Warte, warte nur ein Weilchen…

Gestern früh habe ich mir durch ein YouTube-Video die Anleitung geholt, auf einem Bein mit Krücken Treppen hinaufzusteigen. Hinunter hatte es schon gut geklappt, aber aufwärts nur auf allen Vieren. Ein wenig Mut und Geschick und siehe da, ich war oben. Großartig! Nun heißt es üben, denn die Krücken, oder wie ich in der Klinik gelernt habe, die Unterarmstützen, werden mich wohl mindestens bis zum Weihnachtsfest begleiten.

Ein Missgeschick bei einem Herbstspaziergang in einem wunderschönen, gerade von Sonne durchfluteten Tal in Mallnow sorgte dafür, dass ich das Dasein nun aus anderer Perspektive betrachten muss. Auf unsere Tochter gestützt, humpelte ich anschließend etwa einen Kilometer zum Auto und hoffte während dessen inständig, sogleich aus einem Traum zu erwachen oder die Zeit zurückdrehen zu können, um den Sturz ungeschehen zu machen, der sich als folgenreich herausstellen sollte.

Er bescherte mir am nächsten Tag viereinhalb Stunden Wartezeit beim Orthopäden, zu dem ich, genau wie andere Versehrte, unter großen Schwierigkeiten zwei Etagen aufsteigen musste. Der Fahrstuhl sei seit Monaten kaputt, so eine Sprechstundenhilfe, aber der Hausbesitzer schere sich nicht um die Mängelanzeige.
Bei dem herrschenden Ärztemangel scheint es aber kaum eine Hürde zu geben, die nicht überwunden wird.
Auf dem Röntgenbild zeigte mir der Arzt die Fraktur meines linken Außenknöchels, die unbedingt und so schnell wie möglich operiert werden müsse.

Nach weiteren vier Stunden Voruntersuchung, Gesprächen und elf von mir unterschriebenen Patientenaufklärungsformularen am Dienstag im Klinikum Frankfurt (Oder), bin ich wohl am kommenden Montag die Zweite auf dem OP-Plan, wenn nichts dazwischen kommt.

Zurück zu meinem Alltag, jetzt und nachdem Platte und Schrauben in meinem Bein für Stabilität sorgen werden: Alles, wozu ich in der Lage bin, dauert länger. Autofahren fällt erst einmal aus. Genauso wie Laufsport und Zumba und das mindestens für ein halbes Jahr. Ins Büro werde ich natürlich wieder sobald als möglich gehen.

Ob ich die Hausarbeiten, die ich an Reinhart und unsere Tochter abgeben musste, das Einkaufen und Kochen wieder zurück haben möchte, das weiß ich noch nicht genau. Ich staune dann doch bei so einer Zwangspause, die vielleicht zu einer Zäsur wird, wieweit man im familiären Geflecht wirkt und was alles umverteilt werden muss. Natürlich auch, wie sehr man plötzlich auf Hilfe angewiesen ist, die ich sogar bekomme. Erbeten oder zunehmend vorausschauend und sehr fürsorglich! Alle Beteiligten müssen sich erst einmal an die neue Situation gewöhnen. Reinhart sagt, er wäre viel wacher, entdecke Verschüttetes und lerne wieder, Dinge zu finden. Unsere Tochter bat mich, nicht allzu genau hinzuschauen, wenn etwas in anderer Weise geschieht oder erst viel später, als ich es gewöhnlich erledige. Unser Sohn zusammen mit unserer Schwiegertochter Emmy, seit neuestem mit ihrem kleinen Hund Hermann, wollen vorbeischauen und etwas kochen. Ebenso unsere Freunde Heidi und Rolf.

Hermann

Emmy, die als Schwester in der Notaufnahme unseres Klinikums arbeitet, hat zudem mein Kommen in der Chirurgie avisiert. Das gibt mir ein gutes Gefühl!

„Die verborgene Harmonie ist immer stärker als die offenkundige“

ein Satz von Heraklit, den ich sehr mag, der im Buch von Hans-Georg Gadamer „Über die Verborgenheit der Gesundheit“ die körperliche und seelische Gesundheit meint. Ich beziehe ihn auf die Verbundenheit in unserer Familie und die selbstverständliche Fürsorge, die unser Dasein ausmacht. Er steht ebenso wie der folgende Satz von Gadamer selbst in seinem Buch, das bereits in meiner Tasche für die Klinik steckt:

„Bleibt doch das oberste Ziel, wieder gesund zu werden und damit zu vergessen, dass man gesund ist.“

Bis bald bei hoffentlich guter Gesundheit!

