Mit Putin darf, nein muss geredet werden.

Der CDU-Politiker Röttgen hat in der Sendung bei Markus Lanz die Notwendigkeit und den Sinn von Waffenlieferungen an die Ukraine ehrlich begründet. Damit die Ukrainer ausreichend Waffen haben, wenn es beispielsweise in den Städten zum Häuserkampf kommt. Die Waffenlieferungen ermöglichen es der Ukraine, sich auf lange Zeit zu verteidigen. Niemand äußert Bedenken. Ein langwieriger Krieg wird so ins Gespräch gebracht.

Der russische Präsident Putin hat einen Krieg ausgelöst, der auch aus russischer Sicht weder erforderlich noch im Hinblick auf die uns schon jetzt bekannten Verluste an Menschenleben, hier meine ich zunächst nur die ukrainische Seite, verhältnismäßig ist. Putin hat sich mit allem was er beherrscht, ins Unrecht versetzt, selbst wenn die Vorgeschichte von einer unglaublichen Ignoranz und Überheblichkeit der ehemaligen Partner Russlands bestimmt wird.

Erforderlich war der Angriffskrieg nicht, weil sich die Krim, Donezk und Luhansk in Russlands Einflusszone befinden. Mit der völkerrechtlichen Anerkennung von Donezk und Luhansk hatte Putin als Präsident der Atommacht Russland das gleichsam festgezurrt. Und die Welt hätte das wohl auch geschluckt, wenn er sich begnügt hätte. Die Ukraine hatte die Möglichkeit, diese Separation der Teilrepubliken und der Krim anzuerkennen. Dann wäre der Einwand der Krisensituation nicht mehr gegeben gewesen und die NATO hätte die Ukraine aufnehmen können. Russland hätte das wohl hinnehmen müssen. Die Ukraine ist diesen Weg nicht gegangen, wenn der Präsident Selenskyi ihn beschritten hätte, wäre er vermutbar des Landesverrates bezichtigt worden.

Putin hätte das Patt anerkennen müssen.

Unverhältnismäßig ist das Handeln, weil Putin offenkundig auf einen Krieg zusteuert, der sich gegen die Zivilbevölkerung richtet. Es droht die Bombardierung der großen ukrainischen Städte …!

Die Mitgliedsstaaten der NATO wollen sich an einem Krieg gegen Russland nicht beteiligen. Nicht so sehr, weil die Ukraine kein Mitgliedsland der NATO ist, sondern weil es sich bei Russland um eine Atommacht handelt. Wenn die NATO aus guten Gründen nicht kämpfen will, dann muss sie jede Chance zu Verhandlungen wahrnehmen. Warum erbietet sich nicht die NATO oder auch nur Deutschland zur Teilnahme an den begonnenen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland – und wenn auch nur als Moderator oder Beobachter? Müssen die Ukraine und Russland erst ausbluten oder warten wir einen Sturz von Putin durch seine Leute ab? Oder sind die Politiker Macron und Scholz frustriert, weil sie bei ihren Gesprächen mit Putin keinen Erfolg gehabt haben? Oder wird lieber der Tod vieler Menschen akzeptiert, weil der Versuch von Verhandlungen mit dem Lügner aus Russland verwerflich ist?

Gerhard Schröder und Matthias Platzeck sind in der Öffentlichkeit derart plattgemacht worden, dass sie von der Bundesregierung auf die Gefahr ihres politischen Unterganges nicht für Gespräche mit Putin verwendet werden können. Das ist beschämend, denn vielleicht ist der russische Präsident, dem nunmehr eine Bunkermentalität zugesprochen wird, für Argumente der beiden Herren erreichbar.

Russland fordert erneut Gespräche mit der Ukraine. Vielleicht ein Täuschungsmanöver, um einen schrecklichen Bombenkrieg im Falle ihres Scheiterns zu rechtfertigen. Wenn der Westen nicht kämpfen kann und will, muss verhandelt werden. Und wir Deutschen sollten den Gürtel nur enger schnallen, wenn wirklich alles, wirklich alles Erforderliche unternommen wurde, für Frieden in Europa zu sorgen. Wenn jeder desavouiert wird, der eine Verbindung oder gar einen Draht zu Putin hat, dann wird das Falsche oder zumindest zu wenig getan.

