Erlebtes und Versäumtes

Wenn man so viel Bestätigung für einen Artikel bekommt und bei Lesern Gedanken an ähnliche Begebenheiten auslöst, lässt man sich gerne noch einmal in längst vergangene Zeiten fallen. Natürlich kommen bei mir dabei nostalgische Gefühle auf. Darf man sie heutzutage noch zulassen? Noch dazu als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist? Wird man nicht der Verklärung schuldig gesprochen?

Es gibt kein Privileg auf Nostalgie! Jeder Mensch hat das Recht auf Heimweh, sich auf vergangene Zeiten zurückzubesinnen, ein warmes Gefühl in sich aufsteigen zu lassen. Sich so an Kindheit und Jugend zu erinnern, Bewährungsproben, die erste Liebe – vielleicht verbunden mit einem bestimmten Lied oder einem lieb gewordenen Gegenstand, der Symbol wird für das, was nicht mehr ist.

Verbundenheit ist für mich das Stichwort. Sich zugehörig fühlen, in Bezug stehen zu etwas, zu jemandem, einer Umgebung, einer Landschaft. Und natürlich in Bezug stehen zur Vergangenheit, die mein Leben bedeutet mit allem, was dazugehört!

Es ist bekannt, dass Vorfreude nicht nur ein sehr schönes Gefühl, sondern auch der Gesundheit zuträglich ist. Nach jüngsten Studien gilt das gleiche für die Nostalgie, der man sich bedenkenlos hingeben sollte,
so der Neurowissenschaftler Prof. Tobias Esch.
Na dann los:

Ich krame in meinen Fußballalben, die ich in meiner Schulzeit geführt habe. Neben zahlreichen Postkarten und Postern westdeutscher Fußballspieler und Mannschaften finde ich Stadionhefte von Spielen, zu denen ich im Stadion der Freundschaft in Frankfurt (Oder) gewesen bin.

Mittwoch, 15.September 1982. Gleich nach der Schule war ich mit Jungs meiner Klasse verabredet. Zusammen wollten wir zum UEFA-Pokal-Spiel FC Vorwärts Frankfurt (Oder) gegen Werder Bremen. Vorher aber zum Hotel Stadt Frankfurt, um zu sehen, ob wir die Spieler des SV Werder Bremen erwischen konnten. Ein Autogramm von Otto Rehhagel, ein Foto mit Uwe Reinders, ein Trikot von Rudi Völler oder einfach nur die Mannschaft aus dem anderen Teil Deutschlands live erleben und einen Blick auf ihren westdeutschen Bus werfen. Ein unglaublicher Andrang auf dem Platz vor dem Hotel. Fußballfans, Schaulustige und jede Menge Staatssicherheit. Akkurat gekleidete Herren, die man sofort erkannte. Sie schoben sich fragestellend durch die Massen. Was so besonders wäre an dieser Mannschaft? Warum wir hier warten würden und vor allem, was wir uns erwarteten? Ein wenig Respekt hatte ich schon vor denen, die fragten und ihrer einschüchternden Neugier.
Der Bus der Bremer traf ein. Die Mannschaft kehrte vom Training im Stadion zurück. Jubel, ohrenbetäubender Lärm. Alle drängten zum Bus. Ordner sorgten dafür, dass die Spieler durch eine abgesperrte Gasse ins Hotel kamen. Keine Chance auf ein Autogramm.
Um 17.00 Uhr war Anpfiff. Nach Hause zu gehen lohnte sich nicht mehr. Wir machten uns auf den Weg zum Stadion. Die erste Halbzeit schauten wir von unseren ungünstigen Plätzen im Stadionoval an. Zur zweiten Halbzeit beschlossen wir, auf eine am Rand befindliche etwa 2 Meter hohe Bande zu klettern, um beide Platzhälften besser zu übersehen. Das war zwar verboten, aber dieses Abenteuer wagte ich zusammen mit den Jungs.
In unbequemer Position, aber glücklich, verfolgten wir die 1:3 Niederlage der Oberligamannschaft gegen den Bundesligisten.