Eure Bettina

Keine Mitläuferin – kein einfaches Leben?

Ich bin die große Schwester der „Mitläuferin“ Bettina Zarneckow (Eine Mitläuferin-hier im Blog). Mein Name ist Camilla Klich. Ich hatte mich nie damit abgefunden, eingesperrt im Arbeiter- und Bauernstaat zu leben. Die Konzerte von Bob Dylan und von Bruce Springsteen nicht live sehen zu können, nicht unter Palmen liegen zu können und im 26 Grad warmen Meerwasser zu schwimmen, nicht Pepsi Cola trinken zu können. Ich sammelte Ansichtskarten aus jedem Winkel der Welt. Auf eine Ansichtskarte war ich besonders stolz. Sie stammte aus Südafrika. Für Politik interessierte ich mich wenig.

Wir haben Freunde in San Francisco. Das Ehepaar war 1976 bei uns zu Besuch. So lernte ich fleißig Englisch. Ich glaube, ich war recht gut, und so konnte ich ihre Briefe auch für die ganze Familie leicht übersetzen und mühelos antworten. Mein Berufswunsch war Lehrerin für Deutsch und Englisch. Fast allen aus meiner Klasse wurde ein Direktstudium verweigert. Die Jungen konnten ein Studium nach 3 jähriger Armeezeit antreten. In der Regel aber erhielten im besten Fall nur diejenigen einen schnellen Zugang ohne Umwege zu den Hochschulen, die ihre sozialistische Grundeinstellung und Parteikonformität nachweisen (oder glaubhaft vortäuschen) konnten. Also erhielten nur die beiden Mitschüler, die den Lehrerberuf in der Fächerkombination mit Staatsbürgerkunde ergreifen wollten, eine Zulassung zum Direktstudium.

Da das Reisen schon immer ein Faible von mir war, arbeitete ich im Reisebüro. Parallel lernte ich für ein Studium weiter Englisch an der Volkshochschule. Die Sommermonate waren toll. Da kamen die Touristen aus dem NSW, wie wir Reisebüroleute es nannten – die Touristen aus dem Nicht-Sozialistischen-Wirtschaftssystem. Ich war aufgeschlossen und begierig, Neuigkeiten aus dem Ausland zu erfahren und sicherlich auch naiv, jedenfalls nahm ich kein Blatt vor den Mund und schilderte ihnen im Gespräch offen die Verhältnisse, unter denen ich in der DDR lebte. Bei dieser Gelegenheit lernte ich eine Frau aus Schweden kennen. Wir freundeten uns an. Sie besuchte mich. Wir fuhren nach Rostock und Warnemünde.

Mit der Personalchefin im Reisebüro hatte ich ein sehr gutes Verhältnis. Karin reagierte verständnisvoll, war immer bereit, sich meine Sorgen anzuhören, gab Ratschläge als ich mich (vergeblich) zum zweiten Mal für ein Lehrerstudium beworben hatte. Sie war selbst eine überzeugte Genossin und linientreue DDR-Bürgerin und versuchte mich zu überzeugen, in die SED einzutreten. Das kam für mich nicht infrage. Im Fernsehen sah ich vor allem „Westsender“. Ich verabscheute die Sendung „Der schwarze Kanal“ von und mit Karl Eduard von Schnitzler im DDR Fernsehen.

Dann kam am 9.11.1989 die Wende mit dem Mauerfall. Unmittelbar darauf verkündete Karin im Büro etwas zu lautstark, dass sie nicht gedacht hätte, wie viele Lügen die DDR-Regierung erzählt hätte und wie komfortabel die Oberen der SED in der Siedlung Wandlitz gewohnt hätten usw. Ich wusste gleich, dass sie das nicht ernsthaft meinte, glaubte ihr nicht.

Der Tag, als ich einen Einblick in meine Stasi-Akte erhielt: Ich arbeitete gerade in Berlin, als ich eine Aufforderung bekam, mich in der Stasi-Unterlagen-Behörde (BstU) zu melden. Ich dachte, was werden schon für Unterlagen über mich existieren. Nach meiner Schulzeit bestand die DDR ja nur noch 3 Jahre. Dann kam schon die Wende. Ich hatte mich getäuscht. Eine Dame brachte einen Rollwagen, der mit Akten vollgepackt war. Ich fand Aufzeichnungen über meine Kindheit. Das Kennenlernen mit meiner schwedischen Freundin wurde beschrieben. Die Kopie ihres Notizbuchs mit Adressen in Schweden und Dänemark fand ich vor. Wie war die Staatssicherheit nur daran gekommen?