Also bitte aufwachen, Bundesregierung, bei allen Gesprächen dabei sein, ihr komplettes Scheitern und so die Ausweitung des Krieges durch Russland versuchen zu verhindern.

Reinhart Zarneckow

Predigt am 27.2.2022 in der Schlosskapelle Ludwigsburg bei Greifswald

Christoph Ehricht

Schlosskapelle Ludwigsburg (*Bild 1)

Markus 8, 31 – 38, Jesu Leidensankündigung in Caesarea Philippi:

Des Menschen Sohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete davon frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er wandte sich um und sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Hebe dich, Satan, von mir, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.

Gott segne dieses Wort an uns. Amen.

Liebe Gemeinde,

Jesus mutet seinen Freunden und Anhängern einiges zu. Sie hatten ihm vertraut und sich auf den Weg mit ihm gemacht, weil er Kranke gesund machen konnte, Liebe an die Stelle von Kaltherzigkeit setzte und vielleicht sogar das Ende der verhassten römischen Fremdherrschaft und der wie ein Krebsgeschwür wuchernden Korruption im Lande herbeiführen konnte. Ein Held, der lang ersehnte Messias. Und nun müssen sie diese Rede hören: nicht Sieg, sondern Leiden wird angekündigt, sogar der Tod. Kein Wunder, dass sich lauter Widerspruch regt. Aber den weist Jesus scharf zurück und bedroht sogar seinen treuesten Anhänger Petrus: Hebe dich hinweg, Satan. Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.

Auch unserem Glaubensmut und unserem Gottvertrauen wird gerade einiges zugemutet. Die lange zermürbende Coronazeit, der Klimawandel und nun auch noch der Krieg mitten in Europa. Trauer, Wut und Angst beherrschen mich wie wahrscheinlich auch Sie, da hilft kein Wegschauen und es gibt nichts schönzureden. Antworten auf die vielen Fragen, die sich jetzt bedrängend stellen, haben wir alle nicht, allenfalls im Hören auf unser heutiges Sonntagsevangelium die Zusage, dass Gott uns durch seinen Sohn gerade auch im Leiden, in der Ratlosigkeit und Angst und Ohnmachtsgefühlen nahe ist. Ein schwacher Trost?

So schwer es ist, liebe Gemeinde, wir müssen in diesen Tagen wohl endgültig Abschied nehmen von der Vorstellung, dass unsere Welt und unser Lebensmodell sicher sind. Dass wir über unsere Zukunft verfügen und dass Frieden und Fortschritt und Wohlstand machbar sind. Diese Sicherheit verlieren wir gerade – Jesu Warnung bestätigt sich, wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Eine bittere Einsicht, ich sage dies wirklich nicht leichtfertig, eher mit großem und ehrlichem Schmerz. Aber nur, wenn wir dieser Wahrheit in’s Auge sehen, werden wir den nötigen Mut bekommen, Verantwortung wahrzunehmen ohne kurzatmigen oder irregeleiteten Aktionismus, ohne Panik und Hysterie, nur dann werden wir frei werden von lähmender Angst.

Und wir werden dann vielleicht auch erahnen können, welchen Gewinn uns das Vertrauen auf den schweren Weg Jesu verspricht. Gott schickt ihn in seine Passion, auf den Leidensweg zum Kreuz, weil er die noch unerlöste Welt durch Liebe vollenden und erlösen will und weil Liebe sich eben mit Gewalt nicht durchsetzen lässt. Am Ende aber hat sie den längeren Atem und wird alles verwandeln, in ein neues Licht rücken, wenn nicht in dieser, so in der kommenden Welt. Das ist gewiss.

Vom Kirchenvater Augustin lernen wir zu unterscheiden zwischen Sicherheit und Gewissheit. Sicherheit gibt es nicht, aber der Allmacht und Überlegenheit der Liebe Gottes dürfen wir gewiss sein. In dieser Gewissheit, liebe Gemeinde, sollen wir in dieser aufwühlenden Zeit vor allem das Gespräch untereinander suchen. Keiner und keine, vor allem auch unsere Kinder und Enkel nicht, soll sich mit seinen Sorgen und seiner Angst allein gelassen fühlen. Nähe ist der beste Trost.

