Erneutes Nachdenken über Wirtschaftskriege

Nils Ole Oermann und Hans-Jürgen Wolff haben eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe ihrer Studie über Geschichte und Gegenwart von Wirtschaftskriegen veröffentlicht. Meine Erlebnisse bei der Lektüre der ersten Ausgabe aus dem Jahr 2019 habe ich hier im September 2021 geschildert. Nun will ich gerne auch Anteil geben an meinen Eindrücken beim Lesen des neuen Buches.

Die deutsche Fassung ist nach einer englischen vom Sommer 2022 offenbar zum Jahreswechsel 2022 / 2023 fertig gestellt und gewiss nicht zuletzt durch die aktuellen Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 veranlasst worden. Das Buch hat über 100 Seiten dazu gewonnen, aus der Gliederung in 5 Kapitel sind jetzt 10 geworden. Die gute Lesbarkeit und die Zielstrebigkeit von Gedankenführung und Argumentation haben dadurch vielleicht ein wenig an Kraft verloren. An der Grundkonzeption haben die beiden Autoren jedoch nichts verändert. Meine frühere Würdigung wie auch meine Fragen behalten also ihre Gültigkeit, jedenfalls aus meiner Sicht.

Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

Auch das schöne Zitat aus Goethes Faust wurde übernommen: „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“ (S. 15). Allerdings muss ich ein wenig darüber grübeln, warum die sehr einleuchtende Anwendung dieses Leitmotivs aus der ersten Ausgabe nicht Eingang in die Überarbeitung gefunden hat: „Leider lässt sich tatsächlich ein großer Teil der Weltgeschichte als zeitlich und sachlich enger Zusammenhang von Krieg, Handel und Piraterie erzählen und erklären.“ (dort S. 10)

Vielleicht verbietet sich diese Sicht der Dinge für die Autoren, weil für sie seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine grundsätzlich veränderte Beurteilung der Wirklichkeit unumgänglich geworden ist: „Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Demokratien und Autokratien wird besser verstanden, die Zerbrechlichkeit vieler Produktions- und Lieferketten kommt zu Bewusstsein, und die Sensibilität für eigene Abhängigkeiten von nichtbefreundeten Mächten wächst. … Die westlichen Demokratien sehen ihre systemischen Rivalen und die Globalisierung mit anderen Augen. Ob sie aus dem so Erkannten auch die richtigen Schlüsse ziehen, bleibt abzuwarten.“ (S. 14) Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass nach meiner Überzeugung aus einem Welt- und Wirklichkeitsbild, das in „unüberbrückbaren“, also – wie es die zum Glück doch eigentlich überwundene Propagandasprache der marxistisch-leninistische Geschichtspolitik genannt hätte – „antagonistischen“ Gegensätzen denkt, selten die richtigen Schlüsse gezogen werden können. Immer gibt es neben Schwarz und Weiß die vielen Nuancen des Grau.

Meine Lektüre der Neuausgabe des Buches war geleitet von der Frage, ob es zu neuen Erkenntnissen helfen würde, die für eine Urteilsbildung über den Ukraine-Konflikt von Belang sein könnten. An verschiedenen Stellen wird der Werdegang des Konfliktes referiert, etwa im Abschnitt „Der Wirtschaftskrieg des Westens mit Russland“ (S. 56 ff.) Ich will das hier gar nicht kommentieren. Eine differenziertere Schilderung, die auch die russische Sicht und Wahrnehmung der Entwicklungen seit 2001 einbezieht, wäre aus meiner Sicht wünschenswert. Sie wird aber sicher erst mit größerem zeitlichem Abstand möglich sein. Einige Überlegungen dazu sind in meiner früheren Besprechung des Buches zu lesen.

Gegenwärtig stellt sich für die beiden Autoren vorrangig die Frage, ob die nach dem offensichtlichen Bruch des Völkerrechts durch den russischen Angriffskrieg seit dem 24.2.22 vom Westen eingeleiten Sanktionsmaßnahmen gerechtfertigt sind und Erfolg versprechen. Dazu lesen wir die eindeutige Antwort: „Die ergriffenen Wirtschaftssanktionen richten in Russland massiven Schaden an, sie sind für die Erreichung der westlichen Wirtschaftskriegsziele wirksam und steigern die Aussicht darauf, dass Moskau von seiner Aggression ablässt, und sie waren und sind trotz erheblicher Kosten die beste verfügbare Option.“ (S. 164)

Allerdings wird auch nicht verschwiegen: „Die westliche Koalition hat die Ziele ihres Wirtschaftskrieges gegen Russland nicht abschließend definiert. … Die ukrainischen Bedingungen könnten zum Beispiel der Rückzug der russischen Truppen weit hinter die eigene Staatsgrenze, Sicherheitsgarantien, Schadenersatz, Reparationen und die Bestrafung russischer Kriegsverbrecher einschließen. Bis zum Erreichen dieser Ziele könnten also westliche Wirtschaftskriegsmaßnahmen ganz oder teilweise fortgesetzt werden. Außerdem erscheint auf unabsehbare Zeit, die sich vermutlich eher nach Jahrzehnten bemisst, die strukturelle wirtschaftliche und technologische Schwächung Russlands geboten, solange sich dort kein durchgreifender Wandel vollzieht.“ (S. 154 f.)

Im abschließenden Teil des Buches unter der Frage „Was tun?“ wird dieser Gedanke aufgenommen und als eigene Empfehlung der beiden Autoren konkretisiert: „Russland muss nun zunächst und möglichst für immer beigebracht werden, dass es seine Lage durch militärische Gewaltanwendung nur verschlimmern kann. Danach mag es wieder zum Handelspartner und Rohstofflieferanten des Westens werden. Allerdings wird sich das geschwächte Russland in Zukunft wirtschaftlich wohl vor allem nach Asien orientieren, und man wird es dort vermutlich entsprechend einhegen, um den internationalen Frieden zu schützen. Es läge allerdings nicht im westlichen Interesse, sollte China in Russlands Fernem Osten unternehmerisch vordringen und darüber hinaus die gesamtrussische Infrastruktur instand halten und managen, denn das brächte Peking noch näher vor EU-Europas Tür. Russland soll sich China gegenüber behaupten können. Auch darum wird nach dem Ende des Ukrainekrieges ein gewisses Maß an westlicher Zusammenarbeit mit Russland nötig sein.“ (S. 281)

In diesen Sätzen wird ein dreifaches Problem deutlich. Zum einen verlassen die Autoren das Genus einer differenzierten wissenschaftlichen Analyse mit den Werkzeugen des Historikers und des Wirtschaftsethikers und öffnen sich einer politischen Programmatik. Wahrscheinlich ist dieser Wechsel in der bedrängenden aktuellen Situation unumgänglich. Wäre darauf verzichtet worden, hätte dies ebenso zu kritischen Nachfragen geführt. Aber klug beraten sind wir, wenn wir uns nüchtern den Vorbehalt vor Augen führen, dass für viele Überlegungen die Zeit noch nicht reif ist.

Zum anderen wird hier aber auch ein westliches Denken deutlich, das nun selbst nicht unwesentlich zum Konflikt beigetragen hat. Als ich die zitierten Sätze las, dachte ich: Um Himmels willen, hoffentlich liest das keiner in Moskau. Denn es ist auf russischer Seite ja genau dieses propagandistisch ausgenutzte, aber eben wie man sieht nicht völlig unbegründete Gefühl, das mit zu dem gegenwärtigen Desaster geführt hat: Der Westen will uns zähmen und schwächen und uns allenfalls gönnerhaft und widerwillig als Rohstofflieferanten akzeptieren. Und leider ist dieses Denken ja keineswegs erst seit dem 24.2.22 bestimmend.

