The „German Angst“ vor Putins Russland – eine gefährliche Politik

Ich stelle mir vor, ich lebe im Jahre 2125 und schaue auf die deutschen Entscheidungen im dritten Jahr des Ukrainekrieges zurück:

Bei den alten Griechen wurde mit Kairos der rechte Zeitpunkt für eine Entscheidung verstanden.


Beim Bogenschießen handelt es sich um den Moment, in dem ein Pfeil mit ausreichender Kraft abgeschossen werden kann, um sein Ziel zu erreichen.

Der Historiker Hans Delbrück beschreibt, wie Deutschland im ersten Weltkrieg den rechten Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden verpasste (in: Ludendorffs Selbstpoträt, 1922).

Kardinal Pacelli, der 1939 zum Papst Pius XII. gewählt wurde, bot sich 1917 als Vermittler zwischen England und Deutschland an.

Die Engländer waren sich einig, dass Deutschland weder direkt noch indirekt die Vorherrschaft über Belgien erlangen dürfe. Das würde die deutsche Weltherrschaft (!) bedeuten.

Die Deutschen waren sich uneinig. Wenigstens auf Zeit sollte die Stadt Lüttich aus militärischen Gründen unter dem Einfluss Deutschlands bleiben, so Ludendorff. Andere waren bereit, ohne wenn und aber Englands „belgische“ Bedingungen anzunehmen, setzten sich aber nicht durch.
Die beiden friedenswilligen Länder schrammten laut Delbrück haarscharf an einer Verständigung vorbei.

Die Vermittlung durch Pacelli wurde eingestellt. Der Diktatfrieden von Versailles wurde nicht verhindert, übrigens begann auch der Zerfall des British Empire.

Die Ukraine und Russland haben im März 2022 ebenfalls den rechten Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden verpasst. Mit Ausnahme der Krim hätte die Ukraine wahrscheinlich in ihren alten Grenzen weiter existieren können – es hätte sich jedenfalls gelohnt, die Verhandlungen nicht mit dem Hinweis auf Kriegsverbrechen in Butscha, vermutlich auf Drängen von England und den USA, zu beenden. Ob über das Scheitern der Verhandlungen hinaus in 100 Jahren die Gründe dafür noch mehr als ein nichtssagendes Achselzucken hervorrufen werden, bezweifele ich.

Drei Jahre später bemühen sich die USA unter dem neu gewählten Präsidenten Trump um einen Verständigungsfrieden. Dahinter steht das amerikanische Interesse, zum richtigen Zeitpunkt mit vorteilhaften Beziehungen zu Russland und der Ukraine aus dem Krieg auszusteigen.

Bildquelle: Pinterest

Die Schilderung der erfolglosen Bemühungen der unglückseligen Koalition der Willigen, auch ohne die USA weitermachen zu wollen und die Ukraine mit vielen Milliarden Euro und den Waffen aus ihren Depots weiter im Verteidigungskrieg zu halten, genauso Kiews Bemühungen, NATO-Staaten direkt in den Krieg hineinzuziehen, wird in weiterer Zukunft bestenfalls ihre Promotion betreibende Akademiker bewegen.

Interessieren wird dagegen der Umstand, dass die irrlichternden Europäer das Dilemma verkennen, in dem sich die Präsidenten Selenskyj und Putin befinden.

Angesichts der Kiew geradezu aufgedrängten milliardenschweren Gelder würde Selenskyj politischen Selbstmord begehen, wenn er einen Verständigungsfrieden unter Aufgabe seines Siegesplanes und des Verlustes von umfangreichen Gebieten zulassen würde.

Und Putin fehlt offensichtlich das Vertrauen zu einer Verständigung auf Grundlage eines Waffenstillstandes, den er als eine Atempause für Kiew vor Wiederaufleben neuer Kämpfe ansieht. Er versteht den Krieg als einen Ringkampf (Clausewitz) und sieht nicht Russland, sondern die Ukraine näher am Boden.

Politikern wie Merz fehlt das Einfühlungsvermögen, sich in die Lage Putins und Selenskyjs zu versetzen, und so gelangen sie zur Entscheidung, die Ukraine bedingungslos zu unterstützen – Präsident Selenskyj befindet sich gewollt oder auch nicht in der Falle dieser europäischen Hingabe.

Wird in 100 Jahren noch interessieren, was Politiker wie Bundeskanzler Merz veranlasst hat, in ihrer Politik hin und her zu lichtern? Wie ein Zauberkünstler der Öffentlichkeit vorzugaukeln, einerseits den atomaren Schutz der USA bewahren und andererseits den Rückzug der USA aus dem Krieg durch eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine konterkarieren zu können?

Wird interessant bleiben, dass Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin der EU bei der auf dem Trumpschen Golfplatz in Schottland verhandelten angeblichen Knebelvereinbarung über Zölle auf Waren aller Art (15% auf den Export in die USA, 0% bei Importen von dort, auf weitere Feinheiten muss ich aus Platzgründen verzichten) wie das Kaninchen auf die Schlange schaute und brav den Daumen nach oben streckte?

Das alles wird im Jahre 2125 niemanden mehr besonders erregen. Auch nicht die abgestandene Begründung für solche Willfährigkeit. Damit meine ich die schon vor den zwei Weltkriegen beschworene russische bzw. bolschewistische Gefahr aus dem Osten, die nach neuer Lesart nur von der Atommacht USA und nicht von Staaten wie Deutschland und Frankreich abgewehrt werden könne.