Liebe Gemeinde, schon vor einigen Jahren hat ein Philosoph aus Jena, Hartmut Rosa, ein Buch veröffentlicht, auf das ich erst jetzt aufmerksam geworden bin. Es heißt „Unverfügbarkeit“ und entfaltet unter verschiedenen Blickwinkeln das spannungsvolle Verhältnis von Verlust und Gewinn, von dem unser Sonntagsevangelium spricht. Es geht in dem Buch um die Einsicht, dass unser Leben seinen Reichtum, seinen beglückenden Glanz, seinen Klang, seine Resonanz, wie Rosa sagt, durch das gewinnt, worüber wir nicht verfügen, was wir nicht machen können, ja, was wir mit den Mitteln unseres Denkens und unserer Sprache kaum erfassen, geschweige denn verfügbar machen können. Eine unverfügbare Wirklichkeit. Natürlich, das weiß er gut, natürlich muss es auch besonnenen Umgang mit dem geben, worüber wir verfügen können. Alles andere wäre wirklichkeitsfremd und lebensfeindlich. Nur darf eben das Verfügbare nicht zum letzten Maß aller Dinge werden. Dann greifen der Vorwurf, den Jesus seinem Freund Petrus macht und die Warnung vor einem unwiederbringlichen Verlust!

Hartmut Rosa veranschaulicht dies an einem schlichten, fast banal wirkenden Beispiel: Es ist wie mit dem Schnee, den wir nicht machen oder bestimmen können, den wir kaum vorhersagen und schon verloren haben, wenn wir ihn festhalten wollen. Aber wenn er denn fällt, wird unsere Welt verwandelt, Dunkelheit wird erhellt und ein wärmendes, geheimnisvolles Gefühl von Geborgenheit erfüllt uns. Mir gefällt dieses Bild. So stelle ich mir gerne die Verwandlung am Ende der Zeit vor, wenn Gottes Liebe alles bestimmt.

Martin Luther hat diese Verwandlung in seinem schönen Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ besungen. Es steht in unserem Gesangbuch zwar als Weihnachtslied. Wir wollen es dennoch jetzt gemeinsam singen und mit besonderem Ernst und besonderer Zuversicht in dieser beginnenden Passionszeit einstimmen in den Vers: „Das ewig Licht geht da herein und gibt der Welt einen neuen Schein. Es leuchtet mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. Kyrieleis.“ Amen.

Der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Liebe Gemeinde, schon vor einiger Zeit hat Kyrill, der Moskauer Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, zu der viele Gemeinden in Russland und in der Ukraine gehören, seinen Gläubigen ein Friedensgebet an’s Herz gelegt, das wir jetzt in der Verbundenheit mit unseren Schwestern und Brüdern dort beten wollen:

Herr Jesus Christus, unser Gott,
siehe herab mit deinem barmherzigen Auge auf das Leid und das so schmerzerfüllte Schreien deiner Kinder, die in der Ukraine sind.
Befreie dein Volk vom Bruderkrieg, verringere das Blutvergießen,
befreie von den Nöten, die der Krieg mit sich bringt.
Die, die ein Haus verloren haben, lass wieder ein Zuhause finden,
gibt den Hungernden zu essen, tröste die Weinenden, vereine die Getrennten.
Lasse es nicht zu, dass deine Kirche Jemanden verliert aus Wut gegenüber Mitmenschen und Verwandten, sondern schenke uns wie ein großzügiger Gott baldige Versöhnung.
Erweiche die Herzen derer, die hart geworden sind und lass uns zurückkehren zur Erkenntnis deiner Weisheit. 
Schenke Frieden deiner Kirche, ihren treuen Kindern und allen deinen Völkern, mache uns zum Werkzeug deines Friedens, damit wir mit einem Herzen und einigen Lippen dich preisen, unseren Herrn und Heiland von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Buch Hartmut Rosa (*Bild 2)

*Bild 1: commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21934129, Erell-Eigenes Werk, CCBY-SA 3.0

*Bild 2: https://ethik-heute.org/wp-content/uploads/2019/04/9783701734467-web2.jpg

Geschichten aus der Rathenaustraße – Frankfurt (Oder) nach dem Krieg Teil 2

Bettina Zarneckow

Fleischerei Steinecke, Rathenaustraße

Die Umstände des Krieges hatten dafür gesorgt, dass meine Großeltern kein Auto mehr hatten. Nur ein Fahrrad besaß die Familie noch mit einem Transportkorb. Gefahren wurde dieses von den Angestellten, um Ware von Laden zu Laden zu bringen. Ein Geselle hatte einmal voller Tatendrang versucht, meiner Großmutter das Fahrradfahren beizubringen. Beide gaben schließlich auf.