Dafür gibt es viele, an anderen Stellen genügend aufgeführte Beispiele, ich komme später auf zwei von ihnen darauf zurück. Hier will ich nur noch einmal an die gelinde gesagt halbherzigen Bemühungen des Westens erinnern, zur Umsetzung der Minsker Friedensabkommen beizutragen, die ja keineswegs nur an Moskau gescheitert ist. Wohl eher im Gegenteil. Nebenbei: auch Minsk I und II waren geltendes Völkerrecht, das gebrochen worden ist. Und es hat in der ganzen Zeit bis zum Kriegsausbruch auch in Kiew andere politische Kräfte und Bewegungen gegeben, die einen Interessenausgleich mit dem russischen Nachbarn eher näher gerückt hätten als die Politik der Regierung, die von vornherein immer nur auf die Zusage der militärischen Unterstützung der NATO vertraut hat und auf die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste. Mich hat immer irritiert, dass diese anderen Stimmen aus Kiew in unseren Medien nie zu hören waren.

Und drittens: Nachdenklich im Blick auf die Positionierung des Westens stimmt mich in der zitierten Passage die Sorge, entgegen dem westlichen Interesse käme am Ende eine ungewollte Stärkung Chinas heraus. Es wäre ja tatsächlich nicht das erste Mal, dass das Fehlen einer von wirklicher Staatskunst und von historischer Bildung getragenen Politik zu Ergebnissen führt, die schlimmer sind als der ursprünglich bekämpfte Zustand – genügend Beispiele dafür stehen uns beklemmend und ernüchternd vor Augen. Und – wieder nebenbei zu den Risiken und Nebenwirkungen: Ob Polen wirklich auf Dauer glücklich bei der Vorstellung ist, dass nach einer nachhaltigen Schwächung Russlands nun ausgerechnet die Ukraine die neue Supermacht im östlichen Mitteleuropa wird, erscheint mir doch eher fraglich. Oder gibt es womöglich ein Interesse daran, ähnlich wie in Versailles 1919 eine Nachkriegsordnung zu errichten, die den Keim neuer Kriege schon in sich trägt?

Aber noch einmal zurück zu unserem Buch. Mit geschärftem Blick und – ich will es gleich vorweg nehmen – mit dem größten Erkenntnisgewinn habe ich jetzt noch einmal den Abschnitt über „Die Zusammenhänge von Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen“ gelesen, der im wesentlichen, nur unter einer neuen Überschrift aus der ersten Ausgabe übernommen wurde. Geschärft war mein Blick durch die Frage, ob der russische Angriff auf die Ukraine auch durch eine verfehlte Handels- und Wirtschaftspolitik des Westens begünstigt worden ist, mit anderen Worten, ob das Programm „Wandel durch Handel“ gescheitert oder am Ende von vornherein verfehlt gewesen ist. Viele Anklagen und Schuldbekenntnisse vor allem deutscher Politiker weisen in diese Richtung, ich konnte sie bisher immer nur mit Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Aber wie steht es nun wirklich um Wirtschaftsbeziehungen und Kriegsursachen?

Ich will zur Antwort auf diese Frage einen längeren Abschnitt aus dem Buch zitieren, in dem die Autoren eine Studie über Großmachtkonflikte von Dale Copeland aus dem Jahr 2015 referieren, „die dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Interdependenz und militärischen Auseinandersetzungen nachgeht“ (S. 165). Wiedergegeben werden die Ergebnisse der Untersuchungen von Copeland über Kriegsursachen in der Vergangenheit. Wir können beim Lesen aber immer wieder an Russland, die Ukraine und den Westen in der Gegenwart denken:

„Ausschlaggebend für den Entschluss zum Konflikt sei nicht der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen gewesen, sondern die Sorge der politischen Führer um die nationale Sicherheit. Für das Verständnis dieser Sorge kommt es entscheidend darauf an zu verstehen, dass wirtschaftliche Interdependenz eben immer auch Dependenz bedeute, das heißt die Abhängigkeit von weiterhin günstigen Handels- und Investitionsbedingungen und dem Zugang zu Rohstoffen. … Der Friede bleibe solange erhalten, wie die jeweils schwächere Macht die Hoffnung darauf behalte, dass sich das Handels- und Investitionsklima verbessern werde. Bei diesbezüglichem Optimismus stünden die Opportunitätskosten eines Krieges im Vordergrund, die durch Friedfertigkeit vermieden werden können; bei Pessimismus hingegen setzten sich die Sorgen über die Anpassungskosten der verschlechterten Wirtschaftsbeziehungen durch und trieben zum Krieg. Auf das aktuelle Niveau des Handelsaustauschs komme es nicht entscheidend an. Zusätzlich gebe es ein Handel-Sicherheits-Dilemma. Es beruhe im Kern auf unvollständiger Information und der daraus folgenden Ungewissheit über den Charakter, die Verlässlichkeit und die Absichten anderer Staaten, vor allem anderer Großmächte. Demokratien seien imstande, sich genauso aggressiv zu verhalten wie autoritäre Staaten… Und wenn ein Konkurrent allzu aggressiv seinen Handelserfolg auch militärisch schütze und sichere, dann drohe sich rasch eine Abwärtsspirale zu entwickeln: Es werde ihm friedliche Eindämmung entgegengesetzt, die ihrerseits oft militärisch flankiert werde, was wiederum den Adressaten der Eindämmung in seiner Aggressivität bestätige und bestärke („Sie wollen uns niederhalten“), und die Prognosen wie auch die Lage würden immer düsterer. Darum seien militärische und wirtschaftliche Großmächte gut beraten, als eigene Charaktereigenschaften Vernünftigkeit und Mäßigkeit zu kommunizieren, und darum seien Institutionen nützlich, die positive Erwartungen zu stabilisieren helfen. Zu alledem komme schließlich die Gefahr hinzu, dass exogene Faktoren wie etwa die Kapriolen kleinerer Mächte oder ein allzu rasches Wachstum des Schwächeren ein durch das Handels-Sicherheits-Dilemma angespanntes Großmachtverhältnis destabilisieren können.“ (S. 156 f.)

Soweit die Wiedergabe der Copeland-Studie durch die beiden Autoren unseres Buches. Ich habe sie hier so ausführlich zitiert, weil sie aus meiner Sicht eine vorzügliche Beschreibung unserer aktuellen Lage bietet, ihrer Ursachen und möglichen Auswege. Sicher, die Parallelen zur Gegenwart müssen eine wechselnde Rollenverteilung zwischen Stärkeren und Schwächeren berücksichtigen. Im Verhältnis zu den Nachbarn ist Russland der Stärkere, im Verhältnis zum Westen ist es oder fühlt sich zumindest als der Schwächere.

Vor allem aber lernen wir: es gibt keinen Grund dafür, das Bemühen um eine enge wirtschaftliche Verflechtung des Westens mit Russland zu verdächtigen. Die Ursache für das Scheitern dieser Politik ist vielmehr das tatenlose Zusehen – wenn nicht die bewusste Forcierung – einer sich beschleunigenden Abwärtspirale durch eine Eindämmungsstrategie des Westens gegenüber Russland und deren zunehmende militärische Flankierung. Wir erinnern uns an den Aufbau eines Abwehrschirms in Polen zur Abwehr iranischer Raketen (!), dessen Planung frühzeitig begann. Alle Warnungen besonnener Politiker sind leider in den Wind geschlagen worden. Und auch die traurige Geschichte um die Pipeline Nord Stream 2 ist ein Beispiel dafür. Man muss sich ja nur ein wenig vor Augen führen, wie das Hin und Her auf der russischen Seite angekommen ist, von vielen Vorgeschichten schon bei Nord Stream 1 und den Dauerkonflikten um den Gas- und Öltransit aus Russland nach Westeuropa, vom ökonomischen und geopolitischen Interesse der USA und von manchen „Kapriolen kleinerer Mächte“ gar nicht zu reden. Copelands Beschreibungen finden hier eine treffende Illustration.