Dagegen wird bestimmt noch in hundert Jahren in Erinnerung bleiben, ob Deutschland angesichts der Umgestaltung der Welt durch eine neue Handelspolitik der USA und deren Rückzug aus Europa richtige Entscheidungen rechtzeitig treffen konnte.

Erinnert wird sicher werden, ob sich Deutschland dem Rückzug der USA aus dem Krieg in der Ukraine rechtzeitig angeschlossen hat. Keine schwierige Aufgabe, weil Deutschland jederzeit die militärische Unterstützung der Ukraine beenden kann. „Komplex“, weil es dann auch die Koalition der Willigen mit Frankreich und England verlassen muss, sofern sie nicht zerfällt.

Zurück zu den wichtigen Entscheidungen, die Deutschland rechtzeitig treffen muss.

Die USA haben mit einer die Staaten der ganzen Welt belastenden Wirtschafts – und Zollpolitik das Spiel Einer gegen Alle aufgenommen.
Wird Deutschland akzeptieren können, dass die USA offenbar ungeachtet der immer noch wichtigen transatlantischen Beziehungen und der gemeinsamen Zugehörigkeit zur NATO allein auf der anderen Seite spielen will und nicht mehr der freundliche Hegemon ist?

Deutschland als drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt wird sich also angesichts der Amerika-first-Politik rechtzeitig entscheiden müssen, die wichtigsten Staaten einschließlich Russlands mit seinen Rohstoffen wie seltene Erden, Erdgas und Öl als Handelspartner und Investitionsmarkt zu gewinnen, um so von den USA unabhängig und eine starke Wirtschaftsmacht zu bleiben.

Genau deshalb wird es die auf dem Trumpschen Golfplatz getroffenen Vereinbarungen so weit wie möglich „um des lieben Friedens willen“ einhalten.

Bleibt noch die von Politikern wie Kiesewetter über Klingbeil bis Merz angeheizte „German Angst“ vor den Russen, die gegenwärtig Deutschland auslaugt – Zahlungen an die Ukraine in Höhe von 9 Milliarden Euro in 2026, Zahlungen an die USA inform von Investitionen, Zollgebühren und für Waffenlieferungen an die Ukraine, Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf über 83 Milliarden Euro in 2026, Bürgergeld für die Ukrainer u.s.w.

Da entschieden worden ist, Deutschland aufzurüsten, sollten die Regierenden damit aufhören, Angst und Schrecken vor den Russen zu verbreiten. Die kostspielige Wiederherstellung der von der Regierung Merkel zugunsten der Interventionsfähigkeit (Afghanistan) aufgegebenen Verteidigungsfähigkeit soll Deutschland doch schützen, ansonsten sollte Deutschland es sein lassen. Die Russen sind schon jetzt nach den Aussagen seriöser Militärexperten wie Wolfgang Richter (Oberst a.D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik) und Prof. Dr. Varwick nicht fähig, NATO-Staaten mit dem Ziel der Vernichtung ihrer Streitkräfte anzugreifen oder auch nur die Streitkräfte der Ukraine auf die Schnelle von nunmehr drei Jahren zu überwinden.

Der von der Union, der SPD und den Grünen, genauso aber auch von der AFD gehuldigte Gesinnungsmilitarismus – ein weites Feld, auf das ich hier nicht eingehen kann – schadet Deutschland, weil er die Erfüllung lebenswichtiger Aufgaben wie Migration, Bildung bis zum Ausgleich von Klimaschäden behindert.

Die Ukraine wird, wenn sich die USA und Deutschland aus dem Krieg in der Ukraine mit Bedacht ausklinken, ihren Frieden mit Russland finden (müssen). Sie hat dann auch nach innen alle Voraussetzungen dafür, als die schwächere Seite Russland einen Erfolg versprechenden Vorschlag für Verhandlungen zu unterbreiten.

Deutschland hat mit Minsk 2, der Hinnahme des Terroranschlages auf die Pipelines Nordstream und der Aufnahme von nicht wenigen ukrainischen Flüchtlingen seine Schuldigkeit getan.

Reinhart Zarneckow

Mein Vater

Bei meiner Geburt war mein Vater 45 Jahre alt. Er starb zwei Monate nach meinem zwanzigsten Geburtstag im Januar 1989.
Georg Herbert Johannes Biegon wurde am 10. März 1923 in der Stadt Tost in Schlesien geboren.

Ich weiß wenig aus seiner Kindheit, aber folgende Geschichte hat er uns Kindern erzählt: Seine Familie lebte von der Landwirtschaft und besaß einen Bauernhof in Tost. Zum Hof gehörte neben einem Pferdefuhrwerk auch ein Motorrad. Unerlaubt und längst nicht alt genug dafür, fuhr er mit diesem Motorrad umher, wusste aber nicht, wie er es anhalten sollte. Und so drehte er solange Runden, bis kein Benzin mehr im Tank war. Als Strafe verordnete ihm sein Vater das Knien auf getrockneten Erbsen. Im weiteren Vollzug musste er sich auf einen Stuhl setzen und abwarten, bis sich auch die letzte Erbse von seinen Knien gelöst hatte.

Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Bäcker. Für seine Pfannkuchen war er zeitlebens berühmt.
Meine Arbeitskollegen wünschten sie sich regelmäßig. Und so ließ er es sich auch nicht nehmen, sie zu jeder Brigadefeier höchstpersönlich in meiner Fotoabteilung anzuliefern.

