North Cothelstone Hall

Nachdenken über die Stimme

Stimmen – sie gehören zu unserem Leben. Wir empfinden sie als unangenehm oder sie wirken sympathisch und beruhigend auf uns. Wir erleben sie schimpfend oder in Liebesschwüren, lachend oder mit verzweifeltem Unterton, ironisch oder bitterernst. Die Stimme ist Bote von Gefühlen und erscheint uns selbstverständlich. Erst im Stummsein, Verstummen oder im Verstummen-Müssen erfahren wir, wie tief sie in unser Dasein eingewoben ist.

Schlimm traf das Schicksal Heinz Erhardt, den Mann des Wortes und der Sprache, der sich nach einem gesundheitlichen Schlag nicht mehr mitteilen, weder schreiben noch sprechen konnte.

Anlass über mein Thema nachzudenken war ein Interview mit Hans-Ulrich Gumbrecht zu seinem Buch „Leben der Stimme, ein Versuch über Nähe“.
Er betrachtet darin die Stimme in unserer Lebenswelt, bindet Klassiker der Philosophie mit ein – Platon, Husserl, Heidegger -, erwähnt eine Tonaufzeichnung Bismarcks und fragt nach ihrer Bedeutung für unser Verständnis der Historie.
Er blickt auf religiöse Überlieferungen – die biblischen Offenbarungen und die Stimme Gottes.
Man findet im Netz unterschiedlich ausfallende Rezensionen zum Buch, von nicht überzeugend bis gut gelungen.
Mir gefallen die Kapitel, in denen er persönliches Erleben schildert.

Gumbrecht hat, im Gegensatz zur Stimme seiner Mutter, die seines Vaters noch genau im Ohr. Eine fast weibliche Stimme, die so gar nicht zu dem attraktiven Äußeren und dem beruflichen Erfolg des Vaters passte, die ihn peinlich, ja beinahe schmerzlich berührte.

Welche Stimmen habe ich im Ohr?
Mir ist sowohl die Stimme meines Vaters als auch die meiner Mutter entglitten. Gesagtes ist mir noch in Erinnerung, Lebensweisheiten, kleine Geschichten, aber ohne Klangfarbe und Aussprache. Diese Feststellung ist mir unbegreiflich und erschüttert mich ein wenig. Sprachnachrichten meiner Mutter habe ich zwar auf meinem Smartphone gespeichert. Nach ihrem Tod konnte ich sie mir aber noch nicht wieder anhören.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, gibt es gar nicht so viele Stimmen, die ich ohne weiteres parat habe. Die von Udo Jürgens natürlich. Erleichtert dadurch, dass ich viele seiner Texte auswendig kann. Andere Stimmen sind mir wegen prägnanter auch lustiger Aussagen reproduzierbar.
In einem Sketch von Loriot sagt Evelyn Hamann den 8. Teil einer englischen Krimiserie an.
North Cothelstone Hall und Middle Fritham werde ich wohl ewig im Ohr behalten.
Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Fistelstimme des ehemaligen Bundesligaschiedsrichters Markus Merk. Ich habe gelesen, dass er sie sich nach der Geburt seines Sohnes abtrainiert hatte, um ihm zu ersparen, sich für seinen Vater schämen zu müssen.
Walter Ulbrichts Antwort auf die Frage einer Journalistin der Frankfurter Rundschau -„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ – ist vielen mit samt seiner piepsigen Stimme ins Gedächtnis eingebrannt.
Bittersüß ist mir die Stimme meines zu früh verstorbenen Schwagers Matthias in Erinnerung. Rief er an und ich meldete mich wie immer mit Zarneckow, entgegnete er verlässlich: „auch Zarneckow„, vergleichbar mit einem Jingle, einer Erkennungsmelodie mit wohltönender Stimme in angenehmer Gelassenheit.

Die Stimme ist nicht nur ein Mittel zur Verständigung, sondern unverwechselbarer, individueller Ausdruck. Man könnte sagen ein hörbarer Fingerabdruck. In der Stimme können wir einen Menschen erkennen.
Tonfall, Klangfarbe und Rhythmus verraten Stimmung und sogar etwas vom Wesen.
Für den Philosophen Hans-Georg Gadamer war sie von aktiver, erweiternder und dialogischer Kraft, untrennbar mit der Sprache und dem Hören verbunden.
Stimme macht die Sprache lebendig. Sie zieht ins Gespräch.