Umso dringlicher wird der Rat an alle Beteiligten und eben auch an den Westen, Vernünftigkeit und Mäßigkeit zur bestimmenden Maxime politischer Entscheidungen werden zu lassen, auch und gerade jetzt wenn es darum geht, wie wir aus dem Desaster herausfinden! Denn, so schließen Oermann und Wolff ihre Wiedergabe der Copeland-Studie: „Angesichts dieses Befundes drängt sich die Frage auf: Was haben wir zu erwarten? Wirtschaftskriege auch mit anderen Staaten als Russland, oder noch Schlimmeres?“ (S. 167)

Je länger ich beim Lesen des Buches über den Krieg des Westens gegen Russland nachdenke, um so mehr festigt sich auch für mich die Überzeugung, dass der Ukrainekrieg nur Verlierer haben wird und weder militärisch noch durch eine exzessive Sanktionspolitik zu gewinnen ist. Sehr zu Recht wird wohl aus diesem Grund von deutscher Seite das Kriegsziel nur negativ beschrieben: Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren. Positiv formulierte Aussagen verbieten sich offenbar.

Dem Bruch des Völkerrechts muss widerstanden werden wo immer (!) er geschieht, gewiss auch militärisch und mit Sanktionen – gewiss aber nicht mit einer Ausmerzung der ganzen russischen Kultur aus der europäischen Landschaft und einer dauerhaften Herabstufung dieses reichen Landes als gehorsamen Rohstofflieferanten. Alle Energie und alle Staatskunst müssen vielmehr stets auch und vor allem darauf gerichtet sein, die wirklichen Kriegsursachen differenziert, nüchtern und selbstkritisch zu analysieren. Im Ergebnis kann endlich ein verlässliches gesamteuropäisches Sicherheitsmodell entstehen und mit Leben erfüllt werden – Gorbatschows Gemeinsames Haus Europa! -, in dem wieder Wandel durch Handel stattfinden kann, in dem in gleicher Weise imperialistische Verirrungen wie auch nationalistische „Kapriolen“ eingedämmt werden durch „Vernünftigkeit und Mäßigkeit“ (alle drei Stichworte gefallen mir immer besser!), in dem außereuropäische Mächte und Interessen zum gegenseitigen Vorteil einbezogen werden unter der Bedingung ihres Verzichts auf alle hegemonialen Ambitionen oder durch deren beherzte Abwehr. Mit einem Wort ein Zustand, in dem der uns in West und Ost anvertraute ökonomische und kulturelle Reichtum aus der Geschichte und der Gegenwart unseres Kontinents auch seine Zukunft prägen kann.

Zum Schluss aber: ein herzlicher Dank an Nils Oermann und Hans-Jürgen Wolff für ihr lehr- und hilfreiches, an vielen Stellen klärendes Buch! Ich hoffe, dass ich hier Lust auf eine eigene Lektüre machen konnte.

Christoph Ehricht

„Das wird schon gut ausgehen“ – so scheitert die deutsche Politik am Krieg in der Ukraine

Der Bundespräsident, Träger des Kissinger – Preises 2022, ist ein Meister darin, seine Enttäuschung über eine gescheiterte Ostpolitik Deutschlands darzustellen.

Mit dem Bekenntnis einer Mitschuld verhindert er jeden Ansatz eines Vorwurfs aus den eigenen Reihen, leider aber auch notwendige Diskussionen darüber, wie es weitergehen soll. Jeder Politiker, der etwas darstellen will, hat inzwischen seine Schuld an der Ostpolitik bekannt, zuletzt war es Herr Schäuble, der die Contenance verlor. Nur Frau Merkel verhält sich starrsinnig. Sie zählt offenbar für die Bestimmer bei Politik und Medien nicht mehr, weil ihre gesamte Politik als ein einziges Desaster (zu Unrecht) dargestellt wird.

Da die früher so beliebte und respektierte Bundeskanzlerin verschlossen wie eine Auster ist, lege ich ihr in den Mund: Nicht die Beziehungen zu Russland sind gescheitert, sondern Minsk 2. Der 2014 gestartete, durchaus im deutschen Interesse zusammen mit Frankreich aufgenommene, wichtige Versuch einer friedlichen Gestaltung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine blieb erfolglos. Und das hat Gründe, über die in Berlin genauso eisern geschwiegen wird wie zu denen der Sabotage der Pipelines Nord Stream.

Nicht hingenommen werden darf, dass die Beziehungen zu Russland – bildlich gesprochen genauso schwer wie die Pipelines Nord Stream 1 und 2 beschädigt -, nicht „repariert“ werden dürfen.

Wenn ich mich zu den Gründen für das Scheitern von Minsk 2, über die Ursachen des Angriffskrieges der Russen in der Ukraine oder die Sabotage bei den Pipelines Nord Stream 1 und 2 verhalten äußere, dann ergibt sich das auch aus meiner teleologischen Betrachtungsweise, Telos = Ziel : Ende des „Glaubenskrieges“ in den Medien zum Krieg in der Ukraine. Weil ich hoffe, dass es durch den Blickwinkel „was tun“ eher ein Ende des Krieges und eine „Reparatur“ der Beziehungen mit Russland geben wird.

Hervorheben will ich eine gewisse Naivität bei mir, warum der Krieg in der Ukraine überhaupt noch stattfindet.

Russland trägt als Nachfolgestaat der Sowjetunion, beginnend mit dem 17. Juni 1953 über die Interventionen in Ungarn 1956, Prag 1968, den Einmarsch nach Afghanistan und noch einiges mehr, eine erhebliche Verantwortung mit sich herum. In jedem dieser Fälle war das Handeln der USA – koste es was es wolle – mit vielen Ecken und Kanten darauf ausgerichtet, eine Ausweitung der Konflikte zu vermeiden. Was umgekehrt auch seitens der Sowjetunion geschah, denn die USA hat da auch einiges zu bieten. Beispielhaft erinnere ich mich an die Kubakrise 1962, aber auch an den Mauerbau am 13.8.61. Letzterem ging ein Gespräch im Juni zwischen Kennedy und Chruschtschow voraus. Der Ukrainer teilte sein Vorhaben mit. Er garantierte den unversehrten Status von West-Berlin im Sinne der USA. Kennedy nickte ab, am 13.8.61 wachten 18 Millionen als „endgültige“ DDR-Bürger hinter der Mauer auf. Bundeskanzler Adenauer bewegte alles in seinem Herzen, die Ostpolitik Brandts wurde zum Licht am Ende des Tunnels.

Bei dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine soll das nicht mehr gelten?

Weil die Politik von damals unter „Gleichgewicht des Schreckens “ firmierte? Verbreitet die Atommacht Russland keinen Schrecken mehr? Oder ein Schrecken nur noch bei einigen in Ostdeutschland, weil da noch nicht alles aufgearbeitet wurde?

Deutschland wird seine Probleme, ob es sich um die Bereiche Energie, Rohstoffe oder Migration oder seine Beteiligung am Krieg in der Ukraine handelt, lösen können. Es ist noch (!) eines der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt.

Eine Chance, aus der Sache heil herauszukommen, hat es dann, wenn die Regierenden nicht losgelöst vom Volk handeln. Wie wäre es mit einem Forum, wo unterschiedliche Lösungen auf Augenhöhe und fern aller Ideologie besprochen werden? Auf die wankende Parteiendemokratie ist immer weniger Verlass, auch sie würde davon profitieren.

Unser modernes Forum sind Rundfunk, Fernsehen und Radio, die sozialen Medien, dort muss die öffentliche Diskussion auf Augenhöhe der Kontrahenten stattfinden. Einstimmige Chorgesänge sind nicht angebracht, wenn sie erklingen, befinden wir uns schon im Vorhof einer Mediokratie/Medienherrschaft.

Gegenwärtig kann die Chance eines gemeinsamen Handelns bei durchaus kontroversen Diskussionen kaum noch wahrgenommen werden. Wenn sich Menschen auf den Straßen ankleben, sollte das als ein Warnzeichen für eine gestörte Kommunikation in unserer Gesellschaft angesehen werden. Die Kontrahenten mit ihren Vorstellungen aller Art müssen für die Öffentlichkeit sichtbar sein, um nur einen Punkt zu nennen. Sichtbar heißt, nicht nur hin und wieder ein Auftritt. Keine Kriminalisierung extremer Positionen, bei denen der arme Amtsrichter entscheidet, was noch gesagt werden darf oder verurteilt werden muss. Es darf nicht als fein gelten, die moralische Empörung als Kampfmittel gegen den Kontrahenten einzusetzen.

Bei umstrittenen Fragen , ob die USA auf Verhandlungen der Ukraine mit Russland bestehen oder ob Deutschland Waffen an die Ukraine liefern soll, geht es zur Zeit in den Talkshows und anderswo zu wie zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Schon die Absicht, mit „Ungläubigen“ zu verhandeln, gilt als eine Art Sünde. H.Kissinger, „Staatskunst“, 198, dort zur Verhandlung zwischen Feindstaaten.

Ähnlich klingt es beim Bundespräsidenten, „im Angesicht des Bösen reicht guter Willen nicht aus“. So entstehen Mythen von der Verderbtheit der Russen, und es droht die Wiederbelebung des Völkerhasses, dazu Eugen Ruge, FAZ vom 3.11.22,“ Gibt es einen nützlichen Völkerhass?“, dagegen Gerd Koenen „Verwirrung der Gefühle“7.11.22.

Dem Glaubenskrieg in den Medien zum Ukrainekrieg soll beispielhaft eine Analyse des amerikanischen Politologen, ehemaligen Sicherheitsberaters und Außenministers Henry Kissinger entgegengestellt werden, in „Staatskunst“,C.Bertelsmann 2022 – zum Lesen dringend empfohlen.

Henry Kissinger geht auf ein Dilemma Europas ein und bietet bei genauem Hinsehen Lösungswege an.

Er weist nüchtern auf die strategische Geographie der Ukraine : Bei Eintritt der Ukraine in die NATO würde die Sicherheitslinie, sprich die Ostgrenze der Ukraine zwischen Europa und Moskau, weniger als 500 km betragen. „Damit würde die historische Pufferzone beseitigt, die Russland in früheren Jahrhunderten geschützt hatte, als Frankreich und Deutschland versuchten, das Land zu besetzen“, „Staatskunst“, 540 ff. Umgekehrt stünden wiederum russische Truppen in Angriffsdistanz von 500 km zu Warschau und Budapest, wenn sich die Sicherheitslinie an der westlichen Grenze der Ukraine befände.

Der „ungeheuerliche völkerrechtswidrige Überfall Russlands“ sei der „Auswuchs eines gescheiterten strategischen oder nur halbherzig geführten Dialogs“, ebd.

Kissinger mahnt, angesichts der militärischen Konfrontation „zweier nuklear bewaffneter Militäreinheiten“, das Problem zu lösen und meint damit den Weg der Diplomatie.

Kissinger respektiert in seinen Überlegungen ungeachtet seiner geäußerten Empörung das seit Jahrhunderten in den Vorstellungen Russlands bestehende strategische Interesse der Russen auf Sicherheit durch eine „Pufferzone“. Das unterscheidet ihn von anderen Experten, die ihre Empörung zur Grundlage von öffentlichen Vorschlägen an die Politik machen.

Die Analyse Kissingers führt mich zu meinen Fragen:

Soll nur eine Regelung von Deutschland unterstützt werden, die beide Seiten akzeptieren? Muss Deutschland als Teilhaber am Krieg in Wahrnehmung seiner Interessen mitentscheiden , was der Ukraine an Verzicht zugemutet werden kann? Oder soll ein offensichtlich langer Weg des Krieges fortgesetzt werden, der Russland derart schwächt, dass eine russische Gefahr für die Ukraine auf alle Zeiten ausgeschlossen wird?

Deutschland kann da Erkenntnisse aus dem Versailler Vertrag vom 28.6.1919 einbringen. Durch ihn wurde der Zweite Weltkrieg nicht verhindert, er war offenbar nicht hinreichend rigoros, weil er Deutschland nicht ausreichend schwächte. Der totale Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen und noch mehr Waffen a la Baerbock werden die Atommacht Russland nicht wirklich schrecken, die Sanktionspakete schlagen nicht an, was könnte noch getan werden ? Schnüren weiterer Pakete durch von der Leyen? Deutschland und das übrige Westeuropa gehen solidarisch Pleite? Schafft es die Ukraine mit den USA alleine? Kann sein, muss es aber nicht. Meine Fragen ergeben meine Meinung dazu.

Die“ Pufferzone Ukraine“ im Sinne eines neutralen, durch Drittstaaten gesicherten Staates entspricht den Interessen von Deutschland und Westeuropa, die USA befinden sich sowieso einige 1000 km von der Westgrenze Russlands entfernt. Sie entspricht auch dem, was für die Mehrheit der Deutschen Grundlage der Unterstützung der Ukraine war. Und erscheint für die Ukraine auch hinnehmbar, weil ihre Aufnahme in die NATO angeblich nicht auf der Tagesordnung steht.

Die Präsidenten Selenskyj und Putin standen im Rahmen der Verhandlungen am 29. März 2022 in Istanbul vor einer Verständigung.

Der ehemalige Chefinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses ( 2002 bis 2005) Kujat bestätigte das mehrmals, zuletzt Ende Oktober. Es habe Einigkeit über die Hauptforderung der Russen bestanden, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, sondern neutral bei entsprechenden Sicherheitsgarantien von Drittstaaten werden wird. Der „Westen“ habe eine Vereinbarung verhindert.

Die Lösung befand sich also greifbar auf dem Verhandlungstisch, zumal die Ukraine und die Russen auch hinsichtlich der Krim und des Donbass nicht weit auseinander lagen.

Die Ukraine beendete Anfang April die Verhandlungen, wenige Tage nach der Ankunft des damaligen Premierminister Johnson in Kiew. War das der Grund für die Reise und warum schweigt die Bundesregierung dazu?

Wie kommt es bei den afrikanischen Staaten an, wenn Russland am 27.10.22 in Moskau eine Feuerpause und Verhandlungen mit der Ukraine fordert und Präsident Selenskyj ein „Nein“ mit der Begründung ausspricht,dass Russland keine „Atempause“ erhalten darf? Quelle: NTV, 19.11.22. Oder zuvor der letzte russische Soldat die Ukraine( also auch die Krim) verlassen haben muss, so zuletzt Selenskyj-Berater Podolyak, Quelle: zdf heute vom 20.11. Oder per Dekret jegliche Verhandlungen mit Putin persönlich ausgeschlossen wurden, Quelle: zdf heute, 4.10.22.