Im 2. Weltkrieg war er Soldat bei der Kriegsmarine und sowohl in Italien – Bari und La Spezia -, als auch in Norwegen stationiert. Er erzählte immer gern aus dieser Zeit. Beim Reden wuchsen sein Eifer und seine Gestik. Er mochte die Landschaft Italiens und Norwegens und die Menschen dort, so meine Schwester, die sich an vieles besser erinnern kann.
Er sah sich wieder als jungen Mann, Anfang zwanzig, in Uniform auf einem Marineschiff vor fremden Küsten und in Häfen auf den Meeren der Welt.


Mit dem Ende des Krieges geriet er in Kriegsgefangenschaft, kam in ein kleines Dorf bei London und arbeitete in der Landwirtschaft. Auch in England hat es ihm gefallen.
Als er entlassen wurde, lag sein Heimatort Tost nicht mehr in Deutschland. So siedelte er sich nahe der deutsch/polnischen Grenze im Oderland an, lebte zunächst in Seelow und zog im April 1962 nach Rathstock, wo er schon vorher einige Jahre Bürgermeister gewesen war.

Er hatte sich das Saxophonspielen beigebracht und tingelte an den Wochenenden mit seiner Band „Die Duranos“ über die märkischen Dörfer. Sachsendorf, Dolgelin, Alt-Tucheband … Vielleicht mag ich seinetwegen das Instrument und seinen Klang so gern, dabei habe ich ihn beim Spielen auf seinem Saxophon nie erlebt.
Später kaufte er sich eine Mundharmonika der Marke „Weltmeister“ und spielte für uns zu Hause. Meist Titel seiner Lieblingssängerin Lolita.
Wann immer er Marschmusik aus Radio oder Fernseher hörte, hielt er inne, stand auf und vollzog mit den Händen taktierende Schlagfiguren, während sich die Blicke meiner Schwester und mir vielsagend trafen.

In den 50er Jahren absolvierte er eine Weiterbildung zum Verkehrsmeister. Er wurde Leiter des VEBs Kraftverkehr in Seelow. Selbst Busse durfte er fahren. Das zeigte ein grünes Samtemblem mit silbernem Bus, das er am Revers seiner Betriebsuniform trug.

1961 war er Mitgründer des Motorsportclubs Seelow und sein 1. Vorsitzender. 1963 initiierte er das erste Motocross, das bis heute jährlich stattfindet. Wann er Mitglied der SED geworden ist, weiß ich nicht.

https://www.mc-seelow.de/downloads/40-jahre-mc-seelow-ac-voll.pdf

Wenn wir später mit unserem Wartburg durchs Oderland fuhren, erzählte er jedes mal voller Stolz, wie er seinerzeit die Haltestellen der Busse festlegte.
Er führte auch die Einsatzpläne, wenn Reisebüros Busse orderten.
Beim Frankfurter Reisebüro in der Abteilung „Jugendtourist“ arbeitete Fräulein Steinecke, die aus dem elterlichen Fleischereibetrieb ausgestiegen war und beruflich einen anderen Weg gehen wollte. Sie war für die Buchungen von Bussen verantwortlich, rief deshalb häufig in Seelow beim Leiter des Kraftverkehrs an.
Eines Tages fuhr mein Vater nach Frankfurt um zu sehen, wer am anderen Ende der Leitung sprach.
1967 heirateten Georg Biegon und Rosemarie Steinecke. Mein Vater war katholisch, ließ sich dennoch mit meiner Mutter im Dom zu Fürstenwalde evangelisch trauen. Noch im selben Jahr im November wurde meine Schwester geboren. Im darauffolgenden November kam ich zur Welt.

Unsere Eltern bezogen eine Wohnung in unserem Haus in Frankfurt. Mein Vater wechselte zum VEB Kraftverkehr Frankfurt, leitete erst als Dispatcher den Taxenfuhrpark.
Später, als er aus gesundheitlichen Gründen nur noch eingeschränkt arbeiten konnte, wurde er Obmann für Ordnung und Sicherheit sowie Vertrauensperson bei Schlichtungen innerhalb des Betriebes. In „seinem“ Kraftverkehr war er beliebt. Er galt als tatkräftiger, verlässlicher und vertrauenswürdiger Kollege.

Solange es ihm gesundheitlich möglich war, spielte er in der Betriebsmannschaft Fußball. An Wochenenden fuhr oft die ganze Familie zu den Spielen.

Ein fast unumstößlicher Termin war für meinen Vater der Internationale Frühschoppen mit Werner Höfer, sonntags, 12.00 Uhr in der ARD – sein „Gottesdienst nach dem Gottesdienst“, der regelmäßig mit dem Sonntagsbraten kollidierte. Wie meine Großmutter bis ins hohe Alter, so verfolgte auch er mit großem Interesse Bundestagsdebatten.

Wir hatten einen fürsorglichen Vater. Seine Passion war das Gärtnern. Außer Süßkirschen hatten wir in unserem Garten jedes Obst und Gemüse, was in unseren Breitengraden gedeihen kann. Kartoffeln, groß wie Kinderköpfe, so der Vergleichswert unseres Vaters und davon reichlich. Er kochte, backte, weckte ein. Besorgte Brennholz, brachte uns Kindern das Holzspalten bei und wie man eine Scheitholzmiete baut.
Wie viele seiner Kriegsgeneration hatte er den Hang zur Vorratswirtschaft und sorgte sehr für seine Familie. Manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr.

Während meiner Schulzeit hat sich mein Vater im Elternaktiv engagiert. (Das Elternaktiv war eine Gruppe von Eltern, die Probleme der Schüler besprachen und Veranstaltungen und Klassenfahrten planten.)

