Warum der ehrliche Herr Habeck nicht der Spitzenkandidat der Grünen geworden ist.

In der doch wohl als seriös zu bezeichnenden FAZ vom 25.9.2021 lese ich folgende Episode aus dem Alltag der in die Bundesregierung unaufhaltsam strebenden Grünen.

Im Kreisverband Reutlingen stand das Grünen Mitglied David Allison in einer Vorstandssitzung dieses Jahres auf. Er erklärte ungeachtet seiner Männlichkeit, für einen weiblichen Listenplatz kandidieren zu wollen. Nein, er plane keine Geschlechtsumwandlung. Er lebe in einer lesbischen Beziehung, diese Erläuterung war für seine wohl erstaunte Ehefrau bestimmt.

Tatsächlich heißt es im Parteiprogramm der Grünen laut der FAZ , „von dem Begriff Frauen werden alle erfasst, die sich selbst als Frauen definieren”. Bei Herrn Allison handelt es sich um einen Unterstützer der Frauenbewegung. Er befürchtet offenbar, dass mit der Auflösung des körperlichen Geschlechtes die Berücksichtigung von Frauen laut Geburtsurkunde eingedämmt werden könnte.

Angeblich soll in Bayern ein anderer Grüne namens Markus Gatterer als Tessa sogar einen Listenplatz für die morgige Bundestagswahl erlangt haben. Wobei der Wahlausschuss ihn noch mit dem Vornamen Markus gemäß der Geburtsurkunde registriert haben soll.

Denkbare Strategie: Frauen kandidieren in entsprechender Proportion als Männer und verhindern so die Eindämmung der Frauen bei der Besetzung von Listenplätzen. Die Proportionen werden anhand der Geburtsurkunden bestimmt.

Herr Habeck hatte angenommen, dass Frau Baerbock ihm den Vortritt lassen würde und war dann sehr enttäuscht. Er hätte besser daran getan, eine Erklärung zur Person als Frau abzugeben, um so im Sinne einer den Grünen dienenden Verantwortungsethik Frau Baerbocks maßlosem Ehrgeiz entgegen zu treten.

Reinhart Zarneckow

Kleine Reib’n – große Freiheit

Bettina Zarneckow

Heutzutage sieht man sich einem immer größer werdenden Schilderwald gegenüber. Für jegliche Situation im Straßenverkehr und im sonstigen Dasein scheint ein Gebots-, Verbots-, Hinweis- oder Warnschild zu existieren: Achtung, fehlende Fahrbahnmarkierung, bei Rot hier halten, hier keine Verrichtung von Notdurft erlaubt, Diskretionsabstand halten, Händeschütteln vermeiden, Trocknung von Haustieren in der Mikrowelle verboten …

Sicherlich hat das alles Gründe und ist oftmals Antwort auf menschliches Fehlverhalten. Der Mensch fühlt sich sicher, bedient sich weniger des eigenen Verstandes und Anstandes und hält sich für weniger verantwortlich.

Dann gibt es die Berge und ihre unendliche Freiheit. Sparsam aufgestellte Wegweiser, selten einmal ein Funksignal fürs Navi. Telefonieren und WhatsAppen kaum möglich. Was zählt, ist der gesunde Menschenverstand, eine gute Selbsteinschätzung, eine Wanderkarte und Mitmenschlichkeit. Und … es funktioniert!

Am 21. August machten unsere Tochter Alexandra und ich uns zum zweiten Mal auf den Weg, den Schneibstein im Hagengebirge im Berchtesgadener Land zu erklettern. Im letzten Jahr hatten wir einen spontanen Versuch wegen plötzlich aufziehenden schlechten Wetters abgebrochen. Die Steine auf den steilen Wegen waren glitschig, die Sicht wurde zunehmend schlechter, die Temperatur sank plötzlich und es zog ein eisiger Wind auf.