Die Stasi hatte alle Nachbarn in unserem Haus über meine Schwester Bettina und mich ausgefragt. Welches Autos unsere Familie und der Bruder meiner Mutter fuhren. Über die Besuche einer Freundin meiner Mutter aus Kaiserslautern, das Treffen mit Freunden aus San Francisco. All meine in Englisch geschriebenen Briefe nach San Francisco fand ich maschinegeschrieben und sorgfältig übersetzt.

Ich wurde systematisch von drei Kolleginnen ausspioniert. Die erste war die damalige Leiterin der Zweigstelle des Reisebüros im jetzigen Oderturm in Frankfurt (Oder). Die andere Kollegin war Christel. Harmlos. Sie hat mich nie ausgefragt. Und die dritte Kollegin war Karin. Sie schrieb in allen Einzelheiten, was ich ihr in den 3 Jahren erzählt hatte und bewertete mich. Zum Beispiel, dass ich ein behütetes Kind war und meine Eltern mir jeden Wunsch erfüllten. Sogar der genaue Preis eines teuren Strickkostüms und einer Hose, die ich gekauft hatte, waren angegeben. Dazu noch ihre Anmerkung: „Viele Lebensmittel kauft die B. im Intershop und verspeist diese bei der Arbeit z. B. Joghurt beim Frühstück“. (B. wegen meines Mädchennamens Biegon) Tatsächlich war mein Vater Rentner, der nach Westberlin fahren durfte und uns immer etwas mitbrachte.

Ich erfuhr nun auch, warum ich immer Absagen zum Studium erhielt. Karin schrieb in einem Bericht, dass ich noch keinen „gefestigten Klassenstandpunkt“ hätte, ich im Grunde alles studieren würde, um etwas aus mir zu machen. Außerdem weigere ich mich beharrlich, in die SED einzutreten. Und dann der Satz: „Zu B. besitze ich gute persönliche Verbindungen, die ausbaufähig sind“.

In meiner Stasi-Akte stand auch, dass ich eine Jugendtouristreise nach Jugoslawien beantragt hatte, man wollte überprüfen, ob ich „Fluchtgedanken“ hätte. Zu diesem Zwecke schickte man einen Radiomoderator zu uns. Wir kannten ihn. Er wohnte auch in der Heinrich-Zille-Straße uns gegenüber und sollte das „abklopfen“. Als Grund seines Kommens gab er an, Informationen über unser Radioverhalten einholen zu wollen. Ich war misstrauisch und stellte meinerseits Fragen. „Von ihrer Mutter ängstlich gebremst“ vermerkte er deshalb in seinem Bericht. Er brach das „Interview“ ab und verabschiedete sich. Sein Auftauchen bei uns fand ich bedenklich. Alle Berichte wurden als „glaubwürdig“ gegengezeichnet. Von Oberstleutnant G., Major W., Hauptmann M.
Welch ein Aufwand für nichts.

Das ist jetzt 32 Jahre her. Ich war inzwischen in vielen Ländern. Unter anderem in den USA, hier San Francisco und Los Angeles. In Irland, in der Normandie, Griechenland und England …. Als das Flugzeug auf dem Flughafen in San Francisco landete, konnte ich nicht sprechen, so überwältigt war ich. Unsere Freunde holten uns ab.
Ich hörte das „Kling, kling“ der Cable Cars, von dem sie mir immer geschrieben hatten, sah die Golden Gate Bridge, besuchte die ehemaligen Gefangeneninsel „Alcatraz“, machte einen Bummel durch China-Town. – Erst jetzt erfuhr ich aus ihren Tagebuchaufzeichnungen, dass sie 1976 bei ihrer Einreise von der Stasi befragt wurden, welchen Grund ihr Besuch bei uns hätte, wie lange sie bleiben würden usw. – In Los Angeles war ich unter anderem in Beverly Hills, Santa Monica und in Hollywood.

Ich bin mit mir im Reinen. Das Leben hat es gut mit mir gemeint. Lehrerin für Deutsch und Englisch bin ich nicht geworden. Aber ich habe meinen Arbeitsplatz in der Europa-Universität Viadrina in meiner Geburtsstadt Frankfurt(Oder) gefunden und arbeite mit Studenten zusammen. Die Wende kam noch rechtzeitig.

Camilla Klich

DLK-Foto 1982