Hardy, Bernd und Stefan, meine Klassenkameraden,
und mein Vater als Begleiter der Klassenfahrt

Er war anerkannt bei den Lehrern. Wann immer Elternbesuche bei problematischen Schülern anstanden, das waren meist Kinder aus den umliegenden Dörfern, die in rauem Familienklima aufwuchsen, baten die Klassenlehrer meiner Schwester und mir um seine Begleitung. Mein Vater tat das gern. Er sprach „die Sprache der Bauern“, hatte Talent zu deeskalieren und konnte gut vermitteln. Seine kräftige Statur und 1.85 m Körpergröße taten das Übrige.

Wie jeder Mensch, so hatte auch unser Vater Eigenheiten. Er neigte zum Jähzorn, zu übertriebener Eifersucht und Sturheit, war ein liebe- und verständnisvoller Vater, der alles für seine Töchter tat – vom Chauffieren bis zur Pflege bei Krankheit.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, ich muss 17 gewesen sein: Ich ahnte nicht, dass mein Vater noch im Garten war, als ich mich dort mit meiner „problematischen“ Verabredung für eine Radtour treffen wollte. Ich sah ein Donnerwetter auf mich zukommen. „In Dinge der Liebe mische ich mich nicht ein. Alles Reden bleibt dabei leider sinnlos und kommt gegen dieses Gefühl nicht an,“ sagte mein Vater und verschwand. Ich war verblüfft und froh über seine Reaktion, fühlte mich frei, ernst genommen, erwachsen und mochte ihn umso mehr. Bis heute denke ich gern daran zurück. Die Verabredung ist längst verblasst, seine Worte nicht!

Meine Mutter hat mich dreiundfünfzig Jahre meines Lebens begleitet. Mein Vater wesentlich weniger. Zum Tod meiner Mutter habe ich ein Gedicht geschrieben, ihre Lebensgeschichte bedacht und aufgeschrieben. Und die meines Vaters? Ich merke, wie froh es mich macht, jetzt auch über sein Leben nachgedacht und Erinnerungen aufgeschrieben zu haben, nachdem ich ihn doch einige Jahre bewusst ausgespart hatte.

Passt das nun alles zusammen? – Soldat im 2.Weltkrieg, Katholik und Genosse, Bürgermeister und Mitglied im Vorstand des Kleingartenvereins, an internationaler Politik Interessierter und Musiker, Weitgereister und in der DDR Festgesetzter? Ja, für mich passt das gut, denn es ist der Lebenslauf meines Vaters.

Bei meiner Recherche hat mir Frau Buchwald vom Archiv des Landkreises Märkisch Oderland sehr geholfen.

Bettina Zarneckow

Mitteleuropa

„Der lange Weg nach Westen“ – unter diesem Titel hat Heinrich August Winkler vor einem Vierteljahrhundert eine zweibändige Geschichte Deutschlands veröffentlicht. Er erzählt anschaulich das Auf und Ab der Herausbildung des deutschen Nationalstaats. Er beschreibt die Alternativen zwischen einer klein- oder einer großdeutschen Lösung, die Zerrissenheit Deutschlands im Spannungsfeld von Großmächten in der nördlichen, östlichen und westlichen Nachbarschaft, Schweden, Russland und Frankreich, die konfessionelle Spaltung, ökonomische und bündnis- und parteipolitische Turbulenzen, Nibelungentreue und Großmachtphantasien. Am Ende, so suggeriert der Titel, kommt die deutsche Geschichte zum Ziel. Das Land ist nun eingebunden in den Westen.

Zweifellos kann man die deutsche Geschichte in dieser Meistererzählung schildern. Und ebenso kann man sich über dieses Ziel eines von Verirrungen, Abgründen und Opfern belasteten historischen Weges durchaus freuen. Einerseits. Eine innere Unruhe bleibt. Geschichte verläuft nicht zielgerichtet. Sie folgt auch nicht irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten, höchstens dem Gesetz der Wiederholung. Leider. Wichtiger ist mir aber die Frage, ob Deutschland mit all seinen Prägungen und Erfahrungen den Platz für seine Verantwortung am Ende dieses langen Weges nach Westen dort wirklich gefunden hat.

Beim Nachdenken darüber geht mir ein Buch mit dem Titel „Mitteleuropa“ nicht aus dem Sinn. Ein erstes Mal bin ich darauf aufmerksam gemacht worden von Walter Romberg, später der letzte Finanzminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maiziere. Ich habe mit ihm mehrere Jahre in einer Arbeitsgruppe des Kirchenbundes zusammengearbeitet. In der Umbruchszeit vor und nach 1989 regte er an, über das Programm „Mitteleuropa“ neu nachzudenken, in ganz loser Anbindung an Friedrich Naumanns Buch aus dem Jahr 1915. Die Überlegungen haben sich im Strudel der Ereignisse verlaufen, ich habe den Kontakt zu Romberg schon lange vor seinem Tod verloren. Ich glaube nicht, dass er an der konkreten Füllung des Konzeptes „Mitteleuropa“ im Buch von Naumann besonders interessiert war oder ihr gar zugestimmt hat. Aber die Frage hat ihn umgetrieben: Ist Deutschlands Platz im Westen oder nicht doch besser in Mitteleuropa, wenn es dem gerecht werden will, was von ihm erwartet werden kann?

Über Friedrich Naumann und sein Buch kann man sich sehr gut informieren in einer spannenden Darstellung von Leben und Werk des Politikers und Publizisten aus der Feder von Theodor Heuss. Sie ist 1937 erschienen und, wie der Verfasser schreibt, Erfüllung einer inneren Verpflichtung dem 1919 verstorbenen Freund gegenüber. Nebenbei: das Buch von Heuss ist beeindruckend – sachlich, differenziert, frei von jedem Pathos oder geklitterter Geschichtsdarstellung, wie man sie eigentlich erwarten musste im Erscheinungsjahr. Nach dem Krieg veröffentlichte Heuss eine zweite, nahezu unveränderte Auflage.

