Inschriften und Ostmoderne

Mein Binzer Hochzeitstag

Bettina Zarneckow

Es mag vier oder fünf Jahre her sein, dass ich eine Dame offenbar spätmittleren Alters sah. Sie ritzte etwas mit einem Stein in die Rinde eines umgestürtzten Baumes, dessen Wurzeln ihn bis heute im Hochufer festhalten.

Was oder wen verewigt sie dort, fragte ich mich. Nur ein Datum? Ihre Initialen und die ihres vielleicht verstorbenen Mannes? Oder möchte sie ihren Mann beim nächsten Spaziergang damit überraschen?
Vielleicht wollte sie aber auch einer Liebe, die sie nicht leben konnte, einen Ort geben, um ihr dort fortan nahe sein zu können, einen Zufluchtsort für ihre sehnsuchtsvollen Gedanken zu haben. Egal aus welchem Grund. Ich war gerührt. Die scharfen, schmalen Einschnitte in die Rinde hat die Lebenskraft des Baumes mit den Jahren in robuste Verschorfungen verwandelt, gerüstet für die Ewigkeit.

Jedes Mal, wenn Reinhart und ich in Binz Urlaub machen, führt mich mein Weg an diese Stelle.

Reinharts Geburtstag und der Besuch bei Freunden sind Anlass, dass wir beide gerade wieder hier eine Auszeit nehmen.
Kein mich bedrohender Briefkasten, keine Pflichten, welcher Art auch immer.
Die liebsten Unternehmungen sind mir meine Spaziergänge. Allein mit meinen Gedanken, meinen Sinnen und einer Kamera, um jederzeit einen besonderen Moment meiner Wirklichkeit festhalten zu können.
So brach ich auf und blieb an Bäumen stehen, die mit Inschriften übersät waren.
Lauter Zeugnisse und Beweise der Liebe, Sehnsuchtssymbole.

Gesehen hatte ich sie schon in den letzten Jahren, aber bewusst wahrgenommen und bedacht erst diesmal.
Ist die Eintragung wirklich aus dem Jahr 1949? Sind S.+H. inzwischen geschieden? Haben M.+M. nun zwei Kinder? Sind B.+J. verheiratet oder ist ihre Beziehung vorher zerbrochen?
Ich glaube daran, dass die Inschriften in glücklichen Momenten entstanden sind.

Der  Philosoph Hans Blumenberg erklärt: „Das, was wir gern die menschliche Glücksfähigkeit und das Bewusstsein des Glücks nennen, beruht weitgehend auf den möglichen Abschirmungen gegenüber der Realität.“
Symbole und Inschriften hinterlassen zu wollen, bedeutet glücklich zu sein, lieben zu können. Auch die Wehmut, eines Tages allein vor dieser Inschrift zu stehen, bedeutet Glück. Glücklich zu sein, sich erinnern zu können, einmal glücklich gewesen zu sein.
Wehmut – ein Komplement?

Nirgends habe ich bisher so viele Symbole der Liebe gesehen wie hier an der Ostseeküste.
Selbst ein Rettungsturm, der 1981 gebaute
Müther-Turm, wurde 2006 zu einer Aussenstelle des Binzer Standesamtes umgewidmet.

Müther-Turm  https://binzer-bucht.de/entdecken-erleben/ulrich-muether/

Vielleicht empfinden auch viele dasselbe wie ich. Ein Gefühl, das mein Gedicht „Novemberliebe“ am Strand von Binz entstehen ließ. Ach ja, auch das Gedicht „Stille Seele“ ist im Sommer 2023 hier entstanden.

Einige Inschriften mögen ihre Urheber längst überlebt haben. Hinterlassen in unsterblicher Verliebtheit, voller Hoffnung auf ein Wiedersehen oder in Erinnerung.
Vielleicht kommt ein Ehepartner um zu trauern, oder um an vergangene glückliche Tage zurückzudenken. Andere pilgern Jahr für Jahr zu IHREM Ort.
Wer glaubt, ein solches Verewigen gehört der Vergangenheit an, der irrt sich. Offenbar bleibt das Bedürfnis nach Symbolen ein ewiges, unabhängig vom Lebensalter.

Seebrücke Binz

Noch einmal zu Blumenberg: Anders als in Platos Höhlengleichnis sieht er die Höhle nicht als Falle an, in der man gefangen ist, sondern als einen Zufluchtsort. Um die Realität „draußen“ besser ertragen zu können, sich ihr durch zeitweiligen Rückzug listig zu nähern.

