Erneutes Nachdenken über Wirtschaftskriege

Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff haben eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihrer Studie über Geschichte und Gegenwart von Wirtschaftskriegen veröffentlicht. Meine Erlebnisse bei der Lektüre der ersten Ausgabe aus dem Jahr 2019 habe ich hier im September 2021 geschildert. Nun will ich gerne auch Anteil geben an meinen Eindrücken beim Lesen des neuen Buches.

Die deutsche Fassung ist nach einer englischen vom Sommer 2022 offenbar zum Jahreswechsel 2022 / 2023 fertig gestellt und gewiss nicht zuletzt durch die aktuellen Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 veranlasst worden. Das Buch hat über 100 Seiten dazu gewonnen, aus der Gliederung in 5 Kapitel sind jetzt 10 geworden. Die gute Lesbarkeit und die Zielstrebigkeit von Gedankenführung und Argumentation haben dadurch vielleicht ein wenig an Kraft verloren. An der Grundkonzeption haben die beiden Autoren jedoch nichts verändert. Meine frühere Würdigung wie auch meine Fragen behalten also ihre Gültigkeit, jedenfalls aus meiner Sicht.

Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

Auch das schöne Zitat aus Goethes Faust wurde übernommen: „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“ (S. 15). Allerdings muss ich ein wenig darüber grübeln, warum die sehr einleuchtende Anwendung dieses Leitmotivs aus der ersten Ausgabe nicht Eingang in die Überarbeitung gefunden hat: „Leider lässt sich tatsächlich ein großer Teil der Weltgeschichte als zeitlich und sachlich enger Zusammenhang von Krieg, Handel und Piraterie erzählen und erklären.“ (dort S. 10)

Vielleicht verbietet sich diese Sicht der Dinge für die Autoren, weil für sie seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine grundsätzlich veränderte Beurteilung der Wirklichkeit unumgänglich geworden ist: „Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Demokratien und Autokratien wird besser verstanden, die Zerbrechlichkeit vieler Produktions- und Lieferketten kommt zu Bewusstsein, und die Sensibilität für eigene Abhängigkeiten von nichtbefreundeten Mächten wächst. … Die westlichen Demokratien sehen ihre systemischen Rivalen und die Globalisierung mit anderen Augen. Ob sie aus dem so Erkannten auch die richtigen Schlüsse ziehen, bleibt abzuwarten.“ (S. 14) Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass nach meiner Überzeugung aus einem Welt- und Wirklichkeitsbild, das in „unüberbrückbaren“, also – wie es die zum Glück doch eigentlich überwundene Propagandasprache der marxistisch-leninistische Geschichtspolitik genannt hätte – „antagonistischen“ Gegensätzen denkt, selten die richtigen Schlüsse gezogen werden können. Immer gibt es neben Schwarz und Weiß die vielen Nuancen des Grau.

Meine Lektüre der Neuausgabe des Buches war geleitet von der Frage, ob es zu neuen Erkenntnissen helfen würde, die für eine Urteilsbildung über den Ukraine-Konflikt von Belang sein könnten. An verschiedenen Stellen wird der Werdegang des Konfliktes referiert, etwa im Abschnitt „Der Wirtschaftskrieg des Westens mit Russland“ (S. 56 ff.) Ich will das hier gar nicht kommentieren. Eine differenziertere Schilderung, die auch die russische Sicht und Wahrnehmung der Entwicklungen seit 2001 einbezieht, wäre aus meiner Sicht wünschenswert. Sie wird aber sicher erst mit größerem zeitlichem Abstand möglich sein. Einige Überlegungen dazu sind in meiner früheren Besprechung des Buches zu lesen.