Im selben Jahr, genau an meinem Geburtstag, starb Leonid Breschnew. Derartige Nachrichten waren natürlich Thema der „Politinformation“.
Zu gegebenen Anlässen wurden die ersten fünf Minuten der ersten Unterrichtsstunde dazu genutzt. Diesmal nahmen wir die Nachricht sogar mit auf den Pausenhof.
Wir, eine kleine Mädchengruppe, spazierten immer untergehakt über den Hof. Ein wenig vorlaut und sicher auch wichtigtuerisch, ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, dass es nun wohl nicht mehr lange dauerte, dass auch unser Staatsratsvorsitzender Erich Honecker aus Gram über den Verlust seines sozialistischen Bruders und dessen Bruderkuss das Zeitliche segnen würde.
Hui, war das gewagt?
In der nächsten Hofpause kam eine Klassenkameradin in Begleitung ihrer älteren Schwester entschiedenen Schrittes auf mich zu. Wenn ich diese oder ähnliche Bemerkungen noch einmal von mir geben würde, dann würde sie das dem Direktor melden. Mein Verhalten wäre staatsfeindlich, so die große Schwester. Das saß. So hartgesotten war ich dann doch nicht, davon unbeeindruckt zu bleiben. Ihre Einstellung konnte man den Schwestern nicht verübeln. Beide Eltern waren stramme Genossen, vom Sieg des Sozialismus mehr als überzeugt. Trotzdem mochte ich die Eltern, die die Geburtstage ihrer Tochter, zu denen ich regelmäßig eingeladen war, sehr gastlich gestalteten, immer aufrichtig freundlich und humorvoll waren.
Kurz nach der Wende starb der Vater. Den Umsturz und das Zerbrechen all seiner Ideale hat er nicht verkraftet, erzählte mir meine Klassenkameradin Jahre später.

1987 – Ein Schwenk in mein Berufsleben: Als Fotografin stand man auch im Laden. Filme annehmen, Fotos ausliefern, Kassieren, Passbilder und andere Porträts im Atelier aufnehmen. Seit einigen Monaten kam regelmäßig ein Afrikaner namens Massamba in unseren Laden. Er war von gepflegter Erscheinung, gut gekleidet, vor allem bunt. Er machte eine Ausbildung in der DDR. Bei einem Besuch, der sich als sein letzter herausstellte, fragte er in gebrochenem Deutsch nach „Chef“. Ich war allein im Laden, konnte ihn nicht verlassen und erklärte Herrn Massamba den Weg zu unserer Werkstatt, zwei Häuser weiter, in der auch das Büro unserer Chefin war.
Etwa 20 Minuten später kam sie ein wenig echauffiert, halb belustigt, halb entsetzt zu mir in den Laden. „Wen hast du mir denn da geschickt? Weißt du, was Herr Massamba wollte? Er wollte meine Zustimmung, dich mit nach Afrika nehmen zu dürfen und war dabei sehr hartnäckig. Erst einmal habe ich ihm versucht zu erklären, dass ich nicht deine Mutter bin und dass deine Eltern sicher etwas dagegen hätten. Dann gab ich ihm zu verstehen, dass wir dich brauchen und du wahrscheinlich vom Staat auch keine Ausreisegenehmigung bekommen würdest. Nein, Betti“, so wurde ich von meinen Arbeitskollegen genannt, „stell dir mal vor, du wirst dann weitergetauscht gegen eine Kuh oder ein paar Ziegen. Das geht doch nicht. Oder wolltest du mit?“ Wir mussten beide lachen, aber ein wenig beeindruckt waren wir auch.
Herr Massamba verließ die DDR mit einem Facharbeiterbrief in der Tasche, aber ohne mich.


Hier endet mein Rückblick. Ich kann aber nicht garantieren, dass es der letzte war.

Bettina Zarneckow

8 Gedanken zu “Erlebtes und Versäumtes

  1. Avatar von Camilla Klich Camilla Klich

    Ach, ja … beim Fußballspiel gegen den SV Werder Bremen 1982 war ich mit! Ein Bremer Spieler hatte auch am 20.11. Geburtstag. So, wie ich. Ich weiß aber nicht mehr, welcher.
    Das war ein Gedränge! Die Bremer sahen ALLE gut aus. 🙂
    Und beim Tod von Leonid Breschnew (ich weiß das noch ganz genau) ist der Fasching abgesagt worden! Es war der 11.11. Eine Klassenkameradin mit einem dicken Zopf hat gleich die FDJ-Bluse angezogen und geheult! Wir, meine Busenfreundin Grit und ich, haben uns Blicke zugeworfen. Wir sind dann auf sie zu geschlendert. Sage mal, hat Grit vorsichtig gesagt, meinst du nicht, dass es ein wenig zu viel des Guten ist? „Ach, lasst mich …“ hat Andrea gesagt und heulte weiter … Tja, was soll man da sagen?
    Camilla