In diesem Jahr waren wir besser vorbereitet und traten bei sehr schönem Wetter erneut unser Abenteuer an. Mit der Bergbahn fuhren wir zur Bergstation des Jenner (Berg 1874m, gehört zum Göllstock der Berchtesgadener Alpen), stiegen erst einmal wieder einige Höhenmeter ab und begannen am Stahlhaus den steilen Aufstieg. Zweieinhalb Stunden zum Schneibsteingipfel lasen wir auf dem Wegweiser. Außer uns hatten sich noch einige Bergfreunde die Tour vorgenommen. Frühe Starter waren zur Zeit unseres Aufstiegs schon wieder beim Abstieg. Und so war unser Weg begleitet von servus, griaß eich, grüß Gott und pfiat eich. Jeder Gruß ein Gefühl von Zugehörigkeit.

Die Freundlichkeit, Unbeschwertheit, Duldsamkeit und Heiterkeit der meisten Naturfreunde war wohltuend. Wir trafen aber auch ein Pärchen, das sich kräftemäßig verschätzt hatte und zigaretterauchend nach dem kürzesten Weg zurück fragte. Wir stiegen wacker weiter. Bis wir tatsächlich in fast angegebener Zeit den Gipfel des Schneibsteins in 2276 Meter Höhe erreichten. Wieder war es kälter geworden und ein unangenehmer Wind erschwerte uns den Weg, aber wir hatten es geschafft und standen auf einem wunderschönen, großflächigen Berggipfel, auf dem sich ein deutsches und ein österreichisches Gipfelkreuz befanden.

Die Aussicht war atemberaubend. Um uns vor dem Wind zu schützen, lagerten wir gemütlich in einer Erdmulde und stärkten uns für den Abstieg. Fast zahme Alpendohlen bettelten um einen Happen der Brotzeit, längst nicht so unverschämt wie die Möwen an Nord- und Ostsee. Ein Verjagen der Tiere fiel hier niemandem ein. Die Stimmung dort oben mit Menschen, die ihr Ziel oder ein Zwischenziel erreicht hatten, muss man einmal erfahren haben.

Wir beobachteten Familien und Pärchen. Es gab aber auch Menschen, die sich allein auf den Weg gemacht hatten. Warum wohl, warum allein? Ich bin gern mit Alexandra unterwegs. Mit meinem Mann Reinhart ebenso. Aber die Überlegung, einmal ganz allein eine größere Herausforderung anzunehmen, hat ihren Reiz. Und, wie ich neulich mit einem Freund übereinstimmte, die Chance, andere Menschen kennenzulernen, wüchse.

Warum empfinde ich es als so beglückend, in den Bergen zu sein und hinaufzusteigen? Natürlich – Urlaubszeit, die Sorgen des Alltags weit weg. Dann das Leisten körperlicher Anstrengung. Die Seligkeit, ein Ziel erreicht zu haben, allein durch Willen, Muskelkraft, Orientierungsvermögen und Geschick. Und diese unwirklich erscheinende Stille, die, ja ich möchte sagen, belebend wirkt.

Als wir begannen, den ersten steilen Hang unserer Tour zu erklettern, fiel mir auf, dass es keine Begrenzung zum Abgrund gab, kein Stahlseil zum Festhalten, kein Schild ‚Achtung Lebensgefahr‘ oder ‚Betreten verboten, Eltern haften für ihre Kinder‘. Nein. Hier war Eigenverantwortung gefragt, das Bewusstsein, die Folgen aus der selbst getroffenen Entscheidung zu tragen. Das Zutrauen zu sich und in die eigenen Kräfte. Und das tut unglaublich gut.

In einem Interview der SZ mit dem Philosophen und Bergwanderführer Jens Badura, dessen Heimat Berchtesgaden ist, antwortete er auf die Frage ‚was er in den Bergen suche‘: “Starke Räume. Da, wo es steil wird, gibt die Welt einen Widerstand vor, der im Flachland in der Form nicht da ist. Das ermöglicht Erfahrungen, die ich anderswo nicht machen kann, und regt zum Denken an; in der Atmosphäre des Vertikalen funktioniert der Geist anders.“

Erfüllt und dankbar, so etwas Schönes erleben zu können, mussten wir nur noch den Abstieg bewältigen. Nur noch – das war eine Fehleinschätzung. Wir hatten den Weg Richtung Seeleinsee gewählt. Bergseen haben auf uns eine besondere Anziehungskraft, besonders bei 26 Grad Lufttemperatur. Rund um die Windscharte (Berg 2103m) tat sich ein beeindruckender Panoramaweg durch eine steinerne Wüste auf.