Gegenwärtig stellt sich für die beiden Autoren vorrangig die Frage, ob die nach dem offensichtlichen Bruch des Völkerrechts durch den russischen Angriffskrieg seit dem 24.2.22 vom Westen eingeleiten Sanktionsmaßnahmen gerechtfertigt sind und Erfolg versprechen. Dazu lesen wir die eindeutige Antwort: „Die ergriffenen Wirtschaftssanktionen richten in Russland massiven Schaden an, sie sind für die Erreichung der westlichen Wirtschaftskriegsziele wirksam und steigern die Aussicht darauf, dass Moskau von seiner Aggression ablässt, und sie waren und sind trotz erheblicher Kosten die beste verfügbare Option.“ (S. 164)

Allerdings wird auch nicht verschwiegen: „Die westliche Koalition hat die Ziele ihres Wirtschaftskrieges gegen Russland nicht abschließend definiert. … Die ukrainischen Bedingungen könnten zum Beispiel der Rückzug der russischen Truppen weit hinter die eigene Staatsgrenze, Sicherheitsgarantien, Schadenersatz, Reparationen und die Bestrafung russischer Kriegsverbrecher einschließen. Bis zum Erreichen dieser Ziele könnten also westliche Wirtschaftskriegsmaßnahmen ganz oder teilweise fortgesetzt werden. Außerdem erscheint auf unabsehbare Zeit, die sich vermutlich eher nach Jahrzehnten bemisst, die strukturelle wirtschaftliche und technologische Schwächung Russlands geboten, solange sich dort kein durchgreifender Wandel vollzieht.“ (S. 154 f.)

Im abschließenden Teil des Buches unter der Frage „Was tun?“ wird dieser Gedanke aufgenommen und als eigene Empfehlung der beiden Autoren konkretisiert: „Russland muss nun zunächst und möglichst für immer beigebracht werden, dass es seine Lage durch militärische Gewaltanwendung nur verschlimmern kann. Danach mag es wieder zum Handelspartner und Rohstofflieferanten des Westens werden. Allerdings wird sich das geschwächte Russland in Zukunft wirtschaftlich wohl vor allem nach Asien orientieren, und man wird es dort vermutlich entsprechend einhegen, um den internationalen Frieden zu schützen. Es läge allerdings nicht im westlichen Interesse, sollte China in Russlands Fernem Osten unternehmerisch vordringen und darüber hinaus die gesamtrussische Infrastruktur instand halten und managen, denn das brächte Peking noch näher vor EU-Europas Tür. Russland soll sich China gegenüber behaupten können. Auch darum wird nach dem Ende des Ukrainekrieges ein gewisses Maß an westlicher Zusammenarbeit mit Russland nötig sein.“ (S. 281)

In diesen Sätzen wird ein dreifaches Problem deutlich. Zum einen verlassen die Autoren das Genus einer differenzierten wissenschaftlichen Analyse mit den Werkzeugen des Historikers und des Wirtschaftsethikers und öffnen sich einer politischen Programmatik. Wahrscheinlich ist dieser Wechsel in der bedrängenden aktuellen Situation unumgänglich. Wäre darauf verzichtet worden, hätte dies ebenso zu kritischen Nachfragen geführt. Aber klug beraten sind wir, wenn wir uns nüchtern den Vorbehalt vor Augen führen, dass für viele Überlegungen die Zeit noch nicht reif ist.

Zum anderen wird hier aber auch ein westliches Denken deutlich, das nun selbst nicht unwesentlich zum Konflikt beigetragen hat. Als ich die zitierten Sätze las, dachte ich: Um Himmels willen, hoffentlich liest das keiner in Moskau. Denn es ist auf russischer Seite ja genau dieses propagandistisch ausgenutzte, aber eben wie man sieht nicht völlig unbegründete Gefühl, das mit zu dem gegenwärtigen Desaster geführt hat: Der Westen will uns zähmen und schwächen und uns allenfalls gönnerhaft und widerwillig als Rohstofflieferanten akzeptieren. Und leider ist dieses Denken ja keineswegs erst seit dem 24.2.22 bestimmend.