Ich möchte von einer lieben ehemaligen Arbeitskollegin und unserem großen Vertrauen zueinander sprechen. Besonders in meiner Lehrzeit war sie mir eine wichtige Stütze.
In unserem Fotogeschäft gab es 16 Mitarbeiter. Zu Arbeitsbeginn war es üblich, sich mit Handschlag zu begrüßen. ‚Morgen oder Hallo waren die gängigen Grußworte. Ich lief durch die Dunkelkammer, den Trockenraum, den Printerraum und zum Schluss in den Laden, in dem gewöhnlich meine Lieblingskollegin saß und ihre Kinderserien retuschierte. Ihrem „Guten Morgen“ fügte sie als einzige immer meinen Namen hinzu und dann noch in der Koseform. Sie duzte mich natürlich. Ich sieze sie heute noch und wir sind uns dennoch nah! Es ist schon ein Unterschied, ob ich meinen Namen nur lese oder ihn von vertrauter Stimme höre. Es stellt Beziehung her und schafft Nähe. Das stärkte mich für den Tag. Fehlte sie, war meine Arbeitswelt ärmer.

Noch ein Beispiel für die Bedeutung und das Gewicht von Stimmen ist das gemeinsame Singen. Nicht nur im gleichen Rhythmus zu sein, zu allseits beliebten Melodien, sondern das Wahrnehmen der Stimme des Freundes neben mir, das ist, was im Leben trägt und einen Moment unvergesslich macht.

Bettina Zarneckow

Ein Philosoph und die Poesie

Bettina Zarneckow

Lieber Christoph,

nachdem ich den Roman „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier gelesen habe, möchte ich gern einige Gedanken festhalten. Deine Mail mit dem Nachruf für den Philosophen und Romancier Peter Bieri, alias Pascal Mercier, klang betroffen. Der Artikel der Philosophin Eva Weber-Guskar, ehemalige Studentin von ihm, im Philosophie Magazin, berührte mich überdies. Wir hatten uns vor einigen Wochen über das Buch „Die karminrote Schildlaus“ und dessen Übersetzung aus dem Russischen unterhalten. Jetzt weiß ich, in unserem Gespräch schwangen Deine Gedanken zu „Das Gewicht der Worte“ mit. Du hast mir Merciers Roman jedenfalls damals empfohlen und nun zeitgleich mit mir zum zweiten mal gelesen.

Woran liegt es wohl, dass wir versucht waren, uns das Lesen einzuteilen, um länger etwas davon zu haben? Natürlich am Inhalt des Buches, dem Schicksal Simon Leylands, einem Übersetzer, dessen Traum es von Kindheit an war, alle Sprachen rund um das Mittelmeer zu können. Durch einen ärztlichen Irrtum wird er aus der Bahn geworfen. Daraufhin betrachtet er sein Leben und ordnet es völlig neu. Es liegt ferner daran, dass wir miterleben können, wie er Entscheidungen trifft, großzügig und vollkommen frei. Wie er bestehende Beziehungen sieht und neue knüpft und welchen Einfluss seine Lebensprüfung auf die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung hat.

Vor allem aber liegt es an der Sprache – den Worten und ihrem Gewicht!

Die in den Text eingebundenen Briefe gefallen mir sehr: „Ich habe immer so gern geschrieben, Zeichen für Zeichen, in welchem Alphabet auch immer. Sprachliche Zeichen: das Mysterium des Geistes. Ich umarme Dich. Wir Leylands sind ja spröde Menschen, die jemanden brauchen, der sie zur Zärtlichkeit erweckt. Wir blühen auf, verschließen uns wieder und dann ist es, als sei nichts gewesen.“ (Warren Shawn, Simons Onkel, Das Gewicht der Worte)

Und dann natürlich die Briefe an seine Frau, die er eines nachts „erloschen“ auf dem Sofa fand.

Das Buch ist für mich voller Poesie.

Aber was ist das eigentlich – Poesie? Wikipedia sagt dazu: Mit dem, was man Poesie oder poetisch nennt, meint man in der Regel, dass „vom Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, etwas Stilles.“

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein stellte fest:

„Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Gut, dass es die Künste gibt, findest Du nicht auch, Christoph? Alles Unsagbare, das Wesentliche in der Welt und jenseits unserer Welt, findet so seine Ausdrucksmöglichkeit, seinen Platz.