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  2. Dass Bundesligamannschaften auch mal bei uns im Osten spielten, wusste ich gar nicht. Na ja, Frankfurt/Oder war von Strausberg auch ziemlich weit weg. 😂
    Von Breschnews Tod schrieb ich auch einmal auf dem Blog, dieses Ereignis war einschneidend, selbst wenn nur der abgeblasene Faschingsauftakt die Traurigkeit auslöste. Bei vielen war es aber doch mehr, eine diffuse Angst vor dem, was danach käme.
    Liebe Bettina, wer weiß, wie dein Leben noch verlaufen wäre, hättest du das nette Angebot der Ausreise nach Afrika angenommen … 😉
    Herrliche Erinnerungen, danke.
    Liebe Grüße von Anke

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    1. Auch Arminia Bielefeld und Nottingham Forest waren in Frankfurt (Oder). Ja, ich weiß, dass der Tod von Breschnew eine gewisse Unsicherheit verursachte. Ängste und Hoffnungen schürte.
      Der Radius meiner bisher absolvierten Reisen (bis auf Petersburg) ist nicht sehr groß. Wahrscheinlich wäre ich mit der Ausreise nach Afrika über mich hinausgewachsen 😅. Aber in Strausberg war ich schon, trotz der großen Entfernung 😉.
      Liebe Grüße an dich, Bettina

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  3. Avatar von Christoph Ehricht Christoph Ehricht

    Liebe Bettina,
    nun ist auch bei mir die nachfeiertägliche Ruhe eingekehrt und die letzten Gäste sind verabschiedet – und das heißt, ich kann nun Deine beiden Erinnerungstexte lesen und mich an ihnen erfreuen. Hab Dank dafür. Ich empfinde es als echten Gewinn, nun ein junges Frankfurter Mädchen namens Bettina so lebendig vor Augen haben zu können. Und bin erleichtert, dass Du nicht in Mozambique abgetaucht bist… Natürlich haben Deine Gedanken auch in meinem Gehirn Erinnerungsprozesse ausgelöst, die hier wiederzugeben würde aber die Grenzen eines Kommentars sprengen. So will ich diesen Platz nur nutzen, um Dir und der ganzen Blog-Gemeinde ein gutes Jahr 2024 zu wünschen, hoffentlich halbwegs vernünftig, wie es dem großen Jubilar dieses Jahres entspricht!
    Dein Christoph

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    1. Ich freue mich, lieber Christoph, dass Du anhand meiner Aufzeichnungen etwas vor Augen hast. Dass Du das dann noch als echten Gewinn betrachtest, empfinde ich als sehr wohltuend. Danke! Sicher ahnst Du, dass mich Deine Erinnerungen ebenso interessieren würden. Vielleicht kann ich Dich ja ermuntern, wieder einmal etwas aufzuschreiben, wenn es Deine Zeit zulässt.
      Ich teile Deinen Wunsch nach einem halbwegs vernünftigen Jahr in Gedanken an Immanuel Kant, wünsche mir aber auch, dass mehr Menschen die Welt, vor allem die Natur, mit den Augen eines weiteren Jubilars dieses Jahres anschauen, genauso romantisch. Ich will es sehr gerne versuchen!
      Sei lieb gegrüßt
      Deine Bettina

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  4. Hallo Bettina, ich habe mich auch sehr amüsiert, aber deine Angst vor den beiden Schwestern kann ich sehr gut nachvollziehen. Es geht doch wohl nicht an, dass so eine „Göre“ mehr oder weniger den Tod unseres allseits geliebten Staatsratsvorsitzenden E.H. voraussagt (Satiremodus wieder aus!)
    Und wie Anke wusste ich auch nicht, dass Westmannschaften zu uns zum Spielen kamen – durften dann die Frankfurter auch in den Westen zum Spielen? Und wie viele waren sie bei der Rückfahrt noch?
    Mich interessiert Fußball gar nicht – ich kann keine einzige Regel, aber ich bin auch nicht traurig.
    Der Afrikaner wollte dich bestimmt mitnehmen, weil er dich sicher hätte gut tauschen können, um seinen Lebensstandard zu erhöhen 🙂 😉
    Und tschüss sagt Clara

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    1. Vielen Dank, Clara, dass du auch gleich an ein Tauschgeschäft mit mir gedacht hast 😅.
      Für Fußball habe ich mich schon seit meiner Kindheit interessiert, wie du gelesen hast und kenne auch ganz gut die Regeln. Sicherlich sind damals einige Spieler im Westen geblieben. Ich erinnere mich an Falco Götz und Dirk Schlegel vom BFC Dynamo, die dann in Leverkusen spielten. Danke und tschüss sagt auch Bettina.

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