Naumann, 1860 als sächsischer Pfarrerssohn geboren, studierte Theologie in Erlangen und Leipzig und fand seinen beruflichen Weg zunächst als Pfarrer im Umkreis der kirchlichen Sozialarbeit, inspiriert von Johann Hinrich Wichern, später vor allem von Adolf Stöcker und dem Evangelisch-Sozialen Kongress. Schrittweise löste er sich vom Pfarramt und wurde zum politischen Publizisten, bald selbst auch zum einflussreichen Sozialpolitiker. Er war Gründer und langjähriger Schriftleiter der „Hilfe“, die später von Theodor Heuss herausgegeben wurde und zu einem Organ des Linksliberalismus der Kaiserzeit wurde. Von Stoecker trennte er sich, nicht zuletzt wegen seiner Ablehnung des Stöckerschen Antisemitismus. Heuss zitiert aus einer Rede Naumanns aus dem Jahr 1903: „Ich habe den antisemitischen Gedanken nicht behalten und mit Bewusstsein nicht behalten, weil ein großes Volk imstande sein muss, auch Elemente fremder Stämme, seien es Juden oder Polen, zu assimilieren und in seine Geschichte hineinzuzwingen.“ So zu lesen wohlgemerkt in einem deutschen Buch aus dem Jahr 1937! Ab 1907 war Naumann mit Unterbrechungen Reichstagsabgeordneter, 1919 Mitglied der Nationalversammlung mit dem Mandat der von ihm mitgegründeten Deutschen Demokratischen Partei. Bereits im August 1919 ist er in Travemünde gestorben.

Ein reichliches Jahr nach Ausbruch des Weltkrieges hat Naumann sein Buch „Mitteleuropa“ veröffentlicht. Es war nach „Kaisertum und Demokratie“ sein zweites bedeutendes und viel gelesenes Buch. Dort, in seinem ersten Buch, hatte er die Möglichkeiten einer demokratischen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung bedacht, wenn sie auf dem Fundament einer stabilen und stabilisierenden Macht ruht, die nicht von Mehrheitsentscheidungen in´s Wanken gebracht werden kann und die für den Ausgleich und die Zähmung auseinanderstrebender Partikularinteressen oder lautstarker Minderheiten zu sorgen in der Lage ist. Für heutige Leser vielleicht fremd, oder doch nachdenkenswert? In einer Gedenkveranstaltung zum Jubiläums des Grundgesetzes sagte neulich ein Redner: Seit seiner Verabschiedung hat das Grundgesetz 237 Änderungen und Ergänzungen erlebt. Es ist nach jeder einzelnen von ihnen eher schlechter geworden.

Aber zurück zu Naumanns Buch. „Mitteleuropa“ erschien noch in der Zeit, als im Reich alle Debatten über Kriegsziele untersagt waren, damit keinem Zweifel am Charakter des Krieges als einem den Deutschen aufgezwungener Verteidigungskrieg gewollt oder ungewollt Vorschub geleistet werden konnte. Dennoch rührten sich bereits Stimmen, die von einem Siegfrieden und von Annexionen im Osten und im Westen und in Übersee sprachen.

Naumann war zwar überzeugt von der militärischen Stärke Deutschlands und der Mittelmächte. Gleichwohl hielt er nichts von den Gedankenspielen der Alldeutschen. Winkler charakterisiert Naumanns Buch sicher nicht ganz unzutreffend als „Bibel des moderaten deutschen Weltkriegsimperialismus.“

Naumann rechnete 1915 mit einem unentschiedenen Ausgang der kriegerischen Handlungen. Aber wie kann eine Nachkriegsordnung aussehen? Eine Aussöhnung mit Frankreich hat er lange für möglich gehalten. Jetzt glaubte er nicht mehr daran, zu intensiv sind dessen Bindungen an England und Russland. Darum setzte er seine Hoffnungen auf einen starken Pfeiler in der Mitte Europas, der in einer Jahrhunderte langen gemeinsamen Geschichte gewachsen ist – errichtet auf dem Erbe des Kampfes zwischen Rom und Byzanz, gereift in konfessionellen Kriegen, gestählt in der Abwehr der Türken, geprägt durch eine reiche Kultur und eine starke Wirtschaft in Industrie und Landwirtschaft. Damit sind die Stichworte genannt, denen Naumann in seiner Erzählung folgt, ein zeitgeschichtlich interessanter, aber oft durchaus auch heute lesenswerter anregender Text!

In weiten historischen Bögen, mitunter in ganz eigenwilligem prophetischem Pathos entfaltete Naumann seine Vision von einem starken Mitteleuropa, gruppiert um die Machtzentren Berlin, Wien und Budapest:

„Wir ahnen in Nord und Süd, dass wir noch weiteren schweren Dingen in der Zukunft entgegengehen, dass die Welt für uns voll dunkler, unheimlicher Gefahren bleibt; wie schützen wir uns da gegenseitig, dass nicht eines Tages aus irgendeinem menschlichen Grunde die Gemeinsamkeit nicht da ist? Der Schutz liegt sicherlich nicht in bloßen Staatsverträgen. Es lässt sich zwischen souveränen Staaten kein Vertrag formulieren, der nicht seine Ritzen und Lücken hätte. Der Schutz liegt in der Vielseitigkeit des staatlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, im freiwilligen und organisierten Überfließen des einen Körpers in den anderen, in der Gemeinschaft der Ideen, der Historie, der Kultur, der Arbeit, der Rechtsbegriffe, der tausend großen und kleinen Dinge. Nur wenn wir diesen Zustand der Wesensgemeinschaft erlangen, sind wir ganz fest verkettet. Aber schon der Wille, ihn zu erreichen, ist unendlich viel wert. Im Sinne dieses Willens verkünden wir Mitteleuropa als Ziel der Entwicklung.“