Ein Transportmittel musste her. Es wurde unbedingt benötigt, um Fleisch heranzuholen, das dann in der eigenen Werkstatt, auch in einer Fleischerei hießen so die Arbeitsräume, verarbeitet und für den Verkauf fertiggemacht wurde.

Wie und woher mein Großvater in den Besitz eines Anhängers kam, das wusste meine Mutter nicht mehr. Aber er war Gold wert. Voll beladen mit Fleisch wurde er von einem Pferd vom Schlachthof in der Lebuser Vorstadt etwa 5 Kilometer zum Geschäft gezogen. Das Pferd lieh sich mein Großvater von Herrn Schulz. Einige Frankfurter werden sich an seine Firma Kohlen Schulz im Stadtteil West erinnern. Auf Dauer war das aber zu schwer für das Tier und so wurde ein Vertrag mit der Straßenbahngesellschaft geschlossen, eine Zugvorrichtung gebaut und der Hänger für die Fleischerei wurde am Schlachthof an einen Wagon der Straßenbahnlinie 2 angehängt und bis zur Straßenbahnhaltestelle August-Bebel-Straße mitgezogen. Ein Bild, an das sich so mancher Bewohner der Stadt heute noch erinnert. Mein Großvater lief dann mit Angestellten zur Haltestelle. Zusammen brachten sie den Hänger zum Geschäft.

Meine Großeltern beauftragten den Automechanikermeister Enge, für sie ein Auto zu beschaffen. Die Autowerkstatt Enge befand sich August-Bebel – Ecke Markendorfer Straße (heute Gebäude Zeugen Jehovas). Es gab weder Neu- noch Gebrauchtwagen und so baute Herr Enge aus Einzelteilen einen Wagen vom Typ Wanderer auf. Benzin bekam man nur auf Zuteilung. Es musste ein Fahrtenbuch geführt werden und am Monatsende wurde abgerechnet. Das tat mein Großvater bei der Tankstelle in der Kantstraße und erhielt nach korrekter Abrechnung Benzinmarken für den nächsten Monat.

Mit 17 Jahren, im Jahr 1951, machte meine Mutter ihren Führerschein bei Georg Kuck in der Markendorfer Straße – Ecke Puschkinstraße. Im September konnte sie ihre Fahrerlaubnis bei der Polizei in der Halben Stadt abholen und so fuhr auch sie fortan mit dem Firmenwagen durch Frankfurt. Sie war zeitlebens eine begeisterte Autofahrerin.

Im Dezember 1951 kam noch ein weiteres Fahrzeug der Marke Opel hinzu. Noch nicht sehr erfahren im Umgang mit einem Auto, blieb meine Mutter eines Tages in der August-Bebel-Straße genau vor der Hindenburg-Kaserne (gelbe Kaserne) stehen. Der Motor des voll beladenen Autos ging einfach aus. „Und nun?“, fragte ich sie. „Hast du einen Schreck bekommen? Was hast du dann gemacht?“ „Wie ich es bei anderen Autofahrern in ähnlicher Situation beobachtet hatte, stieg ich aus dem Auto aus und öffnete sachkundig die Kühlerhaube. Feststellen konnte ich nichts, aber es dauerte nicht lange, da kam ein junger russischer Soldat aus der Kaserne. Ohne ein Wort zu sagen betrachtete er die Lage, schaute sich die Messanzeigen des Cockpits an und verschwand wieder, um nach kurzer Zeit mit einem Kanister wiederzukommen. Er befüllte den Wagen mit Benzin, schloss die Kühlerhaube und gab mir zu verstehen, dass ich meine Fahrt fortsetzen könne. Und tatsächlich, das Auto sprang an und ich fuhr nach Hause. Seitdem habe ich die Benzinanzeige meines Autos immer im Auge.“

August-Bebel-Straße, früher Hindenburgstraße. Turm rechts – gelbe Kaserne früher Hindenburgkaserne (Bild aus privater Sammlung)