Die Kunst ist entstanden, weil die Menschen in den Dingen der Natur das Durchscheinen und Aufscheinen einer größeren Wirklichkeit gespürt haben.“ Joseph Ratzinger

Im Schweigen, wenn wir ein Kunstwerk betrachten, ein Gedicht lesen oder ein Musikstück hören, schwingt das mit, worüber wir nicht sprechen können. Es ist das Innewerden in der Natur, im menschlichen Sein – es sind die Empfindungen des Malers, des Komponisten, des Bildhauers oder des Schriftstellers und Dichters, die er in sein Kunstwerk übersetzt hat. In eine andere Ebene, eine andere Dimension, in der wir die Freiheit haben, seinem Empfinden nachzuspüren und unsere eigenen Empfindungen zu entdecken.

Vielleicht gehört es zum Genuss des Lesens, dass der Leser den Reichtum seiner eigenen Gedanken entdeckt.“ Max Frisch

Etwas Poetisches, auch wenn es nur etwas Kleines ist, ein winziges Detail, gibt dem Leben im Moment der Betrachtung eine Tiefe, die es sonst nicht hat. Das Leben wird dabei im Ganzen Thema, ohne dass wir im geringsten darüber reden müssten. Deshalb fühlen wir uns von der Poesie nicht irgendwie berührt, sondern sind in der Erfahrung wie aufgehoben, mehr bei uns selbst als sonst. Und wir spüren es im Moment der Wahrnehmung: Wir sind plötzlich anders in der Welt.“ (Livia, Simons Frau, Das Gewicht der Worte)

Der Poesie sind Möglichkeiten gegeben, die ein Aussprechen nicht haben kann. Sie entzieht sich vollkommen der rationalen Argumentation. Man spricht nicht, man ist ergriffen, man empfindet. So habe ich es an vielen Stellen des Buches erfahren und ich vermute, Dir ging es nicht anders.

Schade, dass wir nun kein neues Werk von Pascal Mercier mehr lesen werden. Uns bleiben noch vier seiner fünf geschriebenen. Sein größter Erfolg „Nachtzug nach Lissabon“ wurde 2013 verfilmt.

Triest und die Mole, auf der Leyland immer spazieren gegangen ist, würden wir uns beide gerne ansehen, hatten wir festgestellt. Vielleicht die Beine ins Wasser baumeln lassen. Das Verlagshaus hätte mich ebenfalls interessiert, Dich nicht auch? Und dann natürlich Pat Kilroy in seiner Trattoria. Ich bin mir sicher, es käme zu einem ausgiebigen Gespräch zwischen ihm und Dir. Das würde ein langer Abend. Ich hatte mir viele Stellen im Buch gekennzeichnet. Was ich damit wollte, darüber musste ich noch nachdenken. Nun ist dieser Brief an Dich daraus entstanden. Ich bin sehr froh, dass Du mich auf den Roman aufmerksam gemacht hast.

„ Am Ende kommt es nur auf eines an: Poesie. Sie ist das Einzige, was der Größe des Lebens zu entsprechen vermag.“ Simon Leyland, Das Gewicht der Worte

Auf bald, good bye, arrivederci, до свидания

liebe Grüße sendet Dir Bettina

https://www.philomag.de/artikel/zum-tod-des-philosophen-peter-bieri

Beredtes Schweigen

„Es gibt keine beredtere Sprache als das Schweigen.“ So empfing mich vor kurzem ein Freund. Ein Spruch aus der Tageszeitung, der es ihm wahrlich angetan hatte und gleich in sein Büchlein notiert wurde. Aus seinen Augen sprühte Begeisterung. Offensichtlich fühlte er sich in der Annahme bestätigt, dass seine inzwischen eingeübte Taktik, Menschen aus seinem engeren Umfeld mit Standhaftigkeit zu beschweigen, richtig sei. Über den Sinn dieses Satzes wollte ich erst einmal nachdenken und zeigte mich mäßig mitgerissen. Schließlich zähle ich auch zu besagtem Umfeld.

Es gibt unzählige Sprüche zum Thema Schweigen:

Ach, selbst das weiseste Sprichwort irrt: Nicht alles ist Gold, was geschwiegen wird!“ Oskar Blumenthal

Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als das Schweigen.“ Pythagoras

Manchmal ist es besser zu schweigen und als Idiot verdächtigt zu werden, als zu reden und damit alle Zweifel zu beseitigen…“ Abraham Lincoln

Schweigen kann sowohl zum Positiven, als auch zum Negativen eingesetzt werden. Genauso wie es wohltuend zur Kenntnis genommen werden kann, aber auch manchmal zu erleiden ist.

