Habt Acht!

Das weltpolitische Geschehen weckt Erinnerungen an eine Zeit, in der die Jugendlichen der DDR auf Krisen- und Katastrophenfälle vorbereitet wurden.
In der 9. und 10. Klasse gab es eine vormilitärische Ausbildung. Auf dem Stundenplan stand auch das Fach Zivilverteidigung (ZV). Die Jungen mussten zudem in ein Wehrlager. Die Mädchen machten eine Sanitätsausbildung, was von Vorteil war. Der Nachweis darüber galt für den Führerschein.

Auch später in der Berufsschule gab es die Unterrichtsstunden ZV. Unser Lehrer für Fotochemie hatte seinen Grundwehrdienst geleistet und war Gefreiter. An unserer Berufsschule Fritz-Perlitz in Potsdam war er für den ZV-Unterricht zuständig.


Ich erinnere mich an seine Ankündigung, in der nächsten Stunde werde der Umgang mit der Gasmaske geübt. Nicht für jeden stand eine zur Verfügung. Es sollten sich deshalb Zweiergruppen bilden. Der Gummigeruch und die Vorstellung, wie viele diese Maske schon getragen hatten, bereitete mir mehr als nur Unbehagen. Meine Schulfreundin und ich planten, diese Unterrichtsstunde für uns vorzeitig enden zu lassen. Durch Täuschung eine Befreiung vom Unterricht zu erhalten, fiel mir nicht leicht. Mir wurde deshalb schon übel, bevor ich die Gasmaske aufgesetzt hatte. Erschrocken und genauso ratlos wie Professor „Schnauz“ in der Feuerzangenbowle schlug unser Lehrer vor, ich solle an die frische Luft gehen. Am besten gleich um die Ecke in die Poliklinik und natürlich in Begleitung. So hatten meine Freundin Heike und ich uns das vorgestellt. Ein kurzer Abstecher zur Poliklinik für den Nachweis meiner Unpässlichkeit und einem freien Nachmittag ohne Gasmaske im schönen Potsdam stand nichts mehr im Wege.


Meine nächste Berührung „militärischer Art“ hatte ich kurz nach abgeschlossener Berufsausbildung. Ein Offizier der NVA kam mit einer außergewöhnlichen Bitte in unser Fotogeschäft in der Oderallee.
Im Kasernengebäude der NVA im Stadtteil Frankfurt-Westkreuz, wo Truppenteile der NVA stationiert waren – logistische Einheiten und rückwärtige Dienste -, war ein Fotolabor eingerichtet worden. Neueste Technik und niemand wusste damit umzugehen. Der Offizier war auf der Suche nach jemandem, der einige Soldaten unterrichten konnte, angefangen von Materialkunde, dem Ansatz der Bäder, über die Filmentwicklung zum fertigen Bild.
Auf die Frage unserer Chefin, wer von uns das machen würde, meldete sich niemand. „Na, Betti“, wandte sie sich an mich, „das wäre doch etwas für dich.“
Was, ausgerechnet ich?! Ich war erschrocken, freundete mich aber mit dem Gedanken an, überwand mich und sagte zu. Eine kleine Nebeneinnahme, natürlich ordentlich abgerechnet, warum nicht?!
So trat ich meinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee als Ausbilderin an.
Donnerstags hatten wir einen verkürzten Arbeitstag, weil unser Laden geschlossen blieb. Also wurde ich jeden Donnerstag pünktlich um 15.00 Uhr abgeholt. Ein Jeep fuhr vor mit Offizier und Fahrer, der Offizier hielt mir, damals gerade noch 18 Jahre alt, die Tür auf und los ging’s zur Kaserne. Meine beiden Begleiter gehörten zu der kleinen Gruppe, der ich die Abläufe und Handgriffe in einem Fotolabor erklären sollte. Jedesmal wurde ich gefragt, ob noch weitere Materialien nötig wären. Geld spielte offenbar keine Rolle. Was ich anforderte, stand in der nächsten Woche parat. Von Engpässen keine Spur. Ein tolles Gefühl!
Am Ende jeden Kurses wurde ich nach Hause gefahren. Inzwischen machte mir das Unterrichten Spaß und ich genoss den Chauffierservice. Nach wenigen Monaten war aber die Tätigkeit bei der NVA leider beendet. Meine Schüler beherrschten die Arbeitsschritte von der Filmentwicklung zum fertigen Bild, einschließlich Trocknung und Kantenschnitt.