Die Westeuropäer und die USA pumpen das Geld in Milliardenhöhe in die von den Russen zerstörte Ukraine. Geld, das den armen Ländern bei der Klimakonferenz in Ägypten nicht zugestanden werden kann, weil die Möglichkeiten von Ländern wie Deutschland begrenzt sind? Dann gibt es noch viele andere Schmerzpunkte: Düngemittel, Getreide, Verteuerung der Energie. Afrika soll das verstehen und die Russen verdammen? Weil die Russen das so geschickt mit ihren Verhandlungsangeboten eingefädelt haben?

Der russische Außenminister Lawrow hörte sich, offenbar zur Glaubhaftmachung der Bereitschaft Moskaus zur Aufnahme von Verhandlungen mit Kiew, die Videobotschaft von Präsident Selenskyj an die G20 im Plenum an. Er erwiderte sofort und flog erst dann nach Hause. Auch die Vertreter der teilnehmenden Staaten hörten sich beide Reden an, niemand verließ den Raum. Nach einer Isolierung der Russen sieht das alles ungeachtet der scharfen Kritik an Russland auf der letzten Vollversammlung der UNO nicht aus.

Objektiv könnte dagegen angesichts der leidenden Weltwirtschaft die Ukraine ungeachtet des völkerrechtswidrigen Angriffs von Russland isoliert dastehen, weil sie und nicht das raffinierte Russland die Beendigung des Krieges verhindert, egal ob die USA ihr Hintermann sind. Deutschland wie auch Westeuropa, nicht aber die Weltmacht USA, wären mit im Boot. „Könnte“ – ich sehe das genau so.

Es soll bei einer letzten Bemerkung bleiben, die ich genauso hätte voranstellen können, um mir dann alle weiteren Ausführungen zu ersparen.

Vor einigen Tagen, ganz zufällig während der G20 Konferenz auf Bali, wurde das polnische Dorf Przewodow an der Grenze zur Ukraine durch eine Flugabwehrrakete getroffen, zwei Polen wurden getötet. Präsident Selenskyj beschuldigte sofort Russland, ließ sich zunächst selbst nicht von Präsident Biden zurückhalten. Er und seine Experten waren sich offenbar nicht darüber im Klaren, dass die Amerikaner die Flugbewegungen der Raketen auf dem Schirm hatten. Es handelte sich um eine sowjetische Rakete aus der Ukraine, so die Recherchen der amerikanischen Militärs, kein Fall für die Art.4 und 5 des NATO-Vertrages.

Der Verdacht, dass die NATO und damit auch Deutschland als direkte Partei in den Waffenkrieg einbezogen werden sollten, ist schwer zu widerlegen, zustimmend FAZ 19.11.22. Warum soll das oder anderes von Herrn Selenskyj mit seinen ungestümen Beratern Kuleba (Außenminister) und Melnik (sein Stellvertreter) nicht immer wieder versucht werden? Ergibt sich das nicht sogar aus der ukrainischen Verfassung mit der Ergänzung aus dem Jahr 2018 zur Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO? Haben die Präsidenten Biden und Selenskyj alles im Griff? Müssen wir stark im Glauben sein, das wird schon gut gehen?

Der Krieg in der Ukraine entwickelt sich so zu einer existenziellen Gefahr für Deutschland. Die ukrainische Regierung ist leider nicht nur ein Anhängsel der USA, sondern verfolgt eigene Ziele. Sie wird in Washington Unterstützer finden, solange das Territorium der USA nicht direkt in Gefahr ist. Deutschland darf ebenfalls kein Anhängsel der USA sein, wenn es um seine Existenz geht. Deutschland muss seine Beteiligung am Krieg in der Ukraine spätestens nach dem Vorfall an der polnisch-ukrainischen Grenze zurückfahren, m. E. beenden. Das Ziel der Ukraine ist die Kapitulation Russlands zu den Bedingungen der Ukraine. Das Ziel Deutschlands kann niemals eine Kapitulation der Russen oder der Ukrainer sein. Für Westeuropa gilt nichts anderes.


Reinhart Zarneckow

Erlebt das Reich des Bösen eine Wiedergeburt?

Europäische Studenten 2018

Ich muss von einem Erlebnis berichten, das mich in den letzten Tagen beschäftigt, besorgt, ein wenig ratlos und am Ende doch hoffnungsvoll gestimmt hat – und möchte gerne zum weiteren Gespräch und Nachdenken darüber anregen.

Am Rande eines Familienfestes war ich – meist eher widerwillig – an unterschiedlichen Diskussionen über die vielen aktuellen Streitthemen beteiligt. Widerwillig, weil ich zu oft erlebe, wie fruchtlos solche Gespräche gegenwärtig sind. Angst, Wut und sicher auch Hilflosigkeit stehen einem ruhigen Austausch von Argumenten und Gesichtspunkten gerade sehr im Wege. Das muss man aushalten, möglichst ohne die Gesprächspartner zu verdächtigen oder das Tischtuch zu ihnen zu zerschneiden. Der Hausherr, von dem in einer Kolumne die Rede war, weil er einen Freund zum sofortigen Verlassen seines Hauses aufforderte, nachdem dieser eine abweichende Meinung zum Krieg in der Ukraine geäußert hatte, möglicherweise die Frage, ob die bedingungslose Solidarität des Westens mit Kiew wirklich eine kluge und auch für die Ukraine gute Entscheidung war, ist für mich ein erschreckendes Symptom für eine früher so nicht gekannte Zerrissenheit und mentale Aggressivität in unserer Gesellschaft.

Darum wollte ich eigentlich auch schweigen, als auf unserem Fest die Ereignisse in der Ukraine angesprochen wurden. Zumal wir alle in unserem Entsetzen über diesen völlig sinnlosen russischen Angriffskrieg einer Meinung waren. Bei der Erörterung der Ursachen und der Bewertung von Gegenmaßnahmen gingen die Meinungen dann doch etwas auseinander, wie kaum anders zu erwarten war. Ich habe aufgemerkt, als eine jugendliche Teilnehmerin unserer Runde erklärte, für sie füge sich die russische Aggression ein in eine Strategie des Kremls, die seit langem geprägt sei von einem Kampf gegen Liberalität, Demokratie und Menschenrechte und die die gefährlichen rechtsradikalen Netzwerke in Westeuropa nach Kräften unterstütze.

O weh, gleich gingen mir viele Fragen auf einmal durch den Sinn: Erlebt jetzt etwa das Trauma von der russischen Gefahr, früher festgemacht von rechtskonservativen Kräften an einer kommunistischen Unterwanderung, eine Wiederauferstehung, diesmal im eher linksliberalen Milieu? Muss Dieter Süverküp seine „Erschröckliche Moritat“ vom Kryptokommunisten mit seinen Unterwanderstiefeln um- und neu schreiben? Geht es am Ende bei den Sanktionen und Boykotten doch nicht nur um die Abwehr der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, sondern um eine viel grundsätzlichere Abgrenzung von Traditionen und Kulturen des Ostens, eine neue Mauer zum Schutz vor einem wiedererstandenen Reich des Bösen? Müssen wir darum miterleben, wie einseitig und undifferenziert wir informiert werden?

Davon, wie sehr solche Ängste vor einer russischen Gefahr wiederum wie seinerzeit im Kalten Krieg die wirtschaftlichen Interessen von Konzernen vor allem der Rüstungsindustrie bedienen, wenn auch nun unter umgekehrtem Vorzeichen, will ich hier gar nicht reden. Die Auseinandersetzungen um NordStream 2 sind ein lehrreiches und beklemmendes Beispiel dafür. Es gehört leider untrennbar zur Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine. Nebenbei: Ob es inzwischen wenigstens einigen der Akteure in der breiten Gegnerfront der Pipeline wie Schuppen von den Augen gefallen ist, wessen Interessen sie in Wahrheit bedient haben? Ich bin außerdem gespannt auf den Tag, an dem die Erbauer der Gasleitung die Rechnung für die auf dem Grund der Ostsee versenkten Milliarden aufmachen. Wer wird dann wohl für die Vertragsverletzungen bezahlen?