Ich will eine längere Passage aus Naumanns Buch wiedergeben, um sein Denken in dieser Zeit (1915!) zu vermitteln:

„Wir wollen versuchen, das neue überstaatliche Gebilde der Menschheitsgruppe Mitteleuropa etwas genauer soziologisch zu begreifen. Wir betrachten also die drei relativ fertigsten Großkörper: Großbritannien, Amerika, Russland. Jeder dieser Körper ist an Umfang und Masse gewaltiger, als es Mitteleuropa je werden kann. Im besten Falle kann, soweit heute Menschenaugen sehen, Mitteleuropa der vierte Weltstaat werden. Von den drei ersten, schon aus der vorhergehenden Periode hervorgebrachten Weltstaaten ist der russische am meisten auf Zwang, der amerikanische am meisten auf Freiwilligkeit gegründet; England steht in der Mitte. Darüber, ob Zwangsbildung oder Freiwilligkeitsbildung dauernder und fester ist, lässt sich kein allgemeines Gesetz aufstellen, da beide Prinzipien, sobald sie übertrieben werden, den Staat zersprengen. Jeder übernationale große Staat ist ein Kunstwerk, ein Wagnis, ein täglich sich erneuernder Versuch. Er ist wie eine große Maschinerie, die beständig irgendwo repariert werden muss, damit sie arbeitsfähig bleibt. Und wie jedes Kunstwerk bestimmt wird durch den Künstler und den Stoff, so erwächst der Großstaat aus der führenden Nation und den begleitenden Völkern, aus den Ideen und Sitten der Herrschenden und den Qualitäten der Beherrschten, aus dem Können großer Männer und dem Willen breiter Massen, aus Geschichte, Geographie, Landwirtschaft, Handwerk und Technik. Dieser seelische Charakter des Großstaates darf nie außer acht gelassen werden, wenn man sein Wesen begreifen will. Eine bloß mechanistische Betrachtungsweise nützt gar nichts. Je größer und je gebildeter und anspruchsvoller die zu regierenden Mengen werden, desto mehr Elastizität gehört zu ihrer Leitung, eine Elastizität, die als Erbweisheit von Geschlecht zu Geschlecht übernommen werden muss. Diese richtige Mischung von Einheitszwang und Freiheitsgewährung wirkt als Anziehungskraft gegenüber den mitfolgenden Teilen.“

In der letzten Phase des Weltkrieges bemühte sich Naumann, seine Ideen in die politische Wirklichkeit einfließen zu lassen. Die Verhandlungen um einen Frieden mit Russland in Brest-Litowsk begleitete er engagiert und erlebte etwas ratlos und überrascht das erste Auftreten einer ukrainischen „Rada“ als Völkerrechtssubjekt und den nicht wirklich geglückten Versuch eines Ausgleichs mit polnischen Interessen. Er unternahm kräftezehrende Reisen in das Gebiet der Mittelmächte, im Oktober hielt er mehrere Vorträge bei der Obersten Heeresleitung in Spa. Sie zeugen von Naumanns Ringen um Ideen für eine Nachkriegsordnung in Mitteleuropa, seiner Skepsis gegenüber Präsident Wilsons Völkerbund-Programm, dessen Rationalismus er abwehrt in seiner naturrechtlichen Begrifflichkeit und in dem „durch die Schwierigkeiten der Welt hindurchmoralisierenden Pathos“, wie Theodor Heuss schreibt.

In Aufsätzen und in einer seiner letzten großen Reden vor dem Reichstag machte Naumann deutlich, dass er deutlicher als früher nicht allein die materiellen Interessen, die Nützlichkeitserwägungen als ausschlaggebend für die Entschlüsse der Nationen beurteilt, „sonst wäre es gar nicht zum Kriege gekommen. Es lebt außer dem Nutzen noch vieles andere im Blut und im Gehirn der Völker, tiefe, unterirdische Strömungen, verborgener Hass, angeborene Kriegshaftigkeit, alte Natur, sei sie gut oder böse. Ist der jetzige Wilsonsche Völkerbund wirklich etwas Ewiges, wofür es sich verlohnt Opfer zu bringen wie für ein Reich Gottes auf Erden? Ist er die Vollendung der christlichen Verheißung, dass es einen Hirten und eine Herde geben soll, ist er die Verwirklichung des wunderbaren Traumes der Menschlichkeit, den gerade unsere deutschen Dichter und Denker in ihrer Seele trugen? Oder ist er nur Ausdruck eines gewöhnlichen Aufklärungsoptimismus, der das für wahr hält, was er wünscht, ein Kunstprodukt der theoretischen Vernunft, ein gespensterhaftes Gebäude, in dem die Delegierten der Nationen teils sich vergnügen, teils sich zanken?“

In manchen dieser Überlegungen klingt das an, was Heinrich August Winkler wie bereits erwähnt als moderaten Weltkriegsimperialismus bezeichnet hat. Naumanns Vertrauen auf eine deutsche Führungsrolle ist als solches natürlich überholt, zum Glück. Er selber hat das nachhaltig erlebt und erlitten. Aber dahinter steht vielleicht eine Einsicht, die wir nicht vorschnell abtun sollten, die Überzeugung Naumanns, wie sehr demokratisch organisiertes Zusammenleben etwa in einem mitteleuropäischen Großstaat eines stabilen Machtzentrums bedarf. Der viel zitierte Satz eines deutschen Verfassungsrechtlers, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht schaffen kann (und darf!), findet hier vielleicht seine entscheidende Ergänzung.