Es wurde ein wenig unruhig in den folgenden Monaten. Das starre Gebilde der DDR schien ins Wanken zu geraten. Man hatte das Gefühl, die Partei- und Staatsführung wollte retten, was zu retten ist.
Ein tägliches Ritual bei der Arbeit war unser gemeinsames Frühstück.
An einer langen Tafel (wir waren 16 Kollegen) fanden monatlich Arbeits- und Brandschutzbelehrungen statt, für die jeder unterschreiben musste. Aufträge wurden verteilt, Klatsch und Tratsch ausgetauscht und es gab Mitteilungen außer der Reihe, wie diese:
Der Direktor unseres Mutterbetriebes, des Dienstleistungskombinats (DLK) in der Hafenstraße, hatte mitgeteilt, dass ein neuer Kollege in unsere Fotoabteilung kommt, so unsere Chefin. Das Merkwürdige daran, ihn hatte niemand angefordert. Wir waren ausreichend besetzt und so dachten wir uns unseren Teil. Er war weder Laborant noch Fotograf, half mal hier und mal dort. Jeder achtete ihm gegenüber auf seine Worte. Das waren wir gewöhnt, aber nicht innerhalb unseres Betriebes. Nun also ein Fremdkörper in unserer eingeschworenen Gemeinschaft?

Er war freundlich und versuchte in Gesprächen vieles in Erfahrung zu bringen. Wir blieben höflich und distanziert. Sein Dasein in unserer Abteilung war nicht mehr von Bedeutung und erledigte sich am 9. November 1989. Wir sahen ihn nie wieder, obwohl nun jede zusätzliche Hand hilfreich gewesen wäre, um die nicht enden wollenden Schlangen vor unserem Laden zu bewältigen. Passbilder für Reisedokumente waren gefragt. Aber davon ein andermal.

Bettina Zarneckow

Unsere Preise von damals für handgemachte
schwarz/weiß Passbilder:
4 Stück: 2,25 Mark
6 Stück: 2,50 Mark
8 Stück: 2,80 Mark
10 Stück: 3,10 Mark

Die Hermeneutik eines verschwundenen Staates

Oder wie war das damals?

von Bettina Zarneckow

In ihrem Blog Tutto paletti brachte mir Anke mit ihrem Artikel „Klischees vor der Linse“ einen Film in Erinnerung, den ich mir längst ansehen wollte. „In einem Land, das es nicht mehr gibt“.
Filme, deren Handlung in dem Land spielt, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbrachte, üben auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Die Frage ist immer: Kann ich das Geschehen „absegnen“? Oder werden nur Klischees bedient, die den einseitigen Blick auf die DDR untermauern, den Verdacht bestätigen, DDR Bürger müssten „auf die Couch“, leiden unter dem Stockholm-Syndrom, wünschten sich die Mauer zurück, hatten ja „nüscht“, lebten in einem allzu grauen Alltag?

Ich finde den Film gut gelungen. Wenn er auch nur eine der vielen Nischen der DDR beleuchtet.