Dafür gibt es viele, an anderen Stellen genügend aufgeführte Beispiele, ich komme später auf zwei von ihnen darauf zurück. Hier will ich nur noch einmal an die gelinde gesagt halbherzigen Bemühungen des Westens erinnern, zur Umsetzung der Minsker Friedensabkommen beizutragen, die ja keineswegs nur an Moskau gescheitert ist. Wohl eher im Gegenteil. Nebenbei: auch Minsk I und II waren geltendes Völkerrecht, das gebrochen worden ist. Und es hat in der ganzen Zeit bis zum Kriegsausbruch auch in Kiew andere politische Kräfte und Bewegungen gegeben, die einen Interessenausgleich mit dem russischen Nachbarn eher näher gerückt hätten als die Politik der Regierung, die von vornherein immer nur auf die Zusage der militärischen Unterstützung der NATO vertraut hat und auf die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste. Mich hat immer irritiert, dass diese anderen Stimmen aus Kiew in unseren Medien nie zu hören waren.

Und drittens: Nachdenklich im Blick auf die Positionierung des Westens stimmt mich in der zitierten Passage die Sorge, entgegen dem westlichen Interesse käme am Ende eine ungewollte Stärkung Chinas heraus. Es wäre ja tatsächlich nicht das erste Mal, dass das Fehlen einer von wirklicher Staatskunst und von historischer Bildung getragenen Politik zu Ergebnissen führt, die schlimmer sind als der ursprünglich bekämpfte Zustand – genügend Beispiele dafür stehen uns beklemmend und ernüchternd vor Augen. Und – wieder nebenbei zu den Risiken und Nebenwirkungen: Ob Polen wirklich auf Dauer glücklich bei der Vorstellung ist, dass nach einer nachhaltigen Schwächung Russlands nun ausgerechnet die Ukraine die neue Supermacht im östlichen Mitteleuropa wird, erscheint mir doch eher fraglich. Oder gibt es womöglich ein Interesse daran, ähnlich wie in Versailles 1919 eine Nachkriegsordnung zu errichten, die den Keim neuer Kriege schon in sich trägt?

Aber noch einmal zurück zu unserem Buch. Mit geschärftem Blick und – ich will es gleich vorweg nehmen – mit dem größten Erkenntnisgewinn habe ich jetzt noch einmal den Abschnitt über „Die Zusammenhänge von Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen“ gelesen, der im wesentlichen, nur unter einer neuen Überschrift aus der ersten Ausgabe übernommen wurde. Geschärft war mein Blick durch die Frage, ob der russische Angriff auf die Ukraine auch durch eine verfehlte Handels- und Wirtschaftspolitik des Westens begünstigt worden ist, mit anderen Worten, ob das Programm „Wandel durch Handel“ gescheitert oder am Ende von vornherein verfehlt gewesen ist. Viele Anklagen und Schuldbekenntnisse vor allem deutscher Politiker weisen in diese Richtung, ich konnte sie bisher immer nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Aber wie steht es nun wirklich um Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen?

Ich will zur Antwort auf diese Frage einen längeren Abschnitt aus dem Buch zitieren, in dem die Autoren eine Studie über Großmachtkonflikte von Dale Copeland aus dem Jahr 2015 referieren, „die dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Interdependenz und militärischen Auseinandersetzungen nachgeht“ (S. 165). Wiedergegeben werden die Ergebnisse der Untersuchungen von Copeland über Kriegsursachen in der Vergangenheit. Wir können beim Lesen aber immer wieder an Russland, die Ukraine und den Westen in der Gegenwart denken:

„Ausschlaggebend für den Entschluss zum Konflikt sei nicht der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen gewesen, sondern die Sorge der politischen Führer um die nationale Sicherheit. Für das Verständnis dieser Sorge kommt es entscheidend darauf an zu verstehen, dass wirtschaftliche Interdependenz eben immer auch Dependenz bedeute, das heißt die Abhängigkeit von weiterhin günstigen Handels- und Investitionsbedingungen und dem Zugang zu Rohstoffen. … Der Friede bleibe solange erhalten, wie die jeweils schwächere Macht die Hoffnung darauf behalte, dass sich das Handels- und Investitionsklima verbessern werde. Bei diesbezüglichem Optimismus stünden die Opportunitätskosten eines Krieges im Vordergrund, die durch Friedfertigkeit vermieden werden können; bei Pessimismus hingegen setzten sich die Sorgen über die Anpassungskosten der verschlechterten Wirtschaftsbeziehungen durch und trieben zum Krieg. Auf das aktuelle Niveau des Handelsaustauschs komme es nicht entscheidend an. Zusätzlich gebe es ein Handel-Sicherheits-Dilemma. Es beruhe im Kern auf unvollständiger Information und der daraus folgenden Ungewissheit über den Charakter, die Verlässlichkeit und die Absichten anderer Staaten, vor allem anderer Großmächte. Demokratien seien imstande, sich genauso aggressiv zu verhalten wie autoritäre Staaten… Und wenn ein Konkurrent allzu aggressiv seinen Handelserfolg auch militärisch schütze und sichere, dann drohe sich rasch eine Abwärtsspirale zu entwickeln: Es werde ihm friedliche Eindämmung entgegengesetzt, die ihrerseits oft militärisch flankiert werde, was wiederum den Adressaten der Eindämmung in seiner Aggressivität bestätige und bestärke („Sie wollen uns niederhalten“), und die Prognosen wie auch die Lage würden immer düsterer. Darum seien militärische und wirtschaftliche Großmächte gut beraten, als eigene Charaktereigenschaften Vernünftigkeit und Mäßigkeit zu kommunizieren, und darum seien Institutionen nützlich, die positive Erwartungen zu stabilisieren helfen. Zu alledem komme schließlich die Gefahr hinzu, dass exogene Faktoren wie etwa die Kapriolen kleinerer Mächte oder ein allzu rasches Wachstum des Schwächeren ein durch das Handels-Sicherheits-Dilemma angespanntes Großmachtverhältnis destabilisieren können.“ (S. 156 f.)

Soweit die Wiedergabe der Copeland-Studie durch die beiden Autoren unseres Buches. Ich habe sie hier so ausführlich zitiert, weil sie aus meiner Sicht eine vorzügliche Beschreibung unserer aktuellen Lage bietet, ihrer Ursachen und möglichen Auswege. Sicher, die Parallelen zur Gegenwart müssen eine wechselnde Rollenverteilung zwischen Stärkeren und Schwächeren berücksichtigen. Im Verhältnis zu den Nachbarn ist Russland der Stärkere, im Verhältnis zum Westen ist es oder fühlt sich zumindest als der Schwächere.

Vor allem aber lernen wir: es gibt keinen Grund dafür, das Bemühen um eine enge wirtschaftliche Verflechtung des Westens mit Russland zu verdächtigen. Die Ursache für das Scheitern dieser Politik ist vielmehr das tatenlose Zusehen – wenn nicht die bewusste Forcierung – einer sich beschleunigenden Abwärtspirale durch eine Eindämmungsstrategie des Westens gegenüber Russland und deren zunehmende militärische Flankierung. Wir erinnern uns an den Aufbau eines Abwehrschirms in Polen zur Abwehr iranischer Raketen (!), dessen Planung frühzeitig begann. Alle Warnungen besonnener Politiker sind leider in den Wind geschlagen worden. Und auch die traurige Geschichte um die Pipeline Nord Stream 2 ist ein Beispiel dafür. Man muss sich ja nur ein wenig vor Augen führen, wie das Hin und Her auf der russischen Seite angekommen ist, von vielen Vorgeschichten schon bei Nord Stream 1 und den Dauerkonflikten um den Gas- und Öltransit aus Russland nach Westeuropa, vom ökonomischen und geopolitischen Interesse der USA und von manchen „Kapriolen kleinerer Mächte“ gar nicht zu reden. Copelands Beschreibungen finden hier eine treffende Illustration.

