Ein Philosoph und die Poesie

Bettina Zarneckow

Lieber Christoph,

nachdem ich den Roman „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier gelesen habe, möchte ich gern einige Gedanken festhalten. Deine Mail mit dem Nachruf für den Philosophen und Romancier Peter Bieri, alias Pascal Mercier, klang betroffen. Der Artikel der Philosophin Eva Weber-Guskar, ehemalige Studentin von ihm, im Philosophie Magazin, berührte mich überdies. Wir hatten uns vor einigen Wochen über das Buch „Die karminrote Schildlaus“ und dessen Übersetzung aus dem Russischen unterhalten. Jetzt weiß ich, in unserem Gespräch schwangen Deine Gedanken zu „Das Gewicht der Worte“ mit. Du hast mir Merciers Roman jedenfalls damals empfohlen und nun zeitgleich mit mir zum zweiten mal gelesen.

Woran liegt es wohl, dass wir versucht waren, uns das Lesen einzuteilen, um länger etwas davon zu haben? Natürlich am Inhalt des Buches, dem Schicksal Simon Leylands, einem Übersetzer, dessen Traum es von Kindheit an war, alle Sprachen rund um das Mittelmeer zu können. Durch einen ärztlichen Irrtum wird er aus der Bahn geworfen. Daraufhin betrachtet er sein Leben und ordnet es völlig neu. Es liegt ferner daran, dass wir miterleben können, wie er Entscheidungen trifft, großzügig und vollkommen frei. Wie er bestehende Beziehungen sieht und neue knüpft und welchen Einfluss seine Lebensprüfung auf die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung hat.

Vor allem aber liegt es an der Sprache – den Worten und ihrem Gewicht!

Die in den Text eingebundenen Briefe gefallen mir sehr: „Ich habe immer so gern geschrieben, Zeichen für Zeichen, in welchem Alphabet auch immer. Sprachliche Zeichen: das Mysterium des Geistes. Ich umarme Dich. Wir Leylands sind ja spröde Menschen, die jemanden brauchen, der sie zur Zärtlichkeit erweckt. Wir blühen auf, verschließen uns wieder und dann ist es, als sei nichts gewesen.“ (Warren Shawn, Simons Onkel, Das Gewicht der Worte)

Und dann natürlich die Briefe an seine Frau, die er eines nachts „erloschen“ auf dem Sofa fand.

Das Buch ist für mich voller Poesie.

Aber was ist das eigentlich – Poesie? Wikipedia sagt dazu: Mit dem, was man Poesie oder poetisch nennt, meint man in der Regel, dass „vom Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, etwas Stilles.“

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein stellte fest:

„Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Gut, dass es die Künste gibt, findest Du nicht auch, Christoph? Alles Unsagbare, das Wesentliche in der Welt und jenseits unserer Welt, findet so seine Ausdrucksmöglichkeit, seinen Platz.

Die Kunst ist entstanden, weil die Menschen in den Dingen der Natur das Durchscheinen und Aufscheinen einer größeren Wirklichkeit gespürt haben.“ Joseph Ratzinger

Im Schweigen, wenn wir ein Kunstwerk betrachten, ein Gedicht lesen oder ein Musikstück hören, schwingt das mit, worüber wir nicht sprechen können. Es ist das Innewerden in der Natur, im menschlichen Sein – es sind die Empfindungen des Malers, des Komponisten, des Bildhauers oder des Schriftstellers und Dichters, die er in sein Kunstwerk übersetzt hat. In eine andere Ebene, eine andere Dimension, in der wir die Freiheit haben, seinem Empfinden nachzuspüren und unsere eigenen Empfindungen zu entdecken.

Vielleicht gehört es zum Genuss des Lesens, dass der Leser den Reichtum seiner eigenen Gedanken entdeckt.“ Max Frisch

Etwas Poetisches, auch wenn es nur etwas Kleines ist, ein winziges Detail, gibt dem Leben im Moment der Betrachtung eine Tiefe, die es sonst nicht hat. Das Leben wird dabei im Ganzen Thema, ohne dass wir im geringsten darüber reden müssten. Deshalb fühlen wir uns von der Poesie nicht irgendwie berührt, sondern sind in der Erfahrung wie aufgehoben, mehr bei uns selbst als sonst. Und wir spüren es im Moment der Wahrnehmung: Wir sind plötzlich anders in der Welt.“ (Livia, Simons Frau, Das Gewicht der Worte)

Der Poesie sind Möglichkeiten gegeben, die ein Aussprechen nicht haben kann. Sie entzieht sich vollkommen der rationalen Argumentation. Man spricht nicht, man ist ergriffen, man empfindet. So habe ich es an vielen Stellen des Buches erfahren und ich vermute, Dir ging es nicht anders.

Schade, dass wir nun kein neues Werk von Pascal Mercier mehr lesen werden. Uns bleiben noch vier seiner fünf geschriebenen. Sein größter Erfolg „Nachtzug nach Lissabon“ wurde 2013 verfilmt.

Triest und die Mole, auf der Leyland immer spazieren gegangen ist, würden wir uns beide gerne ansehen, hatten wir festgestellt. Vielleicht die Beine ins Wasser baumeln lassen. Das Verlagshaus hätte mich ebenfalls interessiert, Dich nicht auch? Und dann natürlich Pat Kilroy in seiner Trattoria. Ich bin mir sicher, es käme zu einem ausgiebigen Gespräch zwischen ihm und Dir. Das würde ein langer Abend. Ich hatte mir viele Stellen im Buch gekennzeichnet. Was ich damit wollte, darüber musste ich noch nachdenken. Nun ist dieser Brief an Dich daraus entstanden. Ich bin sehr froh, dass Du mich auf den Roman aufmerksam gemacht hast.

„ Am Ende kommt es nur auf eines an: Poesie. Sie ist das Einzige, was der Größe des Lebens zu entsprechen vermag.“ Simon Leyland, Das Gewicht der Worte

Auf bald, good bye, arrivederci, до свидания

liebe Grüße sendet Dir Bettina

https://www.philomag.de/artikel/zum-tod-des-philosophen-peter-bieri

In eigener Sache

Christoph Ehricht

Liebe Bettina

Unser Gespräch im Urlaub über „Schreib und sprich“ beschäftigt mich noch. Ich weiß gar nicht, ob ich Dir erzählt habe, wie ich vor einigen Monaten meine Klavierlehrerin als neue Leserin oder besser noch als Autorin für diesen Blog gewinnen wollte. Unsere Zeit ist doch so spannungsvoll und die Herausforderungen sind so groß, dass man doch nicht tatenlos zusehen kann – mit diesen von Dir und Reinhart gebrauchten Argumenten bei meiner “Anwerbung“ wollte ich sie locken und mein Anliegen begründen. Sie hörte mir eine Weile geduldig zu und sagte dann: Vielleicht hast du ja Recht. Aber mir gefällt euer Titel nicht. Statt „Schreib und sprich“ solltet ihr lieber als Programm wählen „Höre und schweige“. Lass uns lieber Klavierspielen. Ich habe mit Verständnis reagiert, aber mit der Einschränkung geantwortet, dass eine solche Überschrift ja eigentlich nur leere Seiten und ungesagte Worte erlauben würde. Dann haben wir uns wieder Mendelssohns Liedern ohne Worte zugewendet.

Wir sind in der Folgezeit nicht auf dieses Thema zurückgekommen, aber der kritische Einwand geht mir nach. Wird zu viel geschrieben und gesprochen? Manche der aktuellen Nachrichten und Ereignisse rufen mir in der Tat das lateinische Sprichwort in Erinnerung „Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben.“ Unsere frischgebackene Kanzlerkandidatin wäre wohl besser beraten gewesen, wenn sie auf den peinlichen Versuch verzichtet hätte, sich als Schriftstellerin zu profilieren. Oder: Skandalös an der Doktorarbeit unserer früheren Familienministerin sind eigentlich gar nicht so sehr die Plagiate, sondern ist das Thema.

Die Dissertation verspricht von vornherein einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, der bei annähernd Null liegt und schon aus diesem Grund kein Ruhmesblatt für die zuständige Universität darstellt, von allen folgenden „Enthüllungen“ einmal ganz abgesehen. Und schließlich: Wenn der beginnende Wahlkampf dazu führt, dass statt Lösung von Sachproblemen und Aufarbeitung von Fehlern nur billige parteipolitische Polemik die Verlautbarungen der Politiker und die Berichterstattung in den Medien bestimmt, dann kann ich wirklich allen Akteuren nur zurufen: Wenn du doch geschwiegen hättest!

Natürlich muss ich mir auch selber diesen Satz zurufen und begründen, warum ich mich nicht auf das Hören und Schweigen beschränke. Die eben skizzierten aktuellen Veranlassungen und Beispiele weisen auf ein tiefer liegendes Problem unserer politischen Kulturlandschaft hin. Unsere Sprache, die geschriebenen und gesprochenen Wörter verlieren immer mehr den Bezug zur erfahrenen Lebenswirklichkeit vieler Glieder der Gesellschaft. Sie sind geleitet von leider in der Regel unausgesprochenen Interessen, einem belehrenden Impetus oder von moralischen Überzeugungen. Das erschwert zunehmend die echte, ehrliche und vertrauensvolle Kommunikation, von der eine Gesellschaft lebt. So werden nur Misstrauen und Verdruss geweckt, Polarisierungen wuchern, die niemand will. Manches Mal werde ich an die letzten Jahre der DDR erinnert. Dazu will ich eigentlich nicht schweigen.