Reinhart und ich sind noch bis Sonntag in unserer Höhle, abgeschirmt von der Realität. Diesmal in der Höhle der Ferien und der Liebe, denn am 15. März ist obendrein unser Hochzeitstag. Ob wir hier eine Inschrift hinterlassen? Habe ich schon jemals Buchstaben in die Rinde eines Baumes geritzt?

Görlitz und die besondere Kraft von Sinnbildern

Bettina Zarneckow

Ein offener Brief

Lieber Christoph,

nach unserem Konzertbesuch in Görlitz und der unerwartet eindrücklichen Stadtführung am nächsten Tag durch Frau Kempgen, ja den drei wunderschönen Tagen mit Ingelore und Dir, möchte ich zurückblicken.

Als ich die letzten Schritte mit Frau Kempgen allein zum Auto ging, wollte ich ihr unbedingt sagen, was mich am meisten an diesem Tag beeindruckt, was sie uns so lebendig und anschaulich nahegebracht hat. Es waren die Symbole, die uns so zahlreich begegneten. Nicht so sehr wegen der schönen Darstellung, nein gerade wegen ihrer tiefsinnigen, zu Herzen gehenden Bedeutung. Das Sinnliche und Unsinnliche offenbarte sich gleichzeitig.

Allen voran natürlich das Heilige Grab. Eine verkleinerte Kopie des Jerusalemer Originals, das in seiner Gesamtheit die Passionsgeschichte darstellt. Vom Garten Gethsemane, über die Grabkapelle bis zum Ölberg. Alles selbst Symbole und mit Symbolen versehen, deren Bedeutung wir durch den unfassbaren Wissensschatz von Frau Kempgen erfahren konnten. https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliges_Grab_(G%C3%B6rlitz)

Grabkapelle – Heiliges Grab
Adamskapelle – Heiliges Grab
Nikolaifriedhof Görlitz

Symbole – fast jedes erdenkliche Objekt kann zu einem werden, insofern es über sich hinaus auf etwas anderes verweist. Kaum ein Lebensbereich, in dem Symbole keine Rolle spielen. Ein Kennen, Erkennen und Einordnen von Symbolen schärft den Blick für die Gegenwart und ist wichtig für das Verständnis vergangener Wirklichkeit.

Selbst der Straßenverkehr wird mit ihrer Hilfe geregelt, Hierarchien werden so geordnet, oder weltanschauliche Überzeugungen zum Ausdruck gebracht.

Einige Beispiele: Das Kreuz als Symbol der Christen,

Kneifelspitze Berchtesgadener Alpen

der Regenbogen mit seinen Farben als Symbol für den Bund Gottes mit den Menschen, der Paradiesapfel als Reiz des Verbotenen, das Herz als Zeichen der Liebe, zwei Ringe als Zeichen, dass zwei Menschen zusammengehören, eine weiße Taube als Friedenssymbol, die Krone vor allem als Symbol für Macht, der Union Jack des Vereinigten Königreichs Großbritannien, Bulle und Bär als Zeichen der Börse und ein rotes „A“ mit Arzneikelch und Schlange – Symbol der Apotheken.

Sicher kann jeder auf Anhieb ein für ihn wichtiges Symbol nennen. Ich denke an das heute überlebenswichtige Symbol für Wireless Local Area Network, kurz WLAN, das eine drahtlose Verbindung zum Internet herstellt.

Statuen sind Symbole unserer Geschichte, die wir nicht durch ihre Beseitigung verdrängen dürfen.

Und Worte? Worte können auch Symbole sein und machen einen lyrischen Text zu dem, was er ist, besser noch, was er für jemanden sein kann. Kleist formulierte einst an Goethe: „…auf den Knien meines Herzens…“ Hölderlins Hyperion ist durchzogen von hinreißender romantischer Symbolik: „Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal ihr entgegenstände.“

Für Dich als Theologen ist es nicht wie für mich eine Entdeckung, dass der Begriff Symbol aus dem Griechischen kommt und von dem Wort „symbolon“ stammt, was übersetzt das Zusammengefügte oder das Sinnbild bedeutet. Im alten Griechenland galt in der ursprünglichen Bedeutung eine Erinnerungsscherbe als Symbol. Sie war ein Erkennungszeichen, der Pass der Antike. Verließ ein Gast das Haus, so wurde eine Scherbe zerbrochen und er bekam eine Hälfte mit. Die andere behielt der Gastgeber. Kam ein Nachkomme des Gastes Jahre später wieder, so wurden die beiden passenden Teile zur Wiedererkennung zu einem Ganzen zusammengefügt.