An einem guten Aussichtspunkt wartete ein Einheimischer auf Alexandra und mich, den wir wenige Minuten vorher hatten passieren lassen. Er wollte uns unbedingt auf Gämsen aufmerksam machen, die wir allein niemals entdeckt hätten. Das schwere Teleobjektiv hatte ich also doch nicht vergebens mitgetragen. Eine kurze Unterhaltung und mit einem ‚pfia god beinand‘ setzte er seine Wanderung fort. Er war für lange Zeit der Letzte, dem wir begegneten.

Der folgende herrliche Abschnitt führte durch ein Tal. Geräusche vernahmen wir wie durch einen Lautsprecher, gefolgt von einem Echo. So glaubten wir abgehendes Geröll zu hören oder gar das Hörnerknallen von Steinböcken, was nicht unwahrscheinlich gewesen wäre. Es gab auch eine Situation, in der kein Weg weiter führte. Wir fanden uns in einem Gebüsch von Latschenkiefern wieder. Fortsetzung fand unsere Route über einen karstigen Felsvorsprung, dann auf schmalem Pfad durch Latschenfelder.

Wir gelangten zu einem Hang, der uns Kraft und Trittsicherheit abverlangte. Der komplizierteste Teil unserer Tour mit Blick in den Abgrund. Jeder Schritt musste genau überlegt werden. Manchen Abschnitt mussten wir im Sitzen rutschend überwinden.

Hinter jeder Biegung erhofften wir den See. Doch erst nach gut drei Stunden konnten wir Hände und Füße in ihm erfrischen. Unsere Kraftreserven waren fast aufgebraucht. Aber unser Ziel, die Mittelstation der Jenner Bergbahn, lag noch zweieinhalb Stunden entfernt „wennst ihr Madl straff wanderts“, so ein kundiger Bergwanderer. Ein Blick auf die Uhr: kurz vor 16.00 Uhr. Die Bergbahn stellt pünktlich um 18.00 Uhr ihren Betrieb ein. Ein Verpassen würde noch einmal zweieinhalb Stunden Fußmarsch bedeuten, zu dem wir uns kaum mehr imstande sahen. Schnell eine Nachricht per WhatsApp an Reinhart, er solle schon ins Tal fahren. Eigentlich wollten wir uns zu einem gemütlichen Essen an der Mittelstation treffen.

Eilig durchwanderten wir nun den Stiergraben, einen nicht so schönen Teil des Weges. Auf Steine gemalte Flaggen, die uns den ganzen Tag als Wegweiser dienten, waren durch wucherndes Unterholz kaum zu entdecken. Endlich wurde die Priesbergalm angekündigt. Aber die Zeit schmolz unnachgiebig dahin. Vorbei an der Alm, auf der wir uns zu gern bei einer Holunderschorle oder einem kühlen Weißbier ausgeruht hätten, denn unsere Wasserflaschen waren längst leer. Im Laufschritt nahmen wir teilweise steile Abhänge, nur um einige Minuten herauszuholen. Ich ging so manches mal über meine Schmerzgrenze hinaus. Nun noch die Königsbachalm links liegen lassen und den Weg Richtung Beck-Haus einschlagen. Sechs Minuten bevor die Gondeln der Bergbahn still standen, schwebten wir erleichtert, glücklich und mit schmerzenden Gliedern Richtung Jenner-Talstation.

