Am zweiten Weihnachtsfeiertag treffen wir uns traditionell zum Familienessen. Bis 2021 hat unsere Mutter uns Töchter mit Familien eingeladen. Seit 2022 ist sie nun nicht mehr dabei, aber wir führen die Tradition im Gedenken an sie weiter.
In diesem Jahr hatten wir einen Tisch im indischen Restaurant Nirwana in den „Sieben Raben“ reserviert. Dennoch war das Restaurant bis auf den letzten Platz gefüllt als wir eintrafen. Sämtliche Kellner übersahen unsere Ankunft geflissentlich und eilten geschäftig an uns vorbei. Wir teilten unser Schicksal mit einer sechsköpfigen Familie, versuchten, so wenig wie möglich im Wege zu stehen, blieben guter Laune und diszipliniert. „DDR-sozialisiert“ eben, worin wir uns mit unseren „Leidensgenossen“ augenzwinkernd einig waren. Der Überlebensmodus, geduldig in Warteschlangen auszuharren, wird bei mir wohl auf ewig im Standby abrufbereit bleiben.
Zeit also, um an das Anstehen in Restaurants zu DDR-Zeiten zurückzudenken und der jungen Generation wieder einmal davon zu erzählen: „Bitte warten! Sie werden platziert“.

(Das kennen sie inzwischen auch aus der Coronakrