Mein Vater

Bei meiner Geburt war mein Vater 45 Jahre alt. Er starb zwei Monate nach meinem zwanzigsten Geburtstag im Januar 1989.
Georg Herbert Johannes Biegon wurde am 10. März 1923 in der Stadt Tost in Schlesien geboren.

Ich weiß wenig aus seiner Kindheit, aber folgende Geschichte hat er uns Kindern erzählt: Seine Familie lebte von der Landwirtschaft und besaß einen Bauernhof in Tost. Zum Hof gehörte neben einem Pferdefuhrwerk auch ein Motorrad. Unerlaubt und längst nicht alt genug dafür, fuhr er mit diesem Motorrad umher, wusste aber nicht, wie er es anhalten sollte. Und so drehte er solange Runden, bis kein Benzin mehr im Tank war. Als Strafe verordnete ihm sein Vater das Knien auf getrockneten Erbsen. Im weiteren Vollzug musste er sich auf einen Stuhl setzen und abwarten, bis sich auch die letzte Erbse von seinen Knien gelöst hatte.

Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Bäcker. Für seine Pfannkuchen war er zeitlebens berühmt.
Meine Arbeitskollegen wünschten sie sich regelmäßig. Und so ließ er es sich auch nicht nehmen, sie zu jeder Brigadefeier höchstpersönlich in meiner Fotoabteilung anzuliefern.

Im 2. Weltkrieg war er Soldat bei der Kriegsmarine und sowohl in Italien – Bari und La Spezia -, als auch in Norwegen stationiert. Er erzählte immer gern aus dieser Zeit. Beim Reden wuchsen sein Eifer und seine Gestik. Er mochte die Landschaft Italiens und Norwegens und die Menschen dort, so meine Schwester, die sich an vieles besser erinnern kann.
Er sah sich wieder als jungen Mann, Anfang zwanzig, in Uniform auf einem Marineschiff vor fremden Küsten und in Häfen auf den Meeren der Welt.


Mit dem Ende des Krieges geriet er in Kriegsgefangenschaft, kam in ein kleines Dorf bei London und arbeitete in der Landwirtschaft. Auch in England hat es ihm gefallen.
Als er entlassen wurde, lag sein Heimatort Tost nicht mehr in Deutschland. So siedelte er sich nahe der deutsch/polnischen Grenze im Oderland an, lebte zunächst in Seelow und zog im April 1962 nach Rathstock, wo er schon vorher einige Jahre Bürgermeister gewesen war.

Er hatte sich das Saxophonspielen beigebracht und tingelte an den Wochenenden mit seiner Band „Die Duranos“ über die märkischen Dörfer. Sachsendorf, Dolgelin, Alt-Tucheband … Vielleicht mag ich seinetwegen das Instrument und seinen Klang so gern, dabei habe ich ihn beim Spielen auf seinem Saxophon nie erlebt.
Später kaufte er sich eine Mundharmonika der Marke „Weltmeister“ und spielte für uns zu Hause. Meist Titel seiner Lieblingssängerin Lolita.
Wann immer er Marschmusik aus Radio oder Fernseher hörte, hielt er inne, stand auf und vollzog mit den Händen taktierende Schlagfiguren, während sich die Blicke meiner Schwester und mir vielsagend trafen.

In den 50er Jahren absolvierte er eine Weiterbildung zum Verkehrsmeister. Er wurde Leiter des VEBs Kraftverkehr in Seelow. Selbst Busse durfte er fahren. Das zeigte ein grünes Samtemblem mit silbernem Bus, das er am Revers seiner Betriebsuniform trug.