„Na, da bin ich aber sehr froh, dass ihr wieder da seid.“ seufzte Reinhart sichtlich erlöst, als wir uns unserem Auto näherten. Er hatte uns gute acht Stunden zuvor zur Bergstation des Jenner begleitet und war von dort allein abgestiegen. Beim Abendessen hatten wir viel zu erzählen und Bilder anzuschauen. Wir begutachteten schon ein wenig stolz Blessuren in Form von Abschürfungen und Blasen, die wir uns während unserer achtstündigen, sechzehn Kilometer langen Tour, der „kleinen Reib’n“, zugezogen hatten. Alexandra schmiedete bereits Pläne für die nächste Klettertour. „Ohne mich, nie wieder“ entgegnete ich. Wenige Tage später, als Gelenke und Muskeln wieder einwandfrei funktionierten, kam mir die Idee, im nächsten Jahr nochmals den Schneibstein zu besteigen und bei der Gelegenheit gleich den Windschartenkopf mitzunehmen. „Es sind nur hundert zusätzliche Höhenmeter und die Rundumsicht soll unvergleichlich schön sein…“

griaß eich - (es) grüße euch (Gott)
pfiat eich - seid behütet
pfia god beinand - es behüte euch Gott
kleine Reib'n – kleine Runde (Bergtour im BGL)

Wirtschaftskriege

Geschichte und Gegenwart

Nils Ole Oermann, Hans-Jürgen Wolff, Freiburg 2019, 272 S., erschienen im Herder-Verlag

Vor einigen Tagen besuchte mich ein Freund, als ich im Garten saß und das Buch „Wirtschaftskriege“ las. Leider war ich erst vor kurzem von einem der beiden Autoren auf diese Untersuchung aufmerksam gemacht worden, die bereits vor zwei Jahren erschienen ist, aber an Aktualität nichts verloren hat. Mein Freund nahm mir das Buch aus der Hand, blätterte kurz darin und sagte: Hoffentlich sind tatsächlich die Kriege der Zukunft nur noch Wirtschaftskriege. Sie richten nicht so viel Leid und Zerstörung an. Er wäre wohl blass geworden, wenn er auf das Zitat von Donald Trump gestoßen wäre: „Trade wars are good, and easy to win.“ Ich habe allerdings auf die Bemerkung meines Freundes gar nicht reagiert, weil ich das Buch erst einmal zu Ende lesen wollte – und nun den Leserinnen und Lesern von schreibundsprich an einigen meiner Leseerlebnissen Anteil geben möchte.

Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: die Hoffnung meines Freundes ist leider unbegründet. Die Autoren – ein Wirtschaftsethiker und ein Rechtshistoriker – warnen im Ergebnis ihrer Ausführungen vor dem „Großschadensereignis eines voll entbrennenden Wirtschaftskrieges“, das der Westen nur vermeiden könnte, würde er sich „dem umfassenden Wettstreit der Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme stellen – kooperationsbereit und streitbar, selbstbewusst und selbstkritisch, ohne Angst und ohne Träumereien.“ (S. 226). Dabei ist zweierlei nach der Lektüre des Buches sehr klar: „Großschadensereignis“ meint wirklich, was das Wort sagt: Zusammenbruch, Verelendung und fließende Grenzen zwischen Wirtschafts-, Bomben- und Schießkrieg. Nur schonungslose Ehrlichkeit aller Akteure könnte helfen, aber gibt es dafür wirkliche Bereitschaft? Ein Schlüsselwort der Autoren auf den letzten Seiten ihres Buches lautet „Staatskunst“. Mir wurde beim Lesen ganz wehmütig um´s Herz.

Aber nun doch erst einmal zur Gedankenführung und zu einigen wichtigen Erkenntnissen des Buches. „Die Erscheinungsformen von Wirtschaftskriegen sind vielgestaltig und vielschichtig. In ihnen verschlingen sich alle möglichen Faktoren und Wirkungen. Wirtschaftskriege lassen sich darum historisch, ökonomisch, rechtswissenschaftlich, ethisch, ideengeschichtlich und spieltheoretisch beschreiben und analysieren.“ (Einleitung, S. 12) Im Wissen um diese Komplexität wagen die Autoren einen interdisziplinären Ansatz, der bekanntlich immer in der Gefahr steht, zu verallgemeinern, oberflächlich zu erscheinen oder sich zu verstolpern und den unterschiedlichen Erwartungen und Anforderungen nicht gerecht zu werden. Alles in allem sind die Autoren dieser Gefahr nicht erlegen, ihr Buch, für ein breites Lesepublikum geschrieben, liest sich mit Gewinn, ist anschaulich, in seinen Argumentationslinien in der Regel schlüssig und in seinen Empfehlungen angenehm behutsam.