Ein wenig konnte ich das Künstlerleben in der DDR beobachten:
Meine Mutter arbeitete im Frankfurter Kleisttheater in der Produktionsleitung. Meine Schwester und ich gingen dort ein und aus, kannten die Werkstätten und erlebten die Künstler auf und hinter der Bühne: Die Sängerin, die ihre Stimme im Turmzimmmer trainierte. Die Pianistin mit ihren Fingerübungen auf einem meist verstimmten Klavier. Den Requisiteuer, der voller Einfallsreichtum Einrichtungsgegenstände bis hin zu Waffenattrappen besorgte. Den Bühnenbildner, der visionär Bilder entwarf und bauen ließ. Die Maskenbildnerin, die Perücken knüpfte. Die Schneiderin, die unglaubliche Kostüme schneiderte und unseren Klavierlehrer, Mitglied im hauseigenen Orchester, Virtuose auf der Klarinette. Es war ein ganz eigenes Milieu. Beeindruckend mit Anziehungskraft. Vergleichbar mit Szenen im Film.

Unglücklich inszeniert im Film ist die Handlung der nacktbadenden Gruppe am Strand.
Galt doch die DDR als fortschrittlich in dieser Hinsicht. Ein Stück Freiheit, was sie ihren Bürgern mit der Freikörperkultur zugestand als Ventil für ihre Unfreiheit?
Sicherlich patrouillierte Grenzpolizei an der Ostseeküste. Aber diese Hatz mit zähnefletschenden Hunden? Nein.

Die Häuser waren grau, aber so heruntergekommen? Doch, leider. Ich habe mir eben Bilder aus meiner Lehrzeit angesehen. Ihr sanierungsbedürftiger Zustand war den viel zu niedrigen Mieten, dem Mangel an Baumaterial und Handwerkern geschuldet, das weiß ich auch.


Die Werkhalle weckt Erinnerungen. Ich habe Fotoreportagen in Betrieben gemacht. Auch in der Wäscherei des Dienstleistungskombinates, wozu unsere Fotoabteilung gehörte. Werkhallen hatten für mich einen gewissen Charme. Die Großwäscherei empfand ich als schrecklich.

Sehr amüsiert habe ich mich über die ältere Dame am Anfang und am Ende des Films, die zuerst mit zwei Autorreifen die Straße überquerte und schließlich mit Karosserieteilen unterm Arm. Eine Parodie auf die berühmte Ersatzteilbeschaffung in der Mangelwirtschaft der sozialistischen Republik? Ersatzteillager in so manchem Keller waren keine Seltenheit und Gold wert.

Ohne Frage ist den Bildern des Films die Farbintensität genommen worden.
Ein Gestaltungsmittel, was Erinnerungen an die damalige Qualität von Farbfotos weckt. Meistens wurden Urlaubsbilder auf Schwarzweißmaterial fotografiert. Selten entschied man sich für einen Farbfilm. Erstens dauerte die Entwicklung der Bilder bis zu einem Vierteljahr. Zweitens waren sie viel zu teuer und sahen dann genauso aus, wie die Bilder dieses Filmes. Für mich hat der Film dadurch etwas Nostalgisches. Wenn auch diese Form der Betrachtung inzwischen ganz schön in Verruf geraten ist. Weil wir „Ewiggestrigen“ das Land, das es nicht mehr gibt, losgelöst von der Regierung und politischen Verhältnissen, unerhörterweise als unsere Heimat betrachten. Man vermisst Vertrautes und Vertrautheiten, die sich gerade wegen der sozialistischen Diktatur entwickelt hatten, kurz gesagt Nischen, eine davon wird im Film dargestellt.