Ihr neun Jahre älterer Bruder Kurt konnte zu dieser Zeit im Geschäft nicht mithelfen. Zunächst kam er 1948 aus Kriegsgefangenschaft heim. Dann wurde er 1950 von den Russen in Haft genommen. Man warf ihm Spionage vor. Weil er im Notizbuch eines bereits inhaftierten Deutschen stand, kamen bewaffnete russische Soldaten und ein Offizier eines Tages in den Verkaufsraum der Fleischerei und fragten in gebrochenem Deutsch nach Kurt Steinecke. Bevor sie ihn mitnahmen, zog sich mein Onkel noch um und bat seine Mutter, ihm doch für unterwegs ein paar Stullen zu schmieren. Bis an ihr Lebensende hat meine Großmutter den Schmerz nicht verwunden, dass sie ausgerechnet diese Bitte ihres Sohnes in ihrer Angst und Aufregung nicht erfüllte. Sie hatte es einfach vergessen.

Wahrscheinlich saß er zunächst im Gefängnis in der Collegienstraße. Mit dieser Vermutung nahm sich meine Mutter Trixie, den Foxterrier der Familie, und fuhr dorthin. „Ich wusste nicht, was ich damit erreichen wollte, aber ich lief mindesten zwei Stunden am Gefängnis entlang und um das Gefängnis herum, tat immer so, als würde ich den Hund erziehen, ihm „Stöckchenholen“ beibringen oder ähnliches. Jedenfalls rief ich immer laut nach Trixie, um meinen Bruder wissen zu lassen, dass ich da bin, falls er mich hören konnte.“

Rosemarie und Trixie

Dann wurde er für ein Jahr nach Potsdam in die Untersuchungshaftanstalt des Geheimdienstes Militärspionageabwehr der sowjetischen Besatzungsmacht gebracht und zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager mit Einziehung des Vermögens verurteilt. Er kam nach Workuta, einer russischen Stadt vor dem Ural. 1955 erreichte Konrad Adenauer durch Verhandlungen in Moskau die Freilassung noch immer inhaftierter deutscher Kriegsgefangener und Zivilinternierter. In Güterzügen kehrten die Gefangenen nach Deutschland zurück. Aber wann? Geregelte Fahrpläne gab es für diese Züge nicht. Und so fuhr meine Mutter wann immer sie Zeit hatte zum Frankfurter Güterbahnhof, A.-Bebel – Ecke Fürstenwalder Straße, um ihren Bruder nicht zu verpassen. Eine bekannte Familie, die Besitzer der Tankstelle in der Kantstraße, bot an, beim Eintreffen jedes Zuges aus Richtung Osten, bei meinen Großeltern anzurufen. Viele Mitmenschen im Stadtteil West nahmen Anteil am Schicksal des Sohnes des Fleischermeisters Paul Steinecke.

Dann kam die Nachricht und meine Mutter fuhr zum Bahnhof. Ganz sicher sollte Kurt Steinecke in diesem Zug sein. Aber niemand durfte die Wagons verlassen. Sie blieben verschlossen. Warum? Dafür gab es keine Erklärung. Der Zug fuhr weiter nach Potsdam. Meine Mutter mit dem Auto hinterher, um ihren Bruder nach Hause zu holen. – Ja, er war in diesem Zug und konnte ihn in Potsdam verlassen. Über seine Zeit in Sibirien hat mein Onkel kaum etwas erzählt.

Ein Film, bei dem er bei mehrmaliger Ausstrahlung keinen einzigen Teil verpasste war: „So weit die Füße tragen“ (1959), nach dem gleichnamigen Roman von Josef Martin Bauer. Im Lexikon des internationalen Films heißt es dazu: „Der Film war‚ Balsam‘ für die Seele des Volkes, da ein unbescholtener Deutscher in der Rolle des Kriegsopfers gezeigt wurde.“ Scheinbar war er auch Balsam für die Seele meines Onkels.

Kurt 1950

Im Jahr 2013 recherchierte ich über die Geschichte der August-Bebel-Straße. Dazu rief ich bei Herrn Glöckner an. Inhaber der Drogerie und des Fotogeschäftes Glöckner – alteingesessener Frankfurter. Seine Kenntnisse zum Stadtteil West waren sehr hilfreich und ebenso interessant. Am Ende unseres Gespräches, wir kennen uns persönlich eigentlich nicht, fragte er etwas zögerlich, ob er mich einiges zu Kurt Steinecke fragen könnte. Er wäre doch wohl mein Onkel gewesen und er wisse zwar, dass er von russischen Offizieren abgeholt wurde, aber warum, das konnte sich damals niemand erklären. Die Betroffenheit im Viertel wäre sehr groß gewesen. Ich habe gerne geantwortet. Seine Anteilnahme am Schicksal meines Onkels, fast sechzig Jahre später, hat mich sehr berührt.

Gleich nach der Wende 1989 kaufte sich mein Onkel ein neues Auto. Natürlich einen Mercedes. Eine seiner ersten Fahrten führte ihn nach Potsdam. Er hatte lange überlegt, ob er sich das Gefängnis noch einmal ansehen sollte. Zusammen mit seiner Frau irrte er in Potsdam umher. Ein Navi hatte sein Auto noch nicht. Und so hielt er schließlich an einem Taxistand, um sich den Weg beschreiben zu lassen. Als der Taxifahrer den Grund seines Besuches erfuhr, war er sehr bewegt und sagte zu meinem Onkel, er solle ihm hinterherfahren. Natürlich würde er ihn dort hinbringen, selbstverständlich kostenfrei. Das wäre das Mindeste, was er für ihn tun könnte. Als er das später meiner Mutter erzählte, waren beide zu Tränen gerührt.

Briefkarte meiner Mutter an ihren Bruder ins Arbeitslager. Lange Briefe durften nicht geschrieben werden oder kamen nicht an. Von diesen offenen Karten konnte nur die Rückseite beschrieben werden. Alles wurde kontrolliert. Einige dieser Karten brachte mein Onkel mit zurück. Meine Mutter hat sie aufbewahrt. Die von ihm geschriebenen sind nicht mehr auffindbar. Ein Auszug: „…. Ich will Deine Fragen beantworten. Seit Dezember haben wir noch einen Opel. Er steht im Zickenstall – Garage. Ich fahre alle beide. Wir warten bloß darauf, daß alle vier Plätze besetzt werden. Läßt Du mich dann auch ab und zu mal fahren? Ich tue es nämlich schrecklich gern. … Wir denken nur an Dich! Dein Röschen

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Sibirien, heiratete mein Onkel 1956. Zusammen mit meinen Großeltern und meiner Mutter, die inzwischen den Beruf der Fleischverkäuferin erlernt hatte, arbeitete er nun wieder im Geschäft mit. 1950, noch bevor er inhaftiert wurde, hatte er seinen Meisterprüfung bestanden. Seine Frau Ursula war gelernte Buchhalterin und arbeitete auf dem Gutshof Nuhnen. Wann sie begann im Familienbetrieb mitzuarbeiten, ist unklar, aber bis zur Schließung des Geschäftes Ende der siebziger Jahre war sie mit dabei. Die Verhandlungen mit den Russen bezüglich des Kühlraums und der darin befindlichen Ware führte fortan mein Onkel. Er war bei ihnen nun ein gefragter Mann, weil er ihre Sprache sehr gut beherrschte. 1958 starb mein Großvater. Die Geschäfte mussten ohne das Familienoberhaupt weiterlaufen.

Hatte ich eigentlich erzählt, wie alles begann?

Meine Großmutter war gelernte Fleischverkäuferin und arbeitete in der Fleischerei Rumpel im Stadtzentrum Frankfurts. Dort war sie erste Verkäuferin, wie man es damals nannte. Das Geschäft und das Gebäude gibt es heute nicht mehr. Eines Tages kam Herr Rumpel zu ihr, legte ihr eine Fleischerzeitung vor und sagte: „Emma, wir benötigen dringend einen Meister hier in unserem Geschäft. Und sie suchen jetzt aus diesen Stellenanzeigen einen geeigneten heraus.“ Meine Großmutter, Emma Schlenz, wählte Paul Steinecke aus, Fleischermeister, geboren in Thüringen, der bis dahin bei seinem Onkel August Steinecke in Hannover arbeitete und dort das Handwerk gelernt hatte. 1924 heirateten sie in Frankfurt (Oder) in der Friedenskirche.

Emma und Paul Steinecke