Die Verbindung zu Platons Gastmahl mit der Geschichte über die Kugelmenschen liegt nahe. Ich habe sie hier im Blog schon einmal erwähnt. Zeus hatte die Kugelmenschen wegen ihres Übermutes geteilt. Fortan suchten sie nach ihrer passenden Hälfte, strebten also wieder nach Vollständigkeit. In seinem Buch ‚Die Aktualität des Schönen‘ schreibt Hans-Georg Gadamer zum Gastmahl: „Das ist das Symbol – der Mensch, dass jeder Mensch gleichsam ein Bruchstück ist; und das ist die Liebe, dass sich die Erwartung, etwas sei das zum Heilen ergänzende Bruchstück, in der Begegnung erfüllt.“ Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung und erklärt so begreiflich die Sehnsucht? Das Symbolische meint also, dass sich Einzelnes und Besonderes im Leben als Bruchstück des Seins darstellt. Dieses verheißt Ergänzung und Heilung zur Vollständigkeit eines ihm Entsprechenden. Gadamer: „Es ist das immer gesuchte Bruchstück zum Lebensfragment.“

Hans-Georg Gadamer (1900-2002) – Bildschirmfoto BR alpha

Gadamer spannt den Bogen des Symbolischen weiter zur Kunst und dem, was uns in ihr begegnet. „Nicht das Besondere begegnet uns, sondern der universelle Zusammenhang aller Dinge und wird zur Erfahrung. Die Stellung des Menschen in der Welt, seine Endlichkeit gegenüber der Transzendenz.“

Im Betrachten eines Kunstwerkes also, im Hören eines Musikstückes, beim Lesen eines Gedichtes, im Erkennen eines Symbols erfahren wir Bruchstücke, die helfen können, uns vollkommener zu fühlen? Hat das unser gemeinsamer Freund Augustin, den Du einmal so nanntest, vielleicht gemeint als er sagte: ‚Ein Kunstgenuss ordnet die Seele‘?

Augustin

Und in der Tat kann es einem so gehen. Wenn ich Musik in einem Konzert gehört, eine Bilderausstellung angesehen oder die künstlerischen Arbeiten und Skulpturen in einer Kirche betrachtet habe, in denen ich erkennen konnte, verspüre ich immer wieder ein besonderes Gefühl und beginne, mir so manche Frage zu stellen.

Albrecht Wuitz (1950-2023)

Aber zurück zu unserem Besuch in Görlitz. In der Pfarrkirche St. Peter und Paul erklärte uns Frau Kempgen ein Symbol des Glaubens, das mich sehr angerührt hat. Es hat mich erst dazu gebracht, über Symbole im Allgemeinen nachzudenken. An der Umgrenzung eines Taufbeckens befindet sich eine Knospe, die kunstvoll aus Metall gearbeitet als Teil einer Rankepflanze wuchs. Am Altar sahen wir wieder die gleiche Ranke, die Knospe war zur Blüte aufgegangen: Vor dem Altar stehen Täuflinge nun zur Konfirmation.

Ich weiß nicht wie es Dir geht, aber ich mag sehr gern Dinge als Erinnerungsstücke. Ein Symbol, dessen Anschauung und Berührung mir ein inniges Gefühl vermitteln. Ein Erkennen und Vergegenwärtigen dessen, was mir in diesem Moment fehlt. Das erste Geschenk, das ich von Reinhart bekam, war ein Miniaturhase aus Ton, den ich oft bei mir trug. Von mir bekam er einen Briefbeschwerer in Form eines Herzens, der heute noch auf seinem Schreibtisch im Büro liegt. Einem Freund schnitzte ich einst eine Holzkugel, die in seine Hand passte. Ein Erinnerungsstück von mir als Halt in weniger schönen Stunden. Für mich strömen Symbole eine besondere Kraft aus und seit dem ich mich mit ihnen beschäftigt habe, weiß ich ein wenig mehr warum.

„Ein Symbol ist Bedeutung und Anschauung zugleich. Bedeutung erhält es durch seine Einsetzung oder Stiftung. Es vertritt etwas, was nicht anwesend ist und macht es gegenwärtig.“ H.- G. Gadamer

Bitte grüß Ingelore und sei auch Du herzlich gegrüßt von Bettina