Unternehmungen.“
Meistens fuhr die ganze Familie nach Berlin. Unsere Mutter, meine Schwester und ich brachten unseren Vater zum berüchtigten Tränenpalast in der Friedrichstraße. Bis zu einer Absperrung in der Halle konnten wir ihn begleiten. Er passierte dann Kontrollen und musste durch eine schwere Tür, deren strammer Schließmechanismus sich schwer bewältigen ließ. War er hindurch, schloss sie sich blitzartig und unser Vater musste wie jeder Ausreisende aufpassen, dass er sie nicht in den Rücken bekam. Neben strengstem Kontrollpersonal war das eine entwürdigende Schikane der DDR.

Wenn unser Vater nicht mehr zu sehen war, immer ein merkwürdiges Gefühl, begannen wir unseren Tag im Osten Berlins. Wir parkten unseren Wartburg im Parkhaus des Hotels Metropol und schlenderten als erstes durch den dortigen Intershop. Oft bummelten wir Unter den Linden und schauten auf das Brandenburger Tor und die Siegessäule, die scheinbar nah und doch unerreichbar war. Ein Tag in der Hauptstadt der DDR war jedes mal etwas Besonderes. Zu Mittag aßen wir gerne im Café Moskau in der Frankfurter Allee und sahen uns anschließend in der nahe gelegenen Spittelmarktboutique um. In meinem Schrank hängt heute noch eine rosafarbene Bluse vom letzten Besuch damals. Am späten Nachmittag holten wir unseren Vater wieder vom Bahnhof Friedrichstraße ab. Beim Warten sprach mich einmal ein Mann an und ließ eine Handvoll Kleingeld in meine Jackentasche rieseln. Er reise wieder nach Westberlin zurück und es mache ihm Spaß, mir eine Freude zu machen. Ein Rückumtausch in DM wäre nicht möglich, weil das Geld in der DDR bleiben müsse.
Dass der Eiserne Vorhang ein wenig durchlässiger wurde, Besuchsreisen wie die meines Vaters erlaubt und sogar Ausreisen genehmigt wurden, war der Ostpolitik von Willy Brandt zu verdanken, der Moskau und auch Warschau in die Verhandlungen mit der DDR einbezog. Das war Staatskunst, eine Außenpolitik und Diplomatie, wie ich sie heute vermisse! Diese Neue Ostpolitik heute als falsch zu bezeichnen, empfinde ich mehr als taktlos, ja sogar als Affront gegen uns, die wir in der DDR geblieben sind und als Faustpfand für den Frieden in Europa herhalten mussten.
Wie kam es eigentlich ohne Gegenwehr der drei westlichen Schutzmächte zum Bau der Mauer?
Dazu ein Zitat der Bundesstiftung Aufarbeitung zum 13. August 1961:
Die drei Schutzmächte sehen keinen Grund für Gegenmaßnahmen und bleiben gelassen: US-Präsident John F. Kennedy segelt vor Massachusetts, der britische Premier Harold Mac Millan jagt in Schottland, der französische Präsident Charles de Gaulle erholt sich in der Champagne. Alle drei sehen in der Abriegelung lediglich eine Festschreibung der politischen Realität. Kennedy stellt lapidar fest: „Wir werden jetzt nichts tun, denn es gibt keine Alternative außer Krieg.“
Ausreisende aus der DDR, waren es Republikflüchtlinge oder legal Ausreisende, hatten so manche Hürde zu nehmen, wenn sie im Westen angekommen waren. Allen war klar – sie mussten in ein sogenanntes zentrales Aufnahmelager. Neben dem in Gießen und Uelzen war das bekannteste wohl in Berlin Marienfelde. Auch zwei Arbeitskollegen von mir durchliefen dieses Lager. Mein Kollege kehrte nach einem Verwandtenbesuch in Westberlin nicht mehr zurück. Seine Lebensgefährtin stellte daraufhin einen Ausreiseantrag. Als die Aussicht auf Genehmigung bestand, verkaufte sie mir ihren Trabant und legte dieses Geld vornehmlich in teurer Kleidung an, soweit sie zu bekommen war. In einem gerade eröffneten Strickladen in Neuberesinchen ließ sie sich einige Pullover stricken. Viel durfte sie nicht mitnehmen. „Ich möchte schon gut gekleidet im Westen ankommen“, so ihr Anspruch. Im Aufnahmelager gab es Befragungen durch die Geheimdienste der Alliierten und den BND. Flüchtlinge und Aussiedler mussten zwölf Stempel von unterschiedlichen Behörden einholen. Durch die bröckelnde Stabilität der DDR war das Lager Marienfelde zu dieser Zeit, Ende der 80er, vollkommen überfüllt. Die Bedingungen für deutsche Übersiedler, nach der Grünenpolitikerin Göring-Eckardt: Ossis mit Migrationshintergrund, waren nicht rosig. Das wussten die meisten und nahmen es mit einem gewissen Unverständnis aber dennoch gerne in kauf.
Was geschah nach dem Aufenthalt im Lager? Der Berufsabschluss meines Arbeitskollegen als Meister der Fotografie wurde nicht anerkannt, ebenso wenig wie der seiner Lebensgefährtin. Sie war Chemielaborantin. Ich habe mich immer gefragt, welche Maßstäbe bei solchen Entscheidungen angelegt wurden. Wir konnten alle lesen, schreiben und rechnen. In der DDR herrschte ein Bildungskanon, was klassische Literatur betraf. Wir lernten Gedichte auswendig und ein Abwählen von Fächern, wie Geographie, Geschichte oder Biologie gab es nicht. Die Grundlagen des Fotografenhandwerks waren die gleichen.
Mein Arbeitskollege musste dennoch einen nunmehr kostenaufwendigen Meisterlehrgang wiederholen. Er arbeitete deshalb zunächst als angestellter Fotograf, bevor er sich selbstständig machen konnte.
Was haben DDR-Bürger nicht alles ertragen, wenn sie ins „gelobte Land“ wollten. Ein Land, das Karl Eduard von Schnitzler in seiner Montagssendung „Der schwarze Kanal“ in den schwärzesten Farben malte. Die BRD war der Klassenfeind mit menschenverachtender Politik, laut Schnitzler.
Dass er bei den meisten Ostdeutschen genau das Gegenteil von dem bewirkte, was er bezweckte, konnte „Sudel-Ede“, wie er auch genannt wurde, wohl nicht erkennen.
Die Menschen der DDR sehnten sich nach freier Meinungsäußerung und offenen Grenzen. Ich wollte aus vollem Herzen das Lied der Deutschen singen, konnte es auswendig – die Deutsche Nationalhymne von Heinrich Hoffmann von Fallersleben mit allen Strophen. Ich wollte ein wenig Nationalstolz zeigen, was ich in keiner Weise als anstößig empfand. Denn ich fühlte mich als Deutsche, als Mensch mit der gleichen Geschichte wie unsere Schwestern und Brüder im freien Teil unseres gemeinsamen Landes. Heimatverbundenheit, Vaterlandsliebe, das durfte ich nur in innerer Emigration empfinden. Heimatverbundenheit mit dem freien Land meiner Eltern und Großeltern, nicht aber mit der DDR.
Aus heutiger Sicht – bin ich deshalb rechts?
Nach dem Mauerfall und in den folgenden Jahren kamen wir „Ossis mit Migrationshintergrund“ dann ins Staunen… War das – ist das die Freiheit, für die wir 1989 auf die Straße gegangen sind?
Zurück zu meinem Vater. Wir hatten nie Sorge, dass er von einer Besuchsreise ins „kapitalistische Ausland“ nicht mehr zurückkommen würde. In Frankfurt (Oder) lebte seine Familie, hier war sein Kleingarten, den er Jahr für Jahr mit Herzblut bestellte und reichlichen Ertrag erntete. Für uns, für seine Frau und seine Kinder – das war Heimat!