1961 war er Mitgründer des Motorsportclubs Seelow und sein 1. Vorsitzender. 1963 initiierte er das erste Motocross, das bis heute jährlich stattfindet. Wann er Mitglied der SED geworden ist, weiß ich nicht.

https://www.mc-seelow.de/downloads/40-jahre-mc-seelow-ac-voll.pdf

Wenn wir später mit unserem Wartburg durchs Oderland fuhren, erzählte er jedes mal voller Stolz, wie er seinerzeit die Haltestellen der Busse festlegte.
Er führte auch die Einsatzpläne, wenn Reisebüros Busse orderten.
Beim Frankfurter Reisebüro in der Abteilung „Jugendtourist“ arbeitete Fräulein Steinecke, die aus dem elterlichen Fleischereibetrieb ausgestiegen war und beruflich einen anderen Weg gehen wollte. Sie war für die Buchungen von Bussen verantwortlich, rief deshalb häufig in Seelow beim Leiter des Kraftverkehrs an.
Eines Tages fuhr mein Vater nach Frankfurt um zu sehen, wer am anderen Ende der Leitung sprach.
1967 heirateten Georg Biegon und Rosemarie Steinecke. Mein Vater war katholisch, ließ sich dennoch mit meiner Mutter im Dom zu Fürstenwalde evangelisch trauen. Noch im selben Jahr im November wurde meine Schwester geboren. Im darauffolgenden November kam ich zur Welt.

Unsere Eltern bezogen eine Wohnung in unserem Haus in Frankfurt. Mein Vater wechselte zum VEB Kraftverkehr Frankfurt, leitete erst als Dispatcher den Taxenfuhrpark.
Später, als er aus gesundheitlichen Gründen nur noch eingeschränkt arbeiten konnte, wurde er Obmann für Ordnung und Sicherheit sowie Vertrauensperson bei Schlichtungen innerhalb des Betriebes. In „seinem“ Kraftverkehr war er beliebt. Er galt als tatkräftiger, verlässlicher und vertrauenswürdiger Kollege.

Solange es ihm gesundheitlich möglich war, spielte er in der Betriebsmannschaft Fußball. An Wochenenden fuhr oft die ganze Familie zu den Spielen.

Ein fast unumstößlicher Termin war für meinen Vater der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer, sonntags, 12.00 Uhr in der ARD – sein „Gottesdienst nach dem Gottesdienst“, der regelmäßig mit dem Sonntagsbraten kollidierte. Wie meine Großmutter bis ins hohe Alter, so verfolgte auch er mit großem Interesse Bundestagsdebatten.

Wir hatten einen fürsorglichen Vater. Seine Passion war das Gärtnern. Außer Süßkirschen hatten wir in unserem Garten jedes Obst und Gemüse, was in unseren Breitengraden gedeihen kann. Kartoffeln, groß wie Kinderköpfe, so der Vergleichswert unseres Vaters und davon reichlich. Er kochte, backte, weckte ein. Besorgte Brennholz, brachte uns Kindern das Holzspalten bei und wie man eine Scheitholzmiete baut.
Wie viele seiner Kriegsgeneration hatte er den Hang zur Vorratswirtschaft und sorgte sehr für seine Familie. Manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr.

Während meiner Schulzeit hat sich mein Vater im Elternaktiv engagiert. (Das Elternaktiv war eine Gruppe von Eltern, die Probleme der Schüler besprachen und Veranstaltungen und Klassenfahrten planten.)

Hardy, Bernd und Stefan, meine Klassenkameraden,
und mein Vater als Begleiter der Klassenfahrt

Er war anerkannt bei den Lehrern. Wann immer Elternbesuche bei problematischen Schülern anstanden, das waren meist Kinder aus den umliegenden Dörfern, die in rauem Familienklima aufwuchsen, baten die Klassenlehrer meiner Schwester und mir um seine Begleitung. Mein Vater tat das gern. Er sprach „die Sprache der Bauern“, hatte Talent zu deeskalieren und konnte gut vermitteln. Seine kräftige Statur und 1.85 m Körpergröße taten das Übrige.