Ich rede gern. Es ist doch angenehm, wenn man das Interesse des anderen spürt, befragt wird und von sich erzählen kann. Oder mit seinem Wissen und seinem Rat dienen kann. Außerdem ist die deutsche Sprache viel zu schön, um verschwiegen zu werden. Man kann sich so wunderbare Dinge sagen, spontan und spritzig aus der Situation heraus oder wohlüberlegte und charmant in Worte gehüllte Liebenswürdigkeiten.

Aber es gibt auch Zeiten, da möchte ich einfach schweigen – in mich hineinhören, ausruhen, Gedanken spinnen, keine Reden eines anderen verarbeiten müssen, genießen, ein Geschehen ungestört verfolgen, Zweisamkeit auskosten, ohne ein Wort was sie zerstört.

Wer hat nicht schon die Stille in Wäldern gesucht. Oder am Meer, wenn das Wasser ohne Regung ruht, dennoch sanfte Wellen gleichmäßig an Land spülen. Für mich ist die Stille in den Hochlagen der Gebirge überwältigend und unendlich friedlich. Sie hat eine entbergende Wirkung auf Empfindungen. Alle Sinne sind plötzlich offen für das Zwiegespräch mit der Natur im Bedenken des eigenen Daseins. Ein wohltuendes Ordnen der Gedanken und Gefühle setzt ein, wie es woanders wohl nicht gelingt. Und wie heilsam kann das sein!

Auf dem Weg zum Schneibstein

Schweigen hinnehmen zu müssen, kann kränken und zermürben. Besonders, wenn man den Grund dafür nicht kennt oder nicht einsieht.

Was hast du? Klage, solange du willst, nur das Schweigen ist mir unausstehlich.“ Johann Wolfgang von Goethe

Mein Vater konnte nach einem Streit wochenlang schweigen. Schweigen, um Macht auszuüben? Es gibt Schweigen aus Bequemlichkeit, vielleicht auch, um etwas Unangenehmes auszusitzen. Schweigen aus Unsicherheit, zum Beispiel bei Todesfällen – aus eigener Erfahrung weiß ich, wie sehr man auf Zuspruch angewiesen ist.

Wie ist es mit Freundschaften, in denen sich nichts tut, von beiden Seiten, meist unbedacht, Stille herrscht? Die Sprachlosigkeit in einer Familie oder zwischen zwei Menschen, die unbedingt beendet werden sollte, wenn Wert auf den Bestand der Beziehung gelegt wird. Zu langes Schweigen verursacht ungute Gedanken und baut völlig unnötig Mauern auf, die es immer schwerer wird zu überwinden.

Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Ps 39,5)

Irgendwann ist es zu spät, jemandem sagen zu wollen, was unbedingt hätte gesagt werden müssen oder man gern gesagt hätte. Wieso fallen Menschen wichtige Dinge oft erst am Grab ein? Ist man manchmal dann erst frei, etwas zu gestehen?

Schweigen zu überwinden, kostet Mut und Kraft. Wie reagiert der andere auf die Annäherung? Reagiert er überhaupt? Strapaziert man die Nerven seines Gegenübers, weil er wenig Interesse hat? Man setzt sich aus mit seinem Bemühen und wird entweder belohnt oder schmerzhaft belehrt.

Wenn ich auch ein vorsichtiger Mensch bin, will ich doch vom Positiven ausgehen und in allem Schweigen kein Verletzenwollen sehen. Es gibt eben auch das Schweigen, um zu schonen, um Zustimmung auszudrücken, um jemandem Ausruhen und Durchatmen zu ermöglichen. Oder um ihn im wohlverdienten Schlaf, sein Herz heilen und seine Seele zur Ruhe bringen zu lassen.

Weil ein Irren im Anwenden auch möglich ist, sollte man den richtigen Einsatz des Schweigens im Laufe des Lebens üben. Zum Schluss noch diese Gedanken: Im Schweigen kann man sich sammeln, im Reden sich zuweilen zerstreuen.

Wann habe ich das letzte Mal geschwiegen? Ah ja, ich erinnere mich. Es war hinreißend. Aber darüber möchte ich lieber schweigen.

Bettina Zarneckow