Über mein Leben in der DDR habe ich schon einmal in meinem Blogbeitrag Eine Mitläuferin berichtet.
Aufgrund des Films möchte ich folgende Ergänzungen bringen:

Das Land, in das ich 1968 hineingeboren wurde, gibt es so nicht mehr. Es gibt die Erinnerungen. Erinnerungen an eine friedliche, für mich unbeschwerte Kindheit und Jugend. Persönliche Erlebnisse, die diese Erinnerungen grundlegend trüben, fallen mir nicht (mehr) ein. Wie im Leben eines jeden Menschen lief auch bei mir nicht alles glatt, weder im Kindergarten, noch in der Schule. Aber ich hatte Familie, meine Eltern und meine große Schwester, die immer schon ein Jahr vorher an Ort und Stelle war, wo mich mein Weg noch hinführte. Bis sie nach der 8. Klasse zur erweiterten Oberschule ging, um ihr Abitur zu machen. Dorthin folgte ich dann nicht mehr. Als Zweitbeste der Klasse hatte ich zwar meinen Platz sicher, aber meine ständigen Ängste und meine Scheu standen mir im Weg. Ich gab meinen Platz für meine Mitschülerin Kerstin frei, die ihr Glück kaum fassen konnte. Die drei besten jeder Klasse wurden an die EOS aufgenommen, in die sogenannten Sprachklassen.

Der vormundschaftliche Staat DDR hatte seine Staatsbürger „eingesperrt“. Gegebenheiten standen fest, es gab Regeln, die man mehr oder weniger befolgte. Man kannte die Mitmenschen, die von der Sache des Sozialismus überzeugt waren und achtete ihnen gegenüber auf seine Worte. So zum Beispiel bei unserer Staatsbürgerkundelehrerin.
Sie ließ kein gutes Haar an der BRD, unserem Klassenfeind. Einmal entdeckte sie Fotos von westdeutschen Autos bei mir. Mit den Jungs meiner Klasse kaupelte ich „feindliche“ Fussball- und Autobilder. Ich interessierte mich für beides, ging oft durch Frankfurts Straßen und fotografierte die Autos der Westverwandtschaft, die zu Besuch in der „Zone“ war. Voller Unverständnis erklärte sie mir, dass Trabants und Wartburgs genauso interessant wären. Aus heutiger Sicht muss ich ihr recht geben, eine Rarität. Das ahnte aber damals noch niemand.


Meine Ausbildung zur Fotografin begann ich 1985 in Potsdam. Es war für diesen Beruf die einzige Schule in der DDR und so kamen Lehrlinge aus der ganzen Republik zusammen. Da waren schon einige „Paradiesvögel“ dabei. Während ich mich darauf beschränkte, das Handwerk zu lernen und Fotos nach Aufgabenstellung ablieferte, gab es Mitschüler, die mit ihren Bildern rebellierten.

Die Eheleute Krafft, unsere Lehrer für Technologie und Gestaltungslehre, waren die schillernden Gestalten der Schule, nicht nur wegen ihres großen Altersunterschiedes (sie war einst seine Schülerin). Sie inszenierten sich ständig selbst. Kamen sie an einem Tag in völlig lässiger, fast provozierend unansehnlicher Kleidung, konnte man sicher sein, dass es einem am nächsten Tag fast die Sprache verschlagen würde. Er dann sehr gepflegt, herrlich duftend, oft mit Krawatte oder sogar Fliege. Sie, jugendlich anmutend, in einem hinreißenden Kleid oder ganz Dame in einem eleganten Hosenanzug. Wollten sie unseren Sinn für Ästhetik herausfordern? Mag sein. Ich fand es unglaublich interessant.
Beide waren Fotografenmeister, für mich Künstler, und liebten ihren Beruf. Sie lebten in einem Eigenheim im Potsdamer Stadtteil Caputh, einer reizvollen Seenlandschaft, mit eigener kleiner Yacht.

Ja, auch das war die DDR. Farbenfroh, bunt. Die Farben der Natur waren in ganz Deutschland dieselben. Wir lebten auch mit einer Leichtigkeit. Nicht jeden Tag, aber wer tut das schon?! Jedenfalls standen wir nicht früh auf und verfielen in eine Depression, weil wir uns jeden Tag aufs Neue unseres Daseins hinter einer Mauer bewusst wurden. Wir versuchten das beste aus der Situation zu machen und passten uns den Gegebenheiten an. „Das ist nicht nur praktisch, sondern auch klug.“ (H.-G. Gadamer in einem Interview vom Februar 2000, kurz nach seinem 100. Geburtstag)


Bei vielen Menschen bestand eine Aversion gegenüber den Machthabern unseres Landes und das schweißt zusammen. Es bestand aber auch eine Gemeinschaft, die mit den Plänen der Regierung übereinstimmte: Arbeitsgemeinschaften, Sportgruppen, Musikschulen, Ferienlager und das alles für jedermann und kostenlos.
Das klare, übersichtliche Bildungssystem und dessen verbindliche Strukturen, ohne ständige Veränderungen, wünschte ich mir in die heutige Zeit.

Nicht alles war schlecht in der DDR.
Dass ich das einmal sagen würde?!
Höre ich jemanden von Verdrängung sprechen?

Vor wenigen Wochen traf ich übrigens meine Staatsbürgerkundelehrerin auf dem Friedhof. Etwas unsicher, ob sie sich an mich erinnern würde, grüßte ich. Sie blieb stehen, nannte den Namen der Straße, in der ich wohnte. Nur mit meinem Namen müsste ich aushelfen, so ihre Bitte. Ah ja, und sogleich erkundigte sie sich nach meiner Schwester. Es war ein sehr nettes Gespräch mit der äußerst agilen, gut aussehenden etwa achtzigjährigen Dame, seit acht Jahren verwitwet. Von ihrem Mann habe sie mit auf den Weg bekommen: „Du hast eine gute Rente, du reist gerne, also genieß dein Leben, wenn ich nicht mehr da bin!“
„Und das tue ich! Seitdem mein Mann tot ist, reise ich allein. Ich finde immer Anschluss, bin ja nicht auf den Mund gefallen. Vor wenigen Wochen war ich am Ballermann und übermorgen geht es für drei Wochen nach Tunesien. Alles Gute für sie, Bettina. Auf Wiedersehen.“

Und der Mensch heißt Mensch,
weil er irrt und weil er kämpft
und weil er hofft und liebt,
weil er mitfühlt und vergibt.

Und der Mensch heißt Mensch,
weil er vergisst, weil er verdrängt,
und weil er schwärmt und glaubt,
sich anlehnt und vertraut.

("Mensch" Herbert Grönemeyer)


Geschichten aus der Rathenaustraße – Frankfurt (Oder) nach dem Krieg Teil 2

Bettina Zarneckow

Fleischerei Steinecke, Rathenaustraße

Die Umstände des Krieges hatten dafür gesorgt, dass meine Großeltern kein Auto mehr hatten. Nur ein Fahrrad besaß die Familie noch mit einem Transportkorb. Gefahren wurde dieses von den Angestellten, um Ware von Laden zu Laden zu bringen. Ein Geselle hatte einmal voller Tatendrang versucht, meiner Großmutter das Fahrradfahren beizubringen. Beide gaben schließlich auf.

Ein Transportmittel musste her. Es wurde unbedingt benötigt, um Fleisch heranzuholen, das dann in der eigenen Werkstatt, auch in einer Fleischerei hießen so die Arbeitsräume, verarbeitet und für den Verkauf fertiggemacht wurde.

Wie und woher mein Großvater in den Besitz eines Anhängers kam, das wusste meine Mutter nicht mehr. Aber er war Gold wert. Voll beladen mit Fleisch wurde er von einem Pferd vom Schlachthof in der Lebuser Vorstadt etwa 5 Kilometer zum Geschäft gezogen. Das Pferd lieh sich mein Großvater von Herrn Schulz. Einige Frankfurter werden sich an seine Firma Kohlen Schulz im Stadtteil West erinnern. Auf Dauer war das aber zu schwer für das Tier und so wurde ein Vertrag mit der Straßenbahngesellschaft geschlossen, eine Zugvorrichtung gebaut und der Hänger für die Fleischerei wurde am Schlachthof an einen Wagon der Straßenbahnlinie 2 angehängt und bis zur Straßenbahnhaltestelle August-Bebel-Straße mitgezogen. Ein Bild, an das sich so mancher Bewohner der Stadt heute noch erinnert. Mein Großvater lief dann mit Angestellten zur Haltestelle. Zusammen brachten sie den Hänger zum Geschäft.