Wie jeder Mensch, so hatte auch unser Vater Eigenheiten. Er neigte zum Jähzorn, zu übertriebener Eifersucht und Sturheit, war ein liebe- und verständnisvoller Vater, der alles für seine Töchter tat – vom Chauffieren bis zur Pflege bei Krankheit.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, ich muss 17 gewesen sein: Ich ahnte nicht, dass mein Vater noch im Garten war, als ich mich dort mit meiner „problematischen“ Verabredung für eine Radtour treffen wollte. Ich sah ein Donnerwetter auf mich zukommen. „In Dinge der Liebe mische ich mich nicht ein. Alles Reden bleibt dabei leider sinnlos und kommt gegen dieses Gefühl nicht an,“ sagte mein Vater und verschwand. Ich war verblüfft und froh über seine Reaktion, fühlte mich frei, ernst genommen, erwachsen und mochte ihn umso mehr. Bis heute denke ich gern daran zurück. Die Verabredung ist längst verblasst, seine Worte nicht!

Meine Mutter hat mich dreiundfünfzig Jahre meines Lebens begleitet. Mein Vater wesentlich weniger. Zum Tod meiner Mutter habe ich ein Gedicht geschrieben, ihre Lebensgeschichte bedacht und aufgeschrieben. Und die meines Vaters? Ich merke, wie froh es mich macht, jetzt auch über sein Leben nachgedacht und Erinnerungen aufgeschrieben zu haben, nachdem ich ihn doch einige Jahre bewusst ausgespart hatte.

Passt das nun alles zusammen? – Soldat im 2.Weltkrieg, Katholik und Genosse, Bürgermeister und Mitglied im Vorstand des Kleingartenvereins, an internationaler Politik Interessierter und Musiker, Weitgereister und in der DDR Festgesetzter? Ja, für mich passt das gut, denn es ist der Lebenslauf meines Vaters.

Bei meiner Recherche hat mir Frau Buchwald vom Archiv des Landkreises Märkisch Oderland sehr geholfen.

Bettina Zarneckow

Mein 1. Mai damals und heute

Der Ort ist immer noch der gleiche. Die Zeiten haben sich nur geändert.
Heute am 1. Mai 2025 habe ich selbst entschieden, hier, im Zentrum meiner Heimatstadt Frankfurt (Oder) zu stehen.

In den 70er und 80er Jahren bin ich dort gewesen, weil es Pflicht war.
Lästige Pflicht einerseits. Ein schul- und arbeitsfreier Tag andererseits, den man nach dem Passieren der Ehrentribüne am Ende der Karl-Marx-Straße nach Herzenslust verbringen konnte. Mit ein wenig List und Mut auch schon vorher.

Die Rede ist von den Maidemonstrationen zu Zeiten der DDR, am Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse.
Als ich noch Schülerin war, mussten wir uns auf dem Schulhof vor dem Schuppen unseres Mathematik- und Werkunterrichtslehrers einfinden, der für die Ausgabe von Transparenten, Fahnen und sonstigen Winkelementen verantwortlich war. Man versuchte zu vermeiden, sich mit derlei Dingen ausstatten zu lassen. Mit der Absicht, bei günstiger Gelegenheit die Demo vorzeitig zu beenden.



Meine 18. und die danebenliegende 4. POS starteten in der August-Bebel-Straße Richtung Stadtzentrum. Hin und wieder stoppte der Zug. Andere Gruppen oder Betriebe reihten sich ein, um in genau geplanter Reihenfolge die Ehrentribüne zu passieren. Sie war bestückt mit hochrangigen Persönlichkeiten der Stadt. An der Spitze der nicht unbeliebte Oberbürgermeister Fritz Krause, dem die Stadt unter anderem den Erhalt der Marienkirche zu verdanken hat.
Von der Tribüne aus verlas unsere Schulgarten- und Zeichenlehrerin, wer alles den dort stehenden Genossen gerade zuwinkte und welche herausragenden Leistungen die Vorbeiziehenden zum Wohle des Volkes und zur Stärkung des Sozialismus vollbracht hatten.