Umso dringlicher wird der Rat an alle Beteiligten und eben auch an den Westen, Vernünftigkeit und Mäßigkeit zur bestimmenden Maxime politischer Entscheidungen werden zu lassen, auch und gerade jetzt wenn es darum geht, wie wir aus dem Desaster herausfinden! Denn, so schließen Oermann und Wolff ihre Wiedergabe der Copeland-Studie: „Angesichts dieses Befundes drängt sich die Frage auf: Was haben wir zu erwarten? Wirtschaftskriege auch mit anderen Staaten als Russland, oder noch Schlimmeres?“ (S. 167)

Je länger ich beim Lesen des Buches über den Krieg des Westens gegen Russland nachdenke, um so mehr festigt sich auch für mich die Überzeugung, dass der Ukrainekrieg nur Verlierer haben wird und weder militärisch noch durch eine exzessive Sanktionspolitik zu gewinnen ist. Sehr zu Recht wird wohl aus diesem Grund von deutscher Seite das Kriegsziel nur negativ beschrieben: Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren. Positiv formulierte Aussagen verbieten sich offenbar.

Dem Bruch des Völkerrechts muss widerstanden werden wo immer (!) er geschieht, gewiss auch militärisch und mit Sanktionen – gewiss aber nicht mit einer Ausmerzung der ganzen russischen Kultur aus der europäischen Landschaft und einer dauerhaften Herabstufung dieses reichen Landes als gehorsamen Rohstofflieferanten. Alle Energie und alle Staatskunst müssen vielmehr stets auch und vor allem darauf gerichtet sein, die wirklichen Kriegsursachen differenziert, nüchtern und selbstkritisch zu analysieren. Im Ergebnis kann endlich ein verlässliches gesamteuropäisches Sicherheitsmodell entstehen und mit Leben erfüllt werden – Gorbatschows Gemeinsames Haus Europa! -, in dem wieder Wandel durch Handel stattfinden kann, in dem in gleicher Weise imperialistische Verirrungen wie auch nationalistische „Kapriolen“ eingedämmt werden durch „Vernünftigkeit und Mäßigkeit“ (alle drei Stichworte gefallen mir immer besser!), in dem außereuropäische Mächte und Interessen zum gegenseitigen Vorteil einbezogen werden unter der Bedingung ihres Verzichts auf alle hegemonialen Ambitionen oder durch deren beherzte Abwehr. Mit einem Wort ein Zustand, in dem der uns in West und Ost anvertraute ökonomische und kulturelle Reichtum aus der Geschichte und der Gegenwart unseres Kontinents auch seine Zukunft prägen kann.

Zum Schluss aber: ein herzlicher Dank an Nils Oermann und Hans-Jürgen Wolff für ihr lehr- und hilfreiches, an vielen Stellen klärendes Buch! Ich hoffe, dass ich hier Lust auf eine eigene Lektüre machen konnte.

Christoph Ehricht

Hybris des Westens

Neulich habe ich einen alten Freund getroffen und wir sind schnell in’s Gespräch darüber gekommen, was uns in dieser Zeit bedrückt und beschwert. Er hat mir danach einen Brief geschrieben mit zwei sehr nachdenklich stimmenden Texten:

Lieber Herr Dr. Ehricht,

auf unser Gespräch zurückkommend habe ich – sozusagen als „Beifang“ aus meiner Arbeit – zwei Quellen herausgesucht, die zu rezipieren unserer politischen Elite, sofern von letzterer überhaupt zu sprechen ist, guttun würde. Vermutlich aber wäre dennoch Hopfen und Malz verloren.

1. Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Herders Bemerkungen sind der Beleg dafür, dass sich an dem, was das europäische/westliche Überlegenheitsgefühl angeht, bis heute nichts geändert hat. Herder ist aber auch der Beweis dafür, dass die Hybris damals schon erkannt wurde (1. Anhang).

