Geschichten aus der Rathenaustraße – Fortsetzung III noch immer Hennigsdorf

Bericht Horst Kaczmarek Teil 3 -„Ist jetzt Frieden?“

DIE STALINORGEL

Um vom S-Bahnhof zu unserem Haus zu gelangen, gab es zwei Möglichkeiten. Einmal die Straße, das war aber weit. Zum anderen den Weg über eine unbewirtschaftete Freifläche. Dieser Weg wurde von vielen Menschen genutzt, so dass sich schon ein richtiger Trampelpfad herausgebildet hatte. Ich habe den Trampelpfad auch oft benutzt. Doch einmal hätte es mein letzter Heimweg werden können! Ich hatte schon fast die Straße erreicht, als hinter mir ein wahres Höllenspektakel begann. Ich wollte mich umdrehen, um mir das Spektakel anzusehen, da bekam ich einen Stoß, der mich zu Boden warf und gleichzeitig schrie mich eine Stimme an: “Liegenbleiben und Kopf in den Sand“. Das Spektakel dauerte nur kurze Zeit. Es war ein Soldat, der mich zu Boden riss. Er erklärte mir, dass es sich eben um einen Raketenangriff mit einer Stalinorgel gehandelt und wir großes Glück gehabt hatten.

Die Stalinorgel war eine gefürchtete Waffe der Roten Armee. Vermutlich sollten die Raketen den Bahnhof treffen. Da ist alles noch einmal gut abgegangen. Zuhause wurde das Erlebnis nicht erzählt.

DIE GRANATE

Wenige Tage später, es war der 24. April, als wir wieder wie immer über den Verlauf der Front debattierten, gab es einen lauten Knall. Aus einem der benachbarten Häuser stieg Rauch auf. Dann hörte man eine Frauenstimme laut aufschreien. Wir liefen zu diesen Haus hinüber in der Hoffnung, Hilfe leisten zu können. Einige liefen vielleicht auch aus Neugier dorthin. Was wir dort sahen, war kaum zu beschreiben. Eine Granate war mitten in der Küche explodiert und hatte einen Ort der Verwüstung hinterlassen. Die achtzehnjährige Tochter des Hauses war nicht wiederzuerkennen. Das Mädchen saß noch am Tisch, hatte aber keinen Kopf mehr, alles war mit Blut verschmiert. Ein Bild, das ich nie vergessen werde. Auch der Aufschrei der Mutter, als sie ihre Tochter entdeckte, bleibt mir unvergesslich. Ich habe lange überlegt, ob ich dieses Erlebnis in seiner Grausamkeit niederschreiben soll. Aber will man die Grausamkeit eines Krieges darstellen, gibt es nur diesen Weg. Später habe ich im Internet unter “Hennigsdorf1945“ folgenden Eintrag gefunden:

(Gegen 18 Uhr traf die Antwort der sowjetischen Artillerie ein und entfachte in der Horst-Wessel-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße) verheerende Wirkung. Zwei tote Frauen waren das Ergebnis eines Artillerievolltreffers in einem Wohnhaus in der nördlichen Horst-Wessel-Straße um 18 Uhr: eine 18-jährige kaufmännische Angestellte und eine 57-jährige Kriegsaushilfsangestellte aus Frankfurt (Oder) wurden durch eine sowjetische Schrapnell-Granate in der Küche getötet)

DIE RUSSEN KOMMEN

Es konnte nun nicht mehr lange dauern und und die Russen würden vor der Tür stehen. Das drohende Geräusch der heranrollenden Panzer kam immer näher. Wir wünschten uns dieser Stunde gegenseitig viel Glück. Auf diesen Moment sind wir vorbereitet, ob richtig oder nicht, wir werden sehen. Genug Gerüchte waren im Umlauf. Alle hatten Angst vor dem, was da auf uns zukam. Man sagte hinter vorgehaltener Hand, dass deutsche Soldaten in Russland auch nicht gerade wie Ehrenmänner aufgetreten sind und die Russen würden sich jetzt bitter rächen. Wir waren uns in einem Punkt einig, wir wollten die Rote Armee gemeinsam im Luftschutzkeller erwarten. Es blieb uns ja auch nichts anderes übrig.