Ja, die Werktätigen haben wirklich einiges geleistet. Wie wir heute sehr genau wissen, gingen viele unserer Produkte in verplombten LKW in den Westen. Waschmaschinen, Schreibmaschinen, Füllfederhalter, Textilien, optische Geräte und mehr, die nicht nur über Versandhäuser wie Neckermann und Otto vertrieben wurden. Uns blieb ein geringer Teil dessen und die Waren mit Mängeln. Aber das soll heute nicht mein Thema sein.

Ich erinnere mich an eine Maidemonstration, es muss 1983 gewesen sein, bei der meine Freundin und ich beschlossen hatten, den Zug frühzeitig zu verlassen. Das war natürlich verboten. Es ging gut aus, wie fast immer. Unsere Lehrer waren diesbezüglich großzügig und übersahen oftmals diese kleinen Fluchten.


Als unser Demonstrationszug von der Sophienstraße in die Halbe Stadt einbog, liefen wir beide im angrenzenden Lennépark den Berg hinunter und verharrten eine Weile ungesehen. Ganz ohne Herzklopfen ging das natürlich nicht ab. Wir ersparten uns auch nur ein Drittel der gesamten Tour, aber es war ein leichter Ungehorsam gegen die herrschende Ordnung. Das zunächst etwas unsichere Gefühl wich schnell einem Hoch- und Freiheitsgefühl. Mit dem wir dann beschwingt durch die Stadt bummelten.

Ein weiteres nicht gestattetes Entfernen vom Demonstrationszug leistete ich mir während meiner Lehrzeit.
Ich war gerade unglaublich verliebt und verabredete mich mit dem Grund dafür am Karl-Ritter-Platz. Dort hatte ich am frühen Morgen mein Moped abgestellt. Das war in den 80ern ungefährlich. Die Grenze nach Polen war geschlossen – Fahrzeuge konnte man beruhigt unbeaufsichtigt abstellen. Dann ging ich zum Treffpunkt unserer Fotoabteilung. Die Route des Maimarsches war immer dieselbe. Wir reihten uns am „Weißen Rössel“ ein. Ja, das gibt es auch in Frankfurt (Oder), nur in anderer Schreibweise.
Eingangs der Karl-Marx-Straße ließ ich meine Arbeitskollegen allein weiter ziehen und verschwand Richtung Ritterplatz. Nur wenig später eilte mir meine „Verabredung“ entgegen. Er hatte sich auch vor Ende der Demo loseisen können, und wir fuhren auf meinem Moped Richtung Oderwiesen für einen ausgedehnten Spaziergang.

Natürlich bin ich bei jeder Maidemonstration mitgelaufen. Mit meinen Klassenkameraden war es unterhaltsam und bei meinen Arbeitskollegen habe ich mich sogar wohlgefühlt.



Die Idee, die Coronaimpfung mit einer Bockwurst zu belohnen, war übrigens nicht neu. In der DDR gab es nach absolvierter Maidemo einen Gutschein für eine Bockwurst, den man auf dem sich anschließenden Volksfest einlösen konnte. Außerdem wurden am folgenden Tag am Arbeitsplatz 5 Mark Zielprämie ausgezahlt. Ob ich diese Prämie auch bekam, obwohl ich die Ziellinie nicht überschritten hatte, den Oderspaziergang vorzog, das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war mir der Spaziergang wesentlich mehr wert!



36 Jahre später nehme ich wieder aktiv am Maifeiertag teil. Diesmal unterstütze ich meinen Mann am Stand der Partei, in die er vor einem Jahr eingetreten ist. Von ihm ist seine politische Meinung gefragt. Mir erzählen die Menschen aus ihrem Leben, auch wie es damals für sie war, vor mehr als 36 Jahren.

Bettina Zarneckow