2. Samuel P. Huntington (1927-2008)

Sein Werk von 1996, das ins Deutsche irreführend mit „Kampf der Kulturen“ übersetzt und unter dieser Übersetzung verlegt wurde (1996 München/Wien), heißt im amerikanischen Original The Clash of Civilizations, wobei Clash in erster Wahl mit „Zusammenprall“ übersetzt werden muss, nur so ist dieses Buch auch zu verstehen und nur so hätte es deshalb übersetzt werden dürfen. Huntington haut ganz und gar nicht in westlicher Hybris auf die anderen Kulturen ein, sondern er plädiert ganz wie Herder für ein Nebeneinander der Kulturen, ohne dass der Westen das Recht hätte, seine Ordnung den anderen Kulturen überzustülpen (2. Anhang, Auszug aus seinem Buch).

Ich wollte Sie jetzt nicht mit Material überschütten, aber ich halte diese Quellen schon für sehr interessant in Bezug auf das Thema, über das wir kurz gesprochen haben.

Mit besten Grüßen

Michael Hammermeister

(Zitate Herder und Auszüge aus Huntingtons „Kampf der Kulturen“ am Ende des Beitrags)

Soweit der Brief meines Freundes und seine Lektüre-Tips. Je länger ich darüber nachdenke, um so stärker wird meine innere Zustimmung zu der Diagnose „Hybris des Westens“. Sie dürfte tatsächlich eine der Ursachen der gegenwärtigen Krise sein, der unvermuteten und sehr realen Kriegsgefahr, die noch vor Jahresfrist kaum jemand für möglich gehalten hätte. Hybris verbaut mir den Weg zu der Einsicht, dass zu einem Konflikt immer zwei gehören. Und dass das erste Opfer in so einem Konflikt immer die Wahrheit ist.

Schade, dass unsere Leitmedien die Schuld im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine so unbeirrt von allen Fakten nur einer Seite zuweisen. Das Minsker Abkommen ist ja keineswegs nur von Moskau nicht umgesetzt worden, eher im Gegenteil. Wer wirklich an Deeskalation interessiert ist, müsste die Scharfmacher auf beiden Seiten in ihre Schranken weisen. Den Kreml u.a. wegen seines Säbelrasselns, Kiew u.a. wegen einer nationalistischen Ideologie, die nicht davor zurückscheut, einen Hitler-Kollaborateur und fanatischen Antisemiten wie Stepan Bandera per Gesetz zum Nationalheiligen zu ernennen, nur weil er, als Hitlers Niederlage sich abzeichnete, gegen die Russen kämpfte – und gegen die Polen, was im Moment gerne verschwiegen wird. Steht der Kiewer Außenminister in dieser Tradition, wenn er jetzt das Ende der Russischen Föderation prophezeit?

Ich bin übrigens sicher, dass diese Sicht eher im Westen der Ukraine verankert ist. Jedenfalls hatte ich immer wieder Gespräche mit Ukrainern, die daran festhielten: mit Russland verbindet uns mehr als uns trennt. Wir wollen unser Land zu einer Brücke zwischen Westeuropa und Russland gestalten, nicht zuletzt aus ökonomischen Interessen. Warum verfolgte der Westen eine ganz andere Strategie? Warum wurden die klugen Ratschläge besonnener Kenner in den Wind geschlagen, die bei den Verhandlungen über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine die Beteiligung Russlands empfohlen hatten? Wie anders hätte die Entwicklung aussehen können. So aber ist die Ukraine offenbar zum Spielball geopolitischer Interessen der Supermächte geworden. Nicht vergessen sollten wir auch, dass noch 1997 beim Abschluss der so genannten NATO – Russland – Akte der Westen selbstverständlich bereit war, russische Sicherheitsinteressen zu akzeptieren. Das ist nun nicht mehr wahr. Vielleicht hat sich ja die Hybris des Westens verbunden mit Heuchelei, es wäre nicht das erste Mal in der Weltgeschichte. Immer wieder muss ich an Pastor Lorenzens bittere Bemerkung in Theodor Fontanes Stechlin über die Engländer seiner Zeit denken: Sie reden von Christus und meinen Kattun.