Nein, mir geht es heute um etwas anderes. Um es gleich deutlich zu sagen: ich lebe sehr gerne in der freiheitlichen und liberalen Gesellschaft und habe – noch! – Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates. Die antiwestliche Propaganda in Russland ist mir oft fremd und nur mit Mühe kann ich viele ihrer Motive verstehen. Ich glaube allerdings, dass sie genau so wirksam ist wie die seinerzeitige Propaganda in der DDR. Die zunehmende Gefährdung der Demokratie sehe ich daher weniger in Moskau oder in irgendwelchen von dort geförderten rechten Netzwerken, sondern eher bei uns selber, in den unserem westlichen Lebensmodell innewohnenden Widersprüchen: es lebt von dem Wohlstand, dessen ökonomischer und moralischer Preis hoch, zu hoch ist, als dass er auf Dauer Bestand haben und gerechtfertigt werden könnte. Auf dem Nährboden dieser Widersprüchlichkeit gedeihen dann die Ängste und Verwerfungen, mit denen wir es nun zu tun haben und die – pardon – ein gefundenes Fressen für Demagogen aller Couleur sind.

Alle, die sich dem Überlebenskampf der Demokratie verpflichtet fühlen, sollten also klug, besonnen und nüchtern die wirklichen Ursachen ihrer aktuellen Gefährdungen analysieren und ebenso klug, besonnen und nüchtern Alternativen entwickeln, statt an der Schimäre eines neuen Reiches des Bösen zu werkeln – so sehr die gegenwärtigen Machthaber in Moskau auch Gründe dafür liefern mögen. Wenn die mediale Meinungsbildung der letzten Jahre mehr von solchen Überlegungen und Fragen geleitet gewesen wäre als von der Sorge um Pussy Riot oder Alexei Navalny, stünden wir jetzt besser da. Im Blick auf den Ukraine-Konflikt bin ich im Übrigen unverändert der Überzeugung, dass eine friedliche Lösung möglich gewesen wäre, wenn der Westen sie wirklich gewollt hätte. Putin hätte nach seiner Rede im Deutschen Bundestag 2001 beim Wort genommen werden müssen durch ernsthafte Verhandlungen über eine europäische Sicherheitsstruktur mit Russland. Gorbatschows Vision vom gemeinsamen europäischen Haus war damals durchaus noch lebendig! Leider ist nichts dergleichen versucht worden, eher im Gegenteil. Jetzt ist das Kind im Brunnen. Die gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen, dass wir keine Kriegspartei seien, verlieren mit jedem Tag an Glaubwürdigkeit.

Die nun nötige ehrliche Bestandsaufnahme wird zum Abschied auch von manchen anderen liebgewordenen Lebenslügen führen müssen. Unser westliches Lebensmodell kann keineswegs von einer selbstverständlichen Überlegenheitsgewissheit ausgehen. Und: hinter der viel beschworenen Wertegemeinschaft und der moralischen Entrüstung über deren vermeintliche Verletzungen durch andere ( immer nur durch andere! ) lauern oft genug in Wahrheit Scheinheiligkeit oder ganz andere, sehr handfeste Interessen.

Die Diskurskultur in unserer Gesellschaft sei bedroht, so erklärte etwas später die schon erwähnte jugendliche Teilnehmerin unserer Familienrunde. Bedroht nicht etwa durch cancel culture, sondern durch rechte Stimmungsmache, wenn zum Beispiel bestimmte Leute erklären, dass sie nicht mehr wagen zu sagen, was sie wirklich denken. Natürlich kann jeder und jede sagen, was er oder sie denkt, so brach es aus ihr heraus. Sie müssen nur darauf gefasst sein, dass wir sie dann nach Strich und Faden auseinander nehmen. Es gab einen Moment betretenen Schweigens, in den ich dann leise einwerfen konnte, dass eine bestimmt auch für die Rednerin unstrittige Autorität wie Moses Mendelssohn sicher ein anderes Verständnis vom diskursiven Suchen nach Wahrheit gehabt habe. Am Ende bleibe doch nur das Vermächtnis, das Lessings Nathan ihm in den Mund gelegt hat: Es nehme jeder seinen Ring und eifre seiner von Vorurteilen unbestochnen freien Liebe nach.

Ich bin froh, dass wir uns darüber im weiteren Verlauf des Gesprächs verständigen konnten. Das stimmt mich zuversichtlich und hoffnungsvoll. Wir können die vielen Probleme nicht lösen, aber – ein erster Schritt – unsere Einstellung zu ihnen ändern. Dann können wir hartnäckig und mit langem Atem Bundesgenossen für Wege der Vernunft und des Ausgleichs von Interessen suchen, in unseren Familien und Freundeskreisen, aber auch und nicht zuletzt bei und mit unseren Nachbarn im Osten.

Christoph Ehricht

Die NATO schleicht sich in einen Krieg mit Russland – die Deutschen müssen das verhindern.

„Ich bin noch wie im Traum – und doch muss man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten und nicht gesehen zu haben, dass die Katastrophe kommen musste. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, innerlich und äußerlich, wenn sie vorüber ist? …Mein Hauptgefühl ist eine ungeheure Neugier und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses verhasste, schicksals-und rätselvolle Deutschland,“ Thomas an Heinrich Mann, August 1914.

Thomas Mann war damals nicht unbeschwert. Dennoch sah er sich im Einklang mit vielen Kollegen, die im Sommer 1914 begeistert die Kriegserklärung Deutschlands an England, Frankreich und Russland begrüßten. „Muss man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen?“, ebd.

Mir ist es lieber, dass Bundeskanzler Scholz einen Nimbus als  „langweiliger Drückeberger mit Stehvermögen ohne eine bemerkbare Empathie“ aufbaut.

Seine Losung, Russland darf nicht siegen, ist eine Chance auf fruchtbare Verhandlungen der Ukraine mit Russland. Weder Russland noch die Ukraine dürfen siegen, das ist reale Friedenspolitik. Der kühle nüchterne Verstand und nicht Emotionen sind die bessere Option, um Frieden für die Ukrainer und die Russen schaffen zu helfen. Das Entsetzen und die Empörung wegen Butscha und jedes weitere Kriegsverbrechen dürfen nicht zum Wegweiser in den europäischen Krieg werden.

Die Losung des Präsidenten Selenskyj, die Ukraine müsse gegen Russland siegen, führt dagegen in einen europäischen und möglicherweise zudem atomaren Krieg. 

Denn wie soll die Ukraine mit Waffen von den NATO – Staaten und aus der weiten Welt allein die Atommacht Russland besiegen? 

Die Krim zurück zur Ukraine? Dem soll die Atommacht Russland zustimmen? Putin akzeptiert eine Aufrüstung der Ukraine durch Staaten, die der NATO angehören und unter ihrem Schutz stehen? Vielleicht, vielleicht auch nicht, leider plaudert er seine Vorhaben nicht vorher aus. Vielleicht lässt er Transportflugzeuge mit Waffen abschießen. Haben wir dann den europäischen Krieg? Vielleicht nicht, weil Präsident Putin doch bei Verstand ist und an sein Volk denkt. Weil Russland die Einnahmen für Gas und Öl unbedingt braucht. Was aber, wenn ein Embargo für Gas und Öl erfolgt?  Welches „Vielleicht“ ist dann zu bedenken?