Verdienstvoll sind wiederholte Bemühungen um begriffliche Klärung. Das 1. Kapitel bietet „Definitionen und Geschichte(n)“ zum Wirtschaftskrieg und seiner Verwurzelung in anthropologischen und soziologischen Grundgegebenheiten: „Schon im friedlichen Handel und Wandel steckt harter Wettkampf, ja strukturelle Gewalt: Wer bietet die beste Ware, produziert am günstigsten, macht den meisten Gewinn? Wer schlägt die Konkurrenten aus dem Feld?“ (S. 13 f.) Wohl wahr – möchte man seufzend kommentieren im Gedenken an alle gescheiterten Versuche, ein Wirtschafts- oder Gesellschaftssystem zu entwickeln, das auf die Antriebskräfte eines Wettbewerbs setzt, der ohne Verdrängung auskommen soll.

Zu Recht warnen die Autoren davor, das Wort Wirtschaftskrieg inflationär zu verwenden und auf alle denkbaren Formen wirtschaftlichen Wettkampfes zu beziehen. Zu unterscheiden sei erstens zwischen „bewaffneten Konflikten, die mit primär wirtschaftlichem Ziel geführt werden“ (S. 22), also dem Kampf um Rohstoffquellen und Absatzmärkte, zweitens dem Kampf gegen eine feindliche Kriegswirtschaft (S. 25) und drittens einem „staatlichen Kampf ohne physische Gewaltanwendung gegen die Wirtschafts- und Finanzkraft und / oder Willensfreiheit eines Gegners, mit dem man sich nicht im bewaffneten Konflikt befindet.“ ( S. 28 ). Diese dritte Bedeutung des Wortes wird im folgenden favorisiert: „Von Wirtschaftskrieg sollte nur dort die Rede sein, wo er erstens von einem Staat oder in seinem Auftrag oder mit seiner Billigung oder Duldung geführt wird und zweitens strategische politische Ziele verfolgt, die sich drittens feindselig gegen mindestens einen anderen Staat richten.“ (S. 31)

Zunächst kurz und schlaglichtartig werden für alle drei Formen konkrete Beispiele aus der jüngeren Geschichte angeführt, wobei ehrlich festgestellt wird: „Wenn die Bezeichnung ’Wirtschaftskrieg’ in dem soeben skizzierten, engeren Sinne gebraucht wird, dann passt sie auf viele Konflikte nicht, die politisch oder wirtschaftlich durchaus gravierend sind.“ (S. 34) Ein schönes Beispiel dafür, dass Definitionen meist Konstruktionen sind, die aus didaktischen Gründen hilfreich und unerlässlich sind, der komplexen historischen Wirklichkeit aber in der Regel nicht gerecht werden können.

Diese Einsicht legt sich auch nahe nach der Lektüre der folgenden ausführlicheren Darstellung von Wirtschaftskriegen in der Geschichte am britischen Beispiel (S. 37 – 58). Die Grenzen zwischen wirtschaftlicher und militärischer Gewaltanwendung sind fließend. Immer wieder bestätigt sich zudem: „Krieg ohne Wirtschaft gibt es also nicht.“ (S. 22 ) Wie ein Leitmotiv zieht sich dieser Gedanke durch das ganze Buch, angefangen von der Erinnerung an Goethes Mephisto und seinen „gutgelaunten“ Satz „Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen“ (S.10)