Meine Großeltern beauftragten den Automechanikermeister Enge, für sie ein Auto zu beschaffen. Die Autowerkstatt Enge befand sich August-Bebel – Ecke Markendorfer Straße (heute Gebäude Zeugen Jehovas). Es gab weder Neu- noch Gebrauchtwagen und so baute Herr Enge aus Einzelteilen einen Wagen vom Typ Wanderer auf. Benzin bekam man nur auf Zuteilung. Es musste ein Fahrtenbuch geführt werden und am Monatsende wurde abgerechnet. Das tat mein Großvater bei der Tankstelle in der Kantstraße und erhielt nach korrekter Abrechnung Benzinmarken für den nächsten Monat.

Mit 17 Jahren, im Jahr 1951, machte meine Mutter ihren Führerschein bei Georg Kuck in der Markendorfer Straße – Ecke Puschkinstraße. Im September konnte sie ihre Fahrerlaubnis bei der Polizei in der Halben Stadt abholen und so fuhr auch sie fortan mit dem Firmenwagen durch Frankfurt. Sie war zeitlebens eine begeisterte Autofahrerin.

Im Dezember 1951 kam noch ein weiteres Fahrzeug der Marke Opel hinzu. Noch nicht sehr erfahren im Umgang mit einem Auto, blieb meine Mutter eines Tages in der August-Bebel-Straße genau vor der Hindenburg-Kaserne (gelbe Kaserne) stehen. Der Motor des voll beladenen Autos ging einfach aus. „Und nun?“, fragte ich sie. „Hast du einen Schreck bekommen? Was hast du dann gemacht?“ „Wie ich es bei anderen Autofahrern in ähnlicher Situation beobachtet hatte, stieg ich aus dem Auto aus und öffnete sachkundig die Kühlerhaube. Feststellen konnte ich nichts, aber es dauerte nicht lange, da kam ein junger russischer Soldat aus der Kaserne. Ohne ein Wort zu sagen betrachtete er die Lage, schaute sich die Messanzeigen des Cockpits an und verschwand wieder, um nach kurzer Zeit mit einem Kanister wiederzukommen. Er befüllte den Wagen mit Benzin, schloss die Kühlerhaube und gab mir zu verstehen, dass ich meine Fahrt fortsetzen könne. Und tatsächlich, das Auto sprang an und ich fuhr nach Hause. Seitdem habe ich die Benzinanzeige meines Autos immer im Auge.“

August-Bebel-Straße, früher Hindenburgstraße. Turm rechts – gelbe Kaserne früher Hindenburgkaserne (Bild aus privater Sammlung)

Ihr neun Jahre älterer Bruder Kurt konnte zu dieser Zeit im Geschäft nicht mithelfen. Zunächst kam er 1948 aus Kriegsgefangenschaft heim. Dann wurde er 1950 von den Russen in Haft genommen. Man warf ihm Spionage vor. Weil er im Notizbuch eines bereits inhaftierten Deutschen stand, kamen bewaffnete russische Soldaten und ein Offizier eines Tages in den Verkaufsraum der Fleischerei und fragten in gebrochenem Deutsch nach Kurt Steinecke. Bevor sie ihn mitnahmen, zog sich mein Onkel noch um und bat seine Mutter, ihm doch für unterwegs ein paar Stullen zu schmieren. Bis an ihr Lebensende hat meine Großmutter den Schmerz nicht verwunden, dass sie ausgerechnet diese Bitte ihres Sohnes in ihrer Angst und Aufregung nicht erfüllte. Sie hatte es einfach vergessen.