Wollen wir den Zerfall Russlands? Wollen wir eine  Russlandpolitik, die an den kalten Krieg der 50er Jahre anknüpft und Russland  isoliert? Gegen Russland lieber nicht, das wussten schon Otto v. Bismarck und sämtliche Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis Frau Dr. Merkel.

Eine Politik mit lauter „Vielleicht“ gleicht einem Irrgarten.

Und die Politiker in Brüssel gleichen Traumtänzern, erpicht auf die Erweiterung der Befugnisse der EU und der NATO sowie ihrer Macht. Ansonsten ohne Plan, wenn ich nur an die fünf Sanktionspakete denke. Russland wird zum Kuba 2, ist das nicht verrückt? Kuba 1 ist noch immer nicht dahin, Iran existiert auch noch und wird militärisch immer stärker, sagen einige Experten. Richtig, den Menschen dort geht es nicht so besonders.

Das bedeutet keinesfalls, Russland seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine nachzusehen. Doch wir müssen auch über die Ursachen des Krieges sprechen, um Lösungswege zu sehen. Warum scheiterte Minsk 2, weshalb kam es nicht zu den zugesagten Änderungen der Verfassung der Ukraine im Hinblick auf den föderalen Status von Donezk und Luhansk? Was haben die Russen versäumt? Was ist zu tun? Wollen wir Russland „verhauen“ oder wollen wir Frieden in Europa?

Der Krieg könne „viele Monate, sogar Jahre“ dauern, NATO  Generalsekretär Jens Stoltenberg lt. FAZ vom 8.4.22. Putin plane, die ganze Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, mit diesem Hintergrund müsse auf lange Sicht die Ausrüstung der Ukraine geplant werden, ebd.

Außenminister der Ukraine Kuleba vorgestern zu den Außenministern der NATO Staaten: “ Sie verschaffen uns die Waffen, die wir brauchen, und wir kämpfen für unsere Sicherheit, aber auch für Ihre Sicherheit“, ebd. Mit Waffen sind auch ballistische Raketen gemeint, geeignet  zur Zerstörung russischer Schiffe und Flugzeuge weltweit?

Die NATO- Staaten sind die NATO, sie brauchen nicht den Schutz der Ukraine. Bei Stoltenberg heißt es pessimistisch, man müsse eine schwierige Beziehung zum Nachbarn „managen“, aber ein „sinnvoller Dialog ist keine Option für Russland“.

Politiker wie Selensky und Stoltenberg bereiten Europa auf den Krieg vor – die USA halten „fest die Wacht“. Die USA mit ihrem Präsidenten Biden haben (vielleicht) nichts gelernt und wollen (vielleicht) nach dem Irak – und Afghanistankrieg den Regierungswechsel in Moskau managen.

Berlin und Paris als die Signatarstaaten von Minsk 1 und 2  müssen  die Kriegsparteien veranlassen, ihre gegenseitigen Forderungen zu benennen und darüber ernsthaft zu verhandeln. Die Wiederholung von Buschta wird nicht durch die Lieferung von Waffen sondern durch Frieden verhindert. Verhandeln ist der sichere Ausgang zum Frieden und verhindert das Spiel einiger Routiniers in Brüssel mit dem Feuer. 

Bevor Deutschland für den Krieg von zwei fremden Staaten nicht nur seine Wirtschaft, sondern auch  Menschenleben gefährdet, muss es entscheiden, ob er durch Sanktionen, Geld und Waffen für die Ukraine weiter gefördert werden darf. Wenn die Russen die Ukraine erobern wollen, rechtfertigt das eine austarierte Unterstützung der Ukraine. Wenn die Ukraine die Krim wieder in Besitz nehmen oder der NATO beitreten will, ist das nicht der Fall.

Ein Alleingang von Deutschland  würde es nicht zwangsweise isolieren. Vielmehr auch der Ukraine „Beine machen“ und den Frieden wahrscheinlicher werden lassen. Ohne Deutschland kann  NATO-Generalsekretär Stoltenberg seine Pläne einpacken.

Herr Scholz wird als Realpolitiker zwar (leider) in keinem Fall ausscheren. Er versucht immerhin auf Zeit zu spielen und wahrt so die Chance für Verhandlungen. Bei denen Frankreich und Deutschland dabei sein müssen, weil es nicht nur um die Ukrainer, sondern auch um die Deutschen und Franzosen, von den Russen nicht zu sprechen, geht. 

Die NATO irrt fürchterlich, wenn sie glaubt, Mitgliedstaaten ihren Schutz zu sagen zu dürfen, wenn sie schwere Waffen wie Panzer, Raketen und vielleicht auch Flugzeuge an die Ukraine liefern. Wenn Russland Transportflugzeuge voller Waffen eines Mitgliedstaates abschießt, kann der Bündnisfall nach den Art. 4, 5 und 6 Abs. 3 NATO-Vertrag eintreten. Besonders wenn der Abschuss angeblich oder tatsächlich den Luftraum eines NATO-Staates betrifft. Und dann sind die Deutschen Kriegsteilnehmer. 

Kalte Krieger wie Stoltenberg riskieren einen atomaren Krieg, wenn sie die Parole eines Sieges der Ukraine über Russland verbreiten und durchsetzen. Wenn sie den USA helfen, unbegrenzt Waffen, vermutlich mit den doch wohl dazu gehörigen Ausbildern – höchst geheim natürlich – Geld und Sanktionen (für alle Zeiten?) liefern und einen Dialog mit Russlands Putin mit der Behauptung, Russland wolle ihn nicht ernsthaft, ablehnen.

Es gibt ein historisches Vorbild für die Ukraine und Russland. Finnland wurde 1939 von der Sowjetunion unter Stalin überfallen, verteidigte sich tapfer und über drei Monate sogar erfolgreich. Es entschied sich für eine Neutralität, den viel besprochenen finnischen Weg, den es nicht mit Hilfe der NATO verlassen sollte. Die Schlussakte von Helsinki vom 1.8.1975 war die Brücke in die Freiheit für Millionen von Menschen.

Das Gute daran, Putin ist nicht Stalin. 

Im übrigen haben Deutschland und die restliche Welt noch ein offenbar nicht so aktuelles Problem, den  weltweiten Klimawandel durch eine drohende Erderwärmung von 3 Grad.

Reinhart Zarneckow

Hybris des Westens

Neulich habe ich einen alten Freund getroffen und wir sind schnell in’s Gespräch darüber gekommen, was uns in dieser Zeit bedrückt und beschwert. Er hat mir danach einen Brief geschrieben mit zwei sehr nachdenklich stimmenden Texten:

Lieber Herr Dr. Ehricht,

auf unser Gespräch zurückkommend habe ich – sozusagen als „Beifang“ aus meiner Arbeit – zwei Quellen herausgesucht, die zu rezipieren unserer politischen Elite, sofern von letzterer überhaupt zu sprechen ist, guttun würde. Vermutlich aber wäre dennoch Hopfen und Malz verloren.

1. Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Herders Bemerkungen sind der Beleg dafür, dass sich an dem, was das europäische/westliche Überlegenheitsgefühl angeht, bis heute nichts geändert hat. Herder ist aber auch der Beweis dafür, dass die Hybris damals schon erkannt wurde (1. Anhang).

2. Samuel P. Huntington (1927-2008)

Sein Werk von 1996, das ins Deutsche irreführend mit „Kampf der Kulturen“ übersetzt und unter dieser Übersetzung verlegt wurde (1996 München/Wien), heißt im amerikanischen Original The Clash of Civilizations, wobei Clash in erster Wahl mit „Zusammenprall“ übersetzt werden muss, nur so ist dieses Buch auch zu verstehen und nur so hätte es deshalb übersetzt werden dürfen. Huntington haut ganz und gar nicht in westlicher Hybris auf die anderen Kulturen ein, sondern er plädiert ganz wie Herder für ein Nebeneinander der Kulturen, ohne dass der Westen das Recht hätte, seine Ordnung den anderen Kulturen überzustülpen (2. Anhang, Auszug aus seinem Buch).