Wenn es nicht bitterer Ernst wäre, könnte man über manche Beispiele nachgerade schmunzeln, etwa über die Erzählung des britischen Krieges gegen Napoleon, der „beiderseits zum großen Teil Wirtschaftskrieg im Sinne eines Kampfes gegen die feindliche Kriegswirtschaft“ war. „Die französische Flotte war 1805 bei Trafalgar entscheidend geschlagen worden. Napoleon hatte sie übrigens gutteils finanziert mit dem Erlös des Verkaufs der französischen Kolonie Louisiana an die USA zwei Jahre zuvor. Den Kaufpreis hatten die USA finanziert durch Kreditaufnahme je zur Hälfte in London und Amsterdam. Die Briten hatten also, über amerikanische ‚Mississippi-Bonds’, den Bau der Flotte mitfinanziert, die sie bei Trafalgar versenkten. Die britischen Anleger hatten einen Zinsgewinn. Die Amerikaner hatten Louisiana. Die Franzosen hatten verloren.“ (S. 50 f.)

Hier und an vielen anderen Stellen bin ich übrigens nachdenklich geworden, ob die Autoren mit ihrem programmatischen „Befund“ gut beraten waren: „Marxistische Theorien über den Kapitalismus als Hauptkriegsursache und über Kapitalisten als die ausschlaggebenden Kriegstreiber verfehlen die Wirklichkeit. Gewiss, Kapitalisten wollen an allem verdienen, auch am Krieg, aber sie zetteln ihn nicht an, schon gar nicht mit historisch-materialistischer Gesetzmäßigkeit.“ (S.19) Sicher, für diese Sicht spricht sehr viel und selbst eingefleischten Verfechtern des „Histomat“ fällt es immer schwerer, die nicht zu domestizierende Gewalt von religiösem oder nationalistischem Fanatismus in ihr Denksystem einzubeziehen, wenn sie nicht finsteren Verschwörungstheorien aufsitzen wollen. Dennoch, auf die analytische oder „diagnostische“ Kompetenz marxistischer Geschichtsdeutung sollte in diesem thematischen Umfeld nicht voreilig verzichtet werden, so schwach auch die „therapeutische“ Kraft des Marxismus sein mag. Aber das ist nur eine Randbemerkung. Wichtiger ist mir die folgende Beobachtung.

Im 3. Kapitel des Buches wird die Entwicklung seit 1989 in den Blick genommen. Sind wir „auf dem Weg in eine neue Weltordnung?“ (S. 140 ff.) Ich habe mich beim Lesen gefreut, dass die Autoren in ihrer Darstellung und Analyse aktueller außen- und sicherheitspolitischer Vorgänge und Prozesse stets auch im Blick haben, wie propagandistische und leider nicht selten auch heuchlerische Motive bei allen Akteuren die Wirklichkeit gefährlich verzerren und sachgerechte Urteilsbildung erschweren. Wie dringend die Lösung dieser Aufgabe ist, wird in den Passagen deutlich, in denen Entwicklungen der Russland-Politik ab 2001 untersucht werden (S. 143 ff.) „Russland und die Volksrepublik China sahen im aktiven westlichen Werben für Freiheit, Demokratie, und erst recht in den westlichen militärischen Interventionen auf teilweise zweifelhafter Rechtsgrundlage, eine bedrohliche Zersetzungsstrategie am Werk. Beide haben ein Narrativ entwickelt, dem zufolge der Westen die Welt destabilisiert und das Völkerrecht mit Füßen tritt.“ (ebda.)