Mir liegt jede plakative Polemik oder kurzschlüssige Programmatik im Gefolge Naumanns fern, für oder gegen seine Überlegungen. Dafür gibt es Berufenere. Ich habe auch keine Vorstellung davon, wie lebendig seine Gedanken in der nach ihm benannten Stiftung oder in der FDP sind, die sich in seiner Tradition sieht. Nein, nur das Nachdenken darüber, wie es mit der deutschen Geschichte auf ihrem langen Weg in den Westen weitergehen kann, weitergehen soll und weitergehen wird, es lässt mich nicht los. Und – ich suche Mitdenkende…

Einen wichtigen Baustein im Lebenswerk von Friedrich Naumann habe ich bisher gar nicht erwähnt, obwohl er für sein Bemühen, dem Projekt Mitteleuropa eine Seele zu geben, ganz entscheidend ist. Er gehörte 1907 zu den Mitbegründern des Werkbundes, einer Vereinigung von Künstlern, Architekten, Formgestaltern, Publizisten und Politikern, die für die deutsche Kulturlandschaft entscheidende Impulse gegeben hat, im Bauhaus, in Hellerau und an vielen Orten, in Ateliers und Werkstätten. Ach, das hat mehr Bestand als alle politischen Ideen. Am Ende wäre der Grundsatz „Form folgt der Funktion“ auch hilfreich für eine Gestaltung des Gemeinwesens, nüchtern, nicht ausufernd in den Ländereien von Absurdistan, aber resilient gegenüber allen Welterlösungs- oder Weltuntergangsparolen, die oft so schwer voneinander zu unterscheiden sind. Wie gut ließe es sich dann leben in Mitteleuropa.

Christoph Ehricht

Die NATO schleicht sich in einen Krieg mit Russland – die Deutschen müssen das verhindern.

„Ich bin noch wie im Traum – und doch muss man sich jetzt wohl schämen, es nicht für möglich gehalten und nicht gesehen zu haben, dass die Katastrophe kommen musste. Welche Heimsuchung! Wie wird Europa aussehen, innerlich und äußerlich, wenn sie vorüber ist? …Mein Hauptgefühl ist eine ungeheure Neugier und, ich gestehe es, die tiefste Sympathie für dieses verhasste, schicksals-und rätselvolle Deutschland,“ Thomas an Heinrich Mann, August 1914.

Thomas Mann war damals nicht unbeschwert. Dennoch sah er sich im Einklang mit vielen Kollegen, die im Sommer 1914 begeistert die Kriegserklärung Deutschlands an England, Frankreich und Russland begrüßten. „Muss man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen?“, ebd.

Mir ist es lieber, dass Bundeskanzler Scholz einen Nimbus als  „langweiliger Drückeberger mit Stehvermögen ohne eine bemerkbare Empathie“ aufbaut.

Seine Losung, Russland darf nicht siegen, ist eine Chance auf fruchtbare Verhandlungen der Ukraine mit Russland. Weder Russland noch die Ukraine dürfen siegen, das ist reale Friedenspolitik. Der kühle nüchterne Verstand und nicht Emotionen sind die bessere Option, um Frieden für die Ukrainer und die Russen schaffen zu helfen. Das Entsetzen und die Empörung wegen Butscha und jedes weitere Kriegsverbrechen dürfen nicht zum Wegweiser in den europäischen Krieg werden.

Die Losung des Präsidenten Selenskyj, die Ukraine müsse gegen Russland siegen, führt dagegen in einen europäischen und möglicherweise zudem atomaren Krieg. 

Denn wie soll die Ukraine mit Waffen von den NATO – Staaten und aus der weiten Welt allein die Atommacht Russland besiegen? 

Die Krim zurück zur Ukraine? Dem soll die Atommacht Russland zustimmen? Putin akzeptiert eine Aufrüstung der Ukraine durch Staaten, die der NATO angehören und unter ihrem Schutz stehen? Vielleicht, vielleicht auch nicht, leider plaudert er seine Vorhaben nicht vorher aus. Vielleicht lässt er Transportflugzeuge mit Waffen abschießen. Haben wir dann den europäischen Krieg? Vielleicht nicht, weil Präsident Putin doch bei Verstand ist und an sein Volk denkt. Weil Russland die Einnahmen für Gas und Öl unbedingt braucht. Was aber, wenn ein Embargo für Gas und Öl erfolgt?  Welches „Vielleicht“ ist dann zu bedenken?

Wollen wir den Zerfall Russlands? Wollen wir eine  Russlandpolitik, die an den kalten Krieg der 50er Jahre anknüpft und Russland  isoliert? Gegen Russland lieber nicht, das wussten schon Otto v. Bismarck und sämtliche Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis Frau Dr. Merkel.

Eine Politik mit lauter „Vielleicht“ gleicht einem Irrgarten.

Und die Politiker in Brüssel gleichen Traumtänzern, erpicht auf die Erweiterung der Befugnisse der EU und der NATO sowie ihrer Macht. Ansonsten ohne Plan, wenn ich nur an die fünf Sanktionspakete denke. Russland wird zum Kuba 2, ist das nicht verrückt? Kuba 1 ist noch immer nicht dahin, Iran existiert auch noch und wird militärisch immer stärker, sagen einige Experten. Richtig, den Menschen dort geht es nicht so besonders.