Zur Teilung und Wiedervereinigung ein Auszug aus „Heimat und Sprache“ (1992) von Hans-Georg Gadamer:
Er beschreibt, „wie die Rückkehr aus dem Exil ein neuer Bruch sein kann oder den alten Bruch noch einmal wie einen Schmerz fühlbar macht.
Wir erleben es auch in Deutschland, was ein solcher Bruch ist, der das Gespräch schwer macht. Beide Partner eines Gesprächs stehen vor einer neuen Aufgabe, eine neue Identität zu finden. Wie groß die Kraft des Geistes und des Herzens sein mag, der Mensch kann Zeit nicht zurückholen. Wozu wir zurückkehren, ist anders geworden, und ebenso ist anders geworden, wer zurückkehrt. Zeit hat beide geprägt und verändert. Für jeden, der zurückkehrt, ist die Aufgabe, in eine neue Sprache einzukehren. Es ist ein Hauch von Fremdheit an allem, wohin man zurückkehrt.“
Liebe Bettina.
Eine tolle Geschichte, die mit meinen bösen Schlussfolgerungen brisant werden kann. Finden derartige Prozeduren, die aus Furcht vor kommunistischer Unterwanderung DDR – Bürgern bei ihrer Einreise in den Westen auferlegt wurden (allerdings aus einem Staat, den es offiziell ja für die BRD nicht gab und der als hochgradig gefährlich galt), für Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien usw. auch statt? Ich weiß es wirklich nicht, bezweifle es aber.
Vielleicht wären gleiche Aufnahmeprozeduren für Neuankömmlinge ein Anfang, etwas mehr Kontrolle, Ruhe und Sicherheit für uns alle einkehren zu lassen: Kein Flüchtling verlässt das Lager, bevor nicht so wichtiges wie sein persönlichen Daten sicher geklärt sind.
Wenn das dann nicht nach Artikel 1 Grundgesetz zulässig oder mit der uns so oft auf den Wecker fallenden bürokratischen Gründlichkeit nicht vollziehbar sein sollte, würden sich daraus für den Bundestag die Notwendigkeit neuer Überlegungen ohne Schranken ergeben, zum Beispiel Änderungen im Recht.
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So brisant die Einreise in die BRD bzw. die Flucht aus der DDR (Heißluftballon) auch war, gültige Ausweispapiere konnten alle vorweisen.
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Ja, Bettina, im Café Moskau aß ich immer Boeuf Stroganoff, kannst Du Dich erinnern? Da immer Gäste aus dem Ausland dort waren und die Kellner Englisch als auch Französisch konnten, öffnete ich meine „unterste Schublade“ und holte meine feinsten Manieren heraus. Da legte ich besonderen Wert darauf! An Karl Eduard von Schnitzler kann ich mich erinnern. Ich wollte seiner Sendung länger als 5 Minuten zuhören. Aber ich konnte nicht. Jedesmal packte mich die Wut über die aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate der Politiker und Journalisten. Und seine Wortwahl war so zynisch. Ich schaffte es einfach nicht.
Mach weiter so, Bettina. Du kennst noch so viele Geschichten. Camilla
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Danke, Camilla. Natürlich erinnere ich mich. Ich habe ja auch Boeuf Stroganoff gegessen. Darauf haben wir uns doch immer gefreut. Ja, Karl Eduard… es war manchmal derart hanebüchener Unsinn, den er von sich gab, dass es schon an Komik grenzte. Aber man konnte es wirklich nicht lange ertragen. Eigentlich glaubt man, es ist alles erzählt und dann fällt einem doch noch etwas ein. Diesmal war es der Gedanke an die Tasche 😉
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Ihr beide wart aber auch besonders süße Kinder! 🐣
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Danke schön, Johaennchen 🥰
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Sehr schöner Text! So war es und so oder ähnlich haben wir es erlebt.
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Danke schön!
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