Leider hält sich das Bemühen, auch die Wahrnehmungen der anderen Seite in die Beurteilung der Vorgänge einzubeziehen, nicht durch bei der Erzählung der russischen Ukraine-Politik. Welche Interessen wirklich dazu geführt haben, mit der Ukraine ein EU-Assoziierungsabkommen zu versuchen, das ungewöhnlich breiten Raum militärischen und rüstungspolitischen Vereinbarungen einräumte und darum von einem Präsidenten nicht unterschrieben werden konnte, der die Zukunft seines Landes eher in einer Mittlerrolle zwischen Russland und der EU sah und daraus auch wirtschaftlichen Gewinn und politische Stabilität generieren wollte – diese Frage wird nicht gestellt. Ebenso sollten wir uns im Westen vor Augen halten, dass in der russischen öffentlichen Meinung, sicher verstärkt durch entsprechende Propaganda, die amerikanischen geostrategischen Schachspiele eine Rolle spielten, Russland durch endgültige Abtrennung der Ukraine aus seinem Einflussbereich zu einer „Regionalmacht“ herabzustufen, wie Barack Obama es in scheinbarer Arglosigkeit ausdrückte. Sicher leidet die russische Politik nicht selten an einer gehörigen Portion Paranoia. Aber auch wenn mich Verfolgungswahn quält, heißt das nicht, dass ich nicht wirklich verfolgt werde. Und wie weit das in unseren westlichen Medien verbreitete Bild und die Wirklichkeit gerade im Fall der Ukraine auseinanderklaffen, ist mir bei mehreren Aufenthalten in Kiew und Lemberg sehr deutlich geworden. Ich werde das beklemmende Gefühl nicht los, dass es im aktuellen Fall von Belarus nicht viel anders ist – und in zwanzig Jahren Afghanistan-Krieg nie anders war.

Doch ich schweife ab. Das vorletzte Kapitel (S. 173 – S. 200) im Buch von Oermann und Wolff behandelt die „chinesische Herausforderung“. Hier ist am deutlichsten zu erkennen, dass der Politikwechsel von Barack Obama zu Donald Trump die Folie bildet, auf der die Untersuchungen entstanden sind. Doch die zeitbedingte Aktualität schmälert nicht den Erkenntnisgewinn, der sich aus der Zusammenschau der verschiedenen politischen Motivstränge im Westen und in China ergibt. Auch hier ist das Bemühen zu würdigen, dem westlichen Lesepublikum die Befindlichkeiten der chinesischen Akteure nahe zu bringen (S. 198 – 200), ohne dabei den Bezug zur harten Realität zu verlieren, denn: „Chinas militärischer Fußabdruck wird größer“ (S. 183 f).

Im letzten Kapitel (ab S. 201) werden unter der traditionsreichen Frage „Was tun?“ Empfehlungen für eine perspektivreiche Wirtschafts-, Handels-, Außen- und Sicherheitspolitik gegeben. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Autoren ihre Empfehlungen ergänzen und konkretisieren möchten vor dem Hintergrund des gescheiterten Afghanistan-Abenteuers des Westens. Vielleicht kann mein Nachdenken über dieses lesenswerte Buch eine Anregung sein, in diesem Blog weiter darüber zu diskutieren. Ich würde mich freuen.

Abschließend ist noch zu würdigen, dass in einem ausführlichen Anmerkungsteil viele weiterführende Gedanken geäußert und Literaturhinweise gegeben werden, auf die man ohne die Hilfe der Autoren nicht gestoßen wäre! Bemerkenswert die vielen dort genannten Studien und Analysen zu finanzpolitischen Triebkräften vieler der geschilderten Vorgänge und Prozesse. Auch dafür vielen Dank.

An vielen Stellen finde ich mich mit meinen eigenen Beobachtungen und Sorgen in dem hier vorgestellten Buch wieder. Ich verstehe es als Mahnung und Warnung, die Stärke demokratischer Ordnungen des Zusammenlebens nicht zu verspielen. Die Gefahr wächst. „Die Völker wollen weder unter einer Universalmonarchie leben noch in der Gesellschaft von Löwen, die für sich den Hauptanteil von allen Gütern verlangen. Das Problem von Gleichgewicht oder Hegemonie bleibt bestehen; aber es ist eingehegt worden durch die Ordnung, die nach 1945 maßgeblich der Westen geschaffen hat. Sie ist hier und da deutlich und dringend reformbedürftig, aber sie bietet allen mehr Raum zur friedlichen Entfaltung als jede andere denkbare Ordnung.“ (S. 226)

Christoph Ehricht