Das bedeutet keinesfalls, Russland seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine nachzusehen. Doch wir müssen auch über die Ursachen des Krieges sprechen, um Lösungswege zu sehen. Warum scheiterte Minsk 2, weshalb kam es nicht zu den zugesagten Änderungen der Verfassung der Ukraine im Hinblick auf den föderalen Status von Donezk und Luhansk? Was haben die Russen versäumt? Was ist zu tun? Wollen wir Russland „verhauen“ oder wollen wir Frieden in Europa?

Der Krieg könne „viele Monate, sogar Jahre“ dauern, NATO  Generalsekretär Jens Stoltenberg lt. FAZ vom 8.4.22. Putin plane, die ganze Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, mit diesem Hintergrund müsse auf lange Sicht die Ausrüstung der Ukraine geplant werden, ebd.

Außenminister der Ukraine Kuleba vorgestern zu den Außenministern der NATO Staaten: “ Sie verschaffen uns die Waffen, die wir brauchen, und wir kämpfen für unsere Sicherheit, aber auch für Ihre Sicherheit“, ebd. Mit Waffen sind auch ballistische Raketen gemeint, geeignet  zur Zerstörung russischer Schiffe und Flugzeuge weltweit?

Die NATO- Staaten sind die NATO, sie brauchen nicht den Schutz der Ukraine. Bei Stoltenberg heißt es pessimistisch, man müsse eine schwierige Beziehung zum Nachbarn „managen“, aber ein „sinnvoller Dialog ist keine Option für Russland“.

Politiker wie Selensky und Stoltenberg bereiten Europa auf den Krieg vor – die USA halten „fest die Wacht“. Die USA mit ihrem Präsidenten Biden haben (vielleicht) nichts gelernt und wollen (vielleicht) nach dem Irak – und Afghanistankrieg den Regierungswechsel in Moskau managen.

Berlin und Paris als die Signatarstaaten von Minsk 1 und 2  müssen  die Kriegsparteien veranlassen, ihre gegenseitigen Forderungen zu benennen und darüber ernsthaft zu verhandeln. Die Wiederholung von Buschta wird nicht durch die Lieferung von Waffen sondern durch Frieden verhindert. Verhandeln ist der sichere Ausgang zum Frieden und verhindert das Spiel einiger Routiniers in Brüssel mit dem Feuer. 

Bevor Deutschland für den Krieg von zwei fremden Staaten nicht nur seine Wirtschaft, sondern auch  Menschenleben gefährdet, muss es entscheiden, ob er durch Sanktionen, Geld und Waffen für die Ukraine weiter gefördert werden darf. Wenn die Russen die Ukraine erobern wollen, rechtfertigt das eine austarierte Unterstützung der Ukraine. Wenn die Ukraine die Krim wieder in Besitz nehmen oder der NATO beitreten will, ist das nicht der Fall.

Ein Alleingang von Deutschland  würde es nicht zwangsweise isolieren. Vielmehr auch der Ukraine „Beine machen“ und den Frieden wahrscheinlicher werden lassen. Ohne Deutschland kann  NATO-Generalsekretär Stoltenberg seine Pläne einpacken.

Herr Scholz wird als Realpolitiker zwar (leider) in keinem Fall ausscheren. Er versucht immerhin auf Zeit zu spielen und wahrt so die Chance für Verhandlungen. Bei denen Frankreich und Deutschland dabei sein müssen, weil es nicht nur um die Ukrainer, sondern auch um die Deutschen und Franzosen, von den Russen nicht zu sprechen, geht. 

Die NATO irrt fürchterlich, wenn sie glaubt, Mitgliedstaaten ihren Schutz zu sagen zu dürfen, wenn sie schwere Waffen wie Panzer, Raketen und vielleicht auch Flugzeuge an die Ukraine liefern. Wenn Russland Transportflugzeuge voller Waffen eines Mitgliedstaates abschießt, kann der Bündnisfall nach den Art. 4, 5 und 6 Abs. 3 NATO-Vertrag eintreten. Besonders wenn der Abschuss angeblich oder tatsächlich den Luftraum eines NATO-Staates betrifft. Und dann sind die Deutschen Kriegsteilnehmer. 

Kalte Krieger wie Stoltenberg riskieren einen atomaren Krieg, wenn sie die Parole eines Sieges der Ukraine über Russland verbreiten und durchsetzen. Wenn sie den USA helfen, unbegrenzt Waffen, vermutlich mit den doch wohl dazu gehörigen Ausbildern – höchst geheim natürlich – Geld und Sanktionen (für alle Zeiten?) liefern und einen Dialog mit Russlands Putin mit der Behauptung, Russland wolle ihn nicht ernsthaft, ablehnen.

Es gibt ein historisches Vorbild für die Ukraine und Russland. Finnland wurde 1939 von der Sowjetunion unter Stalin überfallen, verteidigte sich tapfer und über drei Monate sogar erfolgreich. Es entschied sich für eine Neutralität, den viel besprochenen finnischen Weg, den es nicht mit Hilfe der NATO verlassen sollte. Die Schlussakte von Helsinki vom 1.8.1975 war die Brücke in die Freiheit für Millionen von Menschen.

Das Gute daran, Putin ist nicht Stalin. 

Im übrigen haben Deutschland und die restliche Welt noch ein offenbar nicht so aktuelles Problem, den  weltweiten Klimawandel durch eine drohende Erderwärmung von 3 Grad.

Reinhart Zarneckow