“Die Russen kommen!” Mit diesen Worten kam der Beobachtungsposten in den Keller und berichtete, dass soeben ein russischer Panzer in unsere Straße eingefahren sei. Es wurde still im Keller, die Gespräche verstummten. Jeder versuchte, auf seine Weise mit der Angst fertig zu werden. Kinder weinten, eine Oma sprach das “Vater unser“ halblaut vor sich hin. Mütter weinten leise und versuchten ihre Kinder zu beruhigen. Alle zitterten mehr oder weniger vor sich hin.

Ich, dem man beigebracht hatte wie ein deutscher Junge zu sein hat, nämlich “flink wie ein Wiesel, hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder”, hatte all diese Eigenschaften vergessen und zitterte genau so vor Angst wie die Mitmenschen hier im Keller. Was wird jetzt passieren? Dann hörten wir Schritte auf der Kellertreppe, da waren sie! Zwei russische Soldaten standen vor uns, mit dem Sturmgewehr im Anschlag. Einer fragte : “Soldat ist?“ Aus der verängstigten Gruppe antwortete jemand mit zitternder Stimme: ”NJET, keine Soldaten”.

So schnell wie die zwei gekommen sind, waren sie auch wieder weg. “War das alles?” lautete die ungestellte Frage. Wir hörten von draußen Stimmen, konnten aber nichts verstehen, es waren russische Laute. Aber dann ging es erst richtig los. Lärm auf der Kellertreppe. Plötzlich standen drei Soldaten bei uns im Keller. Einer blieb in der Tür mit dem schussbereiten Sturmgewehr im Anschlag stehen, während die anderen zwei jedem Bewohner ins Gesicht und auf den linken Unterarm schauten. Sah er eine Uhr, bekam der Träger mit den Worten “Uri, uri, dawei“ die Aufforderung, diese zu übergeben. Sie suchten auch nach deutschen Soldaten, die sich versteckt haben könnten. Wir hatten aber keine Soldaten versteckt. Also zogen sie ab. Und wir waren einige Uhren los. Immer wieder waren Schritte und russische Laute im Haus zu hören. Die Angst wollte nicht weichen. Dann wieder Schritte auf der Kellertreppe. Was wird jetzt passieren, war die bange Frage.

Wir sollten es sofort erfahren. “FRAU KOMM”. Das sind zwei deutsche Worte, die jeder russische Soldat kannte. Die deutschen Frauen wurden von den Sowjetsoldaten als Kriegsbeute angesehen, sie waren vogelfrei, sie konnten mit ihnen ungestraft machen, was sie wollten . Diese Worte “FRAU KOMM“ werden in der nächsten Zeit unser Leben begleiten. Ich war sechzehn Jahre alt und mit dieser Situation vollkommen überfordert. Ich musste mit ansehen, wie junge Frauen aus dem Keller geholt wurden und nach einiger Zeit weinend wieder zurück kamen. Im Keller wurde erzählt, dass eines der jungen Mädchen sieben mal hintereinander vergewaltigt wurde. Für Ruhe im Keller hat immer ein auf uns gerichtetes Sturmgewehr gesorgt.

Langsam wurde es ruhiger, es war sicher schon dunkel draußen. Die Soldaten haben den Keller verlassen, aber unsere Angst war immer noch präsent. Wir hatten jedes Zeitgefühl verloren, bis wir wieder Schritte und Stimmen hörten. Dieses mal waren es deutsche Laute. Eine Frau nahm all ihren Mut zusammen und ging nach oben um zu sehen, wer da spricht. Kurz darauf rief sie in den Keller: „Ihr könnt rauskommen, es ist alles ruhig.“

Es war ein schöner, sonniger Morgen. Die Oma, die am Abend noch innig mit ihren Gott gesprochen und ein Vater unser nach dem anderen gebetet hatte, fragte uns mit zittriger Stimme:

”IST JETZT FRIEDEN ?”

“NEIN, ABER BOMBENFLIEGER KOMMEN NICHT MEHR“.

Hier enden die Berichte von Horst Kaczmarek. Wie mir seine Tochter mitteilte, kehrte die Familie nach Kriegsende wieder nach Frankfurt zurück. Lona Nacke hat sich gerade in den letzten Jahren viel mit ihrem Vater über diese Zeit unterhalten und will nun selbst weitere Erinnerungen aufschreiben.

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