Hybris des Westens. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man über manches ja auch schmunzeln. Zum Beispiel über das Pentagon mit seiner Meldung über sichere Erkenntnisse, wonach Moskau einen Film vorbereitet, der den Angriff ukrainischer Soldaten belegen soll. Unseren Leitmedien war das eine Spitzenmeldung wert. Ob manche der Redakteure dabei vielleicht auch an die Volksweisheit gedacht haben „was ich selber gerne denk und tu, das trau ich auch den andern zu“ – und an die unumstößlichen Beweise für die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein?

Genug der Polemik. Aber das Gespräch mit Michael Hammermeister geht mir nach. Vielleicht äußert er sich ja zu diesen meinen Gedanken. Vorerst versuche ich, meine eigene Position in den Stürmen der Zeit herauszufinden. Einerseits freue ich mich, dass unsere neue Regierung eine wertorientierte Außen- und Sicherheitspolitik ankündigt. Wenn das die Verpflichtung auf eine ehrliche, nüchterne und bescheidene Haltung bedeuten soll, dann wäre das gut. Ich bin leider misstrauisch. Am Ende sind die Positionen leichter zu bestimmen, wenn mit den offenen Karten einer interessengeleiteten Politik gespielt wird, um die es ja in Wahrheit immer geht. Dann lässt sich bei gutem Willen immer ein Ausgleich finden. Wirklich gefährlich wird es, wenn die Konfliktparteien glauben, die Lösung ihrer eigenen Probleme durch Drehen an der Eskalationsspirale voranbringen zu können. Diesen Eindruck muss man gegenwärtig leider haben. Wenn Europa, wie jetzt immer wieder lautstark verkündet, wirklich ernst genommen werden will, wird es sich dieser Spiralbewegung entgegenstemmen müssen. Und die wirklich guten Traditionen eines europäischen Geistes in die Waagschale werfen, der tolerant, differenziert und kritisch mit sich und anderen umgeht. Der nicht großmäulig mit der „Mutter aller Sanktionen“ droht, sondern im Verzicht auf alle Hybris ein neues Fundament für vertrauensvolle Zusammenarbeit legt.

Christoph Ehricht

Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 

Herausgegeben von Heinz Stolpe in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kruse und Dietrich Simon, 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar: Aufbau, 1971. 10. Sammlung 

115 
S. 251 

Was soll überhaupt eine Messung aller Völker nach uns Europäern? wo ist das Mittel der Vergleichung? Jene Nation, die ihr wild oder barbarisch nennt, ist im wesentlichen viel menschlicher als ihr; und wo sie unter dem Druck des Klima erlag, wo eine eigne Organisation oder besondre Umstände im Lauf ihrer Geschichte ihr die Sinne verrückten, da schlage sich doch jeder an die Brust und suche den Querbalken seines eignen Gehirnes. 

116 
S. 262f 

   4.Jede Nation muß also einzig auf ihrer Stelle, mit allem, was sie ist und hat, betrachtet werden; willkürliche Sonderungen, Verwerfungen einzelner Züge und Gebräuche durcheinander geben keine Geschichte. Bei solchen Sammlungen tritt[262] man in ein Beinhaus, in eine Gerät- und Kleiderkammer der Völker, nicht aber in die lebendige Schöpfung, in jenen großen Garten, in dem Völker wie Gewächse erwuchsen, zu dem sie gehören,


  5. Am wenigsten kann also unsre europäische Kultur das Maß allgemeiner Menschengüte und Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europäische Kultur ist ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo existiert sie ganz? bei welchem Volk? in welchen Zeiten? Überdem sind mit ihr (wer darf es leugnen?) so viele Mängel und Schwächen, so viele Verzuckungen und Abscheulichkeiten verbunden, daß nur ein ungütiges Wesen diese Veranlassungen höherer Kultur zu einem Gesamtzustande unsres ganzen Geschlechts machen könnte. Die Kultur der Menschheit ist eine andre Sache; ort- und zeitmäßig sprießt sie allenthalben hervor, hier reicher und üppiger, dort ärmer und kärger. Der Genius der Menschennaturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wäre. 

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