Noch ein paar Beispiele zur Veranschaulichung realitätsferner Sprache. In völliger Verkennung und Verzeichnung der Realität wurde die deutsche Fußballnationalmannschaft in den Kreis der Titelanwärter der Europameisterschaft hineingeredet, Katzenjammer und Häme waren dann nach dem frühen Ausscheiden um so größer. Waren kommerzielle Interessen dafür ausschlaggebend? Sorge um Einschaltquoten? Oder der gleiche Realitätsverlust und die gleiche Selbstüberschätzung, die wir aus der maroden DDR kennen, die sich stolz zu den zehn führenden Industrienationen der Welt zählte und die heute zum Ausdruck kommen, wenn Deutschland Spitzenreiter bei der Gewinnung erneuerbarer Energie oder Fahrradland Nr.1 werden will? Oder Retter der Menschenrechte in Belarus? ( Hier wird es wohl gefährlich. Noch dazu, wenn unser Außenminister lauthals erklärt, dass der deutsche Steuerzahler viele Millionen Euro bereitstellt, um die Opposition in Belarus zu unterstützen oder, wie er es vornehmer ausdrückt, um die Zivilgesellschaft dort zu stärken. Wenn du doch geschwiegen hättest… Oder kündigt sich hier an, welche Lehren aus den gescheiterten Versuchen gezogen werden, Regimewechsel und Staatsneubildung mit militärischen Mitteln zu erreichen? Ein Typ wie der Machthaber in Minsk kann das je eigentlich nur als Kriegserklärung an sein politisches System verstehen. Da lobe ich mir doch eine Diplomatie in Bismarckschem Geist… )

Noch ein letztes, scheinbar weniger brenzliges Beispiel:

Mit zweifellos edlen Absichten wird an einer geschlechtergerechten Sprache gebastelt. Wer sich aus Gründen des guten Geschmacks oder in gesundem Menschenverstand dem damit einhergehenden moralischen Druck entzieht, muss damit rechnen, „gecancelt“ zu werden.

Den Ostdeutschen, denen vierzig Jahre Sozialisierung im „american way of life“ fehlen und deren Sehnsucht nach traditionellen Werten darum vielleicht noch ungebrochener ist – so vergeblich sie immer sein mag -, wird mit der Keule unverbesserlicher Demokratiefeindlichkeit gedroht. Dabei wollen sie eigentlich nur nicht ständig belehrt und erzogen, nicht zum Leben in neuen Potemkinschen Dörfern genötigt und neuem Gesinnungsdruck ausgesetzt werden.

Genug, auch wenn mir noch eine ganze Menge einfallen würde. Gelegentlich wird mir vorgehalten, dass solche Gedanken doch recht kulturpessimistisch sind. Das mag so sein und der Einwand kann mein Urteil etwas relativieren und milder ausfallen lassen. Und natürlich überwiegt in meinem Lebensgefühl eine unendlich große Dankbarkeit für die vielen Möglichkeiten und Chancen, die sich nach der Wiedervereinigung für mich eröffnet haben. Ohne jede Frage. Meine Sorgen werden dadurch nicht geringer. Sie wachsen eher, wenn ich von Freunden höre: Ich traue mich gar nicht mehr zu sagen, was ich denke, weil ich keine Lust habe, mich niedermachen zu lassen. Sie wachsen noch mehr, wenn Andere mir dann sagen: Dann sollen deine Freunde mal ihr Denken kritisch überprüfen. „Puh“ würde sich schüttelnd meine Enkelin sagen.

Nein, natürlich muss geschrieben und gesprochen werden. Aber eine starke Sympathie für die Position meiner Klavierlehrerin kann ich nicht verleugnen. Wie so oft gilt allerdings, dass wir uns nicht in die Sackgassen falscher Alternativen hineindrängen lassen dürfen, sondern komplementär denken sollen. Gewiss muss am Anfang stehen: Höre und schweige. Dann aber darf auch geschrieben und gesprochen werden.

Ich denke übrigens, dass für meine Klavierlehrerin ganz wichtig eine Erkenntnis ist, die Felix Mendelssohn-Bartholdy zugeschrieben wird. Der wurde einmal gefragt, warum er Lieder ohne Worte geschrieben hatte und warum sich Musik so schlecht mit Worten beschreiben lässt. Und er antwortete mit dem entscheidenden Argument für’s Hören und Schweigen: Musik ist präziser als Sprache.

Ja, liebe Bettina, dennoch oder um so mehr will ich Dir noch mal sozusagen „in eigener Sache“ für diesen Blog „Schreib und sprich“ danken und für die Einladung an mich. Seine Besonderheit besteht ja darin, dass er so unterschiedlichen und vielgestaltigen Genres der Sprachwelt Raum und Zeit gibt, zarter Poesie, erzählter Geschichte, aktuellen Kommentaren, historischer Darstellung und politischer Analyse.

Wenn im Forum noch mehr Gespräch und lebendige Diskussion dazu kämen, wäre das nicht nur im Sinne der Erfinder, sondern ein kleiner Baustein für die unter uns so dringend nötige Kommunikation. Ich weiß, dass das ein großer Wunsch von Dir ist! Ob mein Brief an Dich eine Anregung dafür ist?

Ich selber werde vielleicht künftig mehr hören und schweigen, dreimal überlegen, dann aber auch wieder schreiben und sprechen!

Liebe Grüße

Christoph