Wahrscheinlich saß er zunächst im Gefängnis in der Collegienstraße. Mit dieser Vermutung nahm sich meine Mutter Trixie, den Foxterrier der Familie, und fuhr dorthin. „Ich wusste nicht, was ich damit erreichen wollte, aber ich lief mindesten zwei Stunden am Gefängnis entlang und um das Gefängnis herum, tat immer so, als würde ich den Hund erziehen, ihm „Stöckchenholen“ beibringen oder ähnliches. Jedenfalls rief ich immer laut nach Trixie, um meinen Bruder wissen zu lassen, dass ich da bin, falls er mich hören konnte.“

Rosemarie und Trixie

Dann wurde er für ein Jahr nach Potsdam in die Untersuchungshaftanstalt des Geheimdienstes Militärspionageabwehr der sowjetischen Besatzungsmacht gebracht und zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager mit Einziehung des Vermögens verurteilt. Er kam nach Workuta, einer russischen Stadt vor dem Ural. 1955 erreichte Konrad Adenauer durch Verhandlungen in Moskau die Freilassung noch immer inhaftierter deutscher Kriegsgefangener und Zivilinternierter. In Güterzügen kehrten die Gefangenen nach Deutschland zurück. Aber wann? Geregelte Fahrpläne gab es für diese Züge nicht. Und so fuhr meine Mutter wann immer sie Zeit hatte zum Frankfurter Güterbahnhof, A.-Bebel – Ecke Fürstenwalder Straße, um ihren Bruder nicht zu verpassen. Eine bekannte Familie, die Besitzer der Tankstelle in der Kantstraße, bot an, beim Eintreffen jedes Zuges aus Richtung Osten, bei meinen Großeltern anzurufen. Viele Mitmenschen im Stadtteil West nahmen Anteil am Schicksal des Sohnes des Fleischermeisters Paul Steinecke.

Dann kam die Nachricht und meine Mutter fuhr zum Bahnhof. Ganz sicher sollte Kurt Steinecke in diesem Zug sein. Aber niemand durfte die Wagons verlassen. Sie blieben verschlossen. Warum? Dafür gab es keine Erklärung. Der Zug fuhr weiter nach Potsdam. Meine Mutter mit dem Auto hinterher, um ihren Bruder nach Hause zu holen. – Ja, er war in diesem Zug und konnte ihn in Potsdam verlassen. Über seine Zeit in Sibirien hat mein Onkel kaum etwas erzählt.

Ein Film, bei dem er bei mehrmaliger Ausstrahlung keinen einzigen Teil verpasste war: „So weit die Füße tragen“ (1959), nach dem gleichnamigen Roman von Josef Martin Bauer. Im Lexikon des internationalen Films heißt es dazu: „Der Film war‚ Balsam‘ für die Seele des Volkes, da ein unbescholtener Deutscher in der Rolle des Kriegsopfers gezeigt wurde.“ Scheinbar war er auch Balsam für die Seele meines Onkels.

Kurt 1950

Im Jahr 2013 recherchierte ich über die Geschichte der August-Bebel-Straße. Dazu rief ich bei Herrn Glöckner an. Inhaber der Drogerie und des Fotogeschäftes Glöckner – alteingesessener Frankfurter. Seine Kenntnisse zum Stadtteil West waren sehr hilfreich und ebenso interessant. Am Ende unseres Gespräches, wir kennen uns persönlich eigentlich nicht, fragte er etwas zögerlich, ob er mich einiges zu Kurt Steinecke fragen könnte. Er wäre doch wohl mein Onkel gewesen und er wisse zwar, dass er von russischen Offizieren abgeholt wurde, aber warum, das konnte sich damals niemand erklären. Die Betroffenheit im Viertel wäre sehr groß gewesen. Ich habe gerne geantwortet. Seine Anteilnahme am Schicksal meines Onkels, fast sechzig Jahre später, hat mich sehr berührt.