Ich wollte Sie jetzt nicht mit Material überschütten, aber ich halte diese Quellen schon für sehr interessant in Bezug auf das Thema, über das wir kurz gesprochen haben.

Mit besten Grüßen

Michael Hammermeister

(Zitate Herder und Auszüge aus Huntingtons „Kampf der Kulturen“ am Ende des Beitrags)

Soweit der Brief meines Freundes und seine Lektüre-Tips. Je länger ich darüber nachdenke, um so stärker wird meine innere Zustimmung zu der Diagnose „Hybris des Westens“. Sie dürfte tatsächlich eine der Ursachen der gegenwärtigen Krise sein, der unvermuteten und sehr realen Kriegsgefahr, die noch vor Jahresfrist kaum jemand für möglich gehalten hätte. Hybris verbaut mir den Weg zu der Einsicht, dass zu einem Konflikt immer zwei gehören. Und dass das erste Opfer in so einem Konflikt immer die Wahrheit ist.

Schade, dass unsere Leitmedien die Schuld im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine so unbeirrt von allen Fakten nur einer Seite zuweisen. Das Minsker Abkommen ist ja keineswegs nur von Moskau nicht umgesetzt worden, eher im Gegenteil. Wer wirklich an Deeskalation interessiert ist, müsste die Scharfmacher auf beiden Seiten in ihre Schranken weisen. Den Kreml u.a. wegen seines Säbelrasselns, Kiew u.a. wegen einer nationalistischen Ideologie, die nicht davor zurückscheut, einen Hitler-Kollaborateur und fanatischen Antisemiten wie Stepan Bandera per Gesetz zum Nationalheiligen zu ernennen, nur weil er, als Hitlers Niederlage sich abzeichnete, gegen die Russen kämpfte – und gegen die Polen, was im Moment gerne verschwiegen wird. Steht der Kiewer Außenminister in dieser Tradition, wenn er jetzt das Ende der Russischen Föderation prophezeit?

Ich bin übrigens sicher, dass diese Sicht eher im Westen der Ukraine verankert ist. Jedenfalls hatte ich immer wieder Gespräche mit Ukrainern, die daran festhielten: mit Russland verbindet uns mehr als uns trennt. Wir wollen unser Land zu einer Brücke zwischen Westeuropa und Russland gestalten, nicht zuletzt aus ökonomischen Interessen. Warum verfolgte der Westen eine ganz andere Strategie? Warum wurden die klugen Ratschläge besonnener Kenner in den Wind geschlagen, die bei den Verhandlungen über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine die Beteiligung Russlands empfohlen hatten? Wie anders hätte die Entwicklung aussehen können. So aber ist die Ukraine offenbar zum Spielball geopolitischer Interessen der Supermächte geworden. Nicht vergessen sollten wir auch, dass noch 1997 beim Abschluss der so genannten NATO – Russland – Akte der Westen selbstverständlich bereit war, russische Sicherheitsinteressen zu akzeptieren. Das ist nun nicht mehr wahr. Vielleicht hat sich ja die Hybris des Westens verbunden mit Heuchelei, es wäre nicht das erste Mal in der Weltgeschichte. Immer wieder muss ich an Pastor Lorenzens bittere Bemerkung in Theodor Fontanes Stechlin über die Engländer seiner Zeit denken: Sie reden von Christus und meinen Kattun.

Hybris des Westens. Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man über manches ja auch schmunzeln. Zum Beispiel über das Pentagon mit seiner Meldung über sichere Erkenntnisse, wonach Moskau einen Film vorbereitet, der den Angriff ukrainischer Soldaten belegen soll. Unseren Leitmedien war das eine Spitzenmeldung wert. Ob manche der Redakteure dabei vielleicht auch an die Volksweisheit gedacht haben „was ich selber gerne denk und tu, das trau ich auch den andern zu“ – und an die unumstößlichen Beweise für die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein?

Genug der Polemik. Aber das Gespräch mit Michael Hammermeister geht mir nach. Vielleicht äußert er sich ja zu diesen meinen Gedanken. Vorerst versuche ich, meine eigene Position in den Stürmen der Zeit herauszufinden. Einerseits freue ich mich, dass unsere neue Regierung eine wertorientierte Außen- und Sicherheitspolitik ankündigt. Wenn das die Verpflichtung auf eine ehrliche, nüchterne und bescheidene Haltung bedeuten soll, dann wäre das gut. Ich bin leider misstrauisch. Am Ende sind die Positionen leichter zu bestimmen, wenn mit den offenen Karten einer interessengeleiteten Politik gespielt wird, um die es ja in Wahrheit immer geht. Dann lässt sich bei gutem Willen immer ein Ausgleich finden. Wirklich gefährlich wird es, wenn die Konfliktparteien glauben, die Lösung ihrer eigenen Probleme durch Drehen an der Eskalationsspirale voranbringen zu können. Diesen Eindruck muss man gegenwärtig leider haben. Wenn Europa, wie jetzt immer wieder lautstark verkündet, wirklich ernst genommen werden will, wird es sich dieser Spiralbewegung entgegenstemmen müssen. Und die wirklich guten Traditionen eines europäischen Geistes in die Waagschale werfen, der tolerant, differenziert und kritisch mit sich und anderen umgeht. Der nicht großmäulig mit der „Mutter aller Sanktionen“ droht, sondern im Verzicht auf alle Hybris ein neues Fundament für vertrauensvolle Zusammenarbeit legt.

Christoph Ehricht

Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 

Herausgegeben von Heinz Stolpe in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kruse und Dietrich Simon, 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar: Aufbau, 1971. 10. Sammlung 

115 
S. 251 

Was soll überhaupt eine Messung aller Völker nach uns Europäern? wo ist das Mittel der Vergleichung? Jene Nation, die ihr wild oder barbarisch nennt, ist im wesentlichen viel menschlicher als ihr; und wo sie unter dem Druck des Klima erlag, wo eine eigne Organisation oder besondre Umstände im Lauf ihrer Geschichte ihr die Sinne verrückten, da schlage sich doch jeder an die Brust und suche den Querbalken seines eignen Gehirnes. 

116 
S. 262f 

   4.Jede Nation muß also einzig auf ihrer Stelle, mit allem, was sie ist und hat, betrachtet werden; willkürliche Sonderungen, Verwerfungen einzelner Züge und Gebräuche durcheinander geben keine Geschichte. Bei solchen Sammlungen tritt[262] man in ein Beinhaus, in eine Gerät- und Kleiderkammer der Völker, nicht aber in die lebendige Schöpfung, in jenen großen Garten, in dem Völker wie Gewächse erwuchsen, zu dem sie gehören,


  5. Am wenigsten kann also unsre europäische Kultur das Maß allgemeiner Menschengüte und Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europäische Kultur ist ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo existiert sie ganz? bei welchem Volk? in welchen Zeiten? Überdem sind mit ihr (wer darf es leugnen?) so viele Mängel und Schwächen, so viele Verzuckungen und Abscheulichkeiten verbunden, daß nur ein ungütiges Wesen diese Veranlassungen höherer Kultur zu einem Gesamtzustande unsres ganzen Geschlechts machen könnte. Die Kultur der Menschheit ist eine andre Sache; ort- und zeitmäßig sprießt sie allenthalben hervor, hier reicher und üppiger, dort ärmer und kärger. Der Genius der Menschennaturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wäre. 

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