Gleich nach der Wende 1989 kaufte sich mein Onkel ein neues Auto. Natürlich einen Mercedes. Eine seiner ersten Fahrten führte ihn nach Potsdam. Er hatte lange überlegt, ob er sich das Gefängnis noch einmal ansehen sollte. Zusammen mit seiner Frau irrte er in Potsdam umher. Ein Navi hatte sein Auto noch nicht. Und so hielt er schließlich an einem Taxistand, um sich den Weg beschreiben zu lassen. Als der Taxifahrer den Grund seines Besuches erfuhr, war er sehr bewegt und sagte zu meinem Onkel, er solle ihm hinterherfahren. Natürlich würde er ihn dort hinbringen, selbstverständlich kostenfrei. Das wäre das Mindeste, was er für ihn tun könnte. Als er das später meiner Mutter erzählte, waren beide zu Tränen gerührt.

Briefkarte meiner Mutter an ihren Bruder ins Arbeitslager. Lange Briefe durften nicht geschrieben werden oder kamen nicht an. Von diesen offenen Karten konnte nur die Rückseite beschrieben werden. Alles wurde kontrolliert. Einige dieser Karten brachte mein Onkel mit zurück. Meine Mutter hat sie aufbewahrt. Die von ihm geschriebenen sind nicht mehr auffindbar. Ein Auszug: „…. Ich will Deine Fragen beantworten. Seit Dezember haben wir noch einen Opel. Er steht im Zickenstall – Garage. Ich fahre alle beide. Wir warten bloß darauf, daß alle vier Plätze besetzt werden. Läßt Du mich dann auch ab und zu mal fahren? Ich tue es nämlich schrecklich gern. … Wir denken nur an Dich! Dein Röschen

Ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Sibirien, heiratete mein Onkel 1956. Zusammen mit meinen Großeltern und meiner Mutter, die inzwischen den Beruf der Fleischverkäuferin erlernt hatte, arbeitete er nun wieder im Geschäft mit. 1950, noch bevor er inhaftiert wurde, hatte er seinen Meisterprüfung bestanden. Seine Frau Ursula war gelernte Buchhalterin und arbeitete auf dem Gutshof Nuhnen. Wann sie begann im Familienbetrieb mitzuarbeiten, ist unklar, aber bis zur Schließung des Geschäftes Ende der siebziger Jahre war sie mit dabei. Die Verhandlungen mit den Russen bezüglich des Kühlraums und der darin befindlichen Ware führte fortan mein Onkel. Er war bei ihnen nun ein gefragter Mann, weil er ihre Sprache sehr gut beherrschte. 1958 starb mein Großvater. Die Geschäfte mussten ohne das Familienoberhaupt weiterlaufen.

Hatte ich eigentlich erzählt, wie alles begann?

Meine Großmutter war gelernte Fleischverkäuferin und arbeitete in der Fleischerei Rumpel im Stadtzentrum Frankfurts. Dort war sie erste Verkäuferin, wie man es damals nannte. Das Geschäft und das Gebäude gibt es heute nicht mehr. Eines Tages kam Herr Rumpel zu ihr, legte ihr eine Fleischerzeitung vor und sagte: „Emma, wir benötigen dringend einen Meister hier in unserem Geschäft. Und sie suchen jetzt aus diesen Stellenanzeigen einen geeigneten heraus.“ Meine Großmutter, Emma Schlenz, wählte Paul Steinecke aus, Fleischermeister, geboren in Thüringen, der bis dahin bei seinem Onkel August Steinecke in Hannover arbeitete und dort das Handwerk gelernt hatte. 1924 heirateten sie in Frankfurt (Oder) in der Friedenskirche.

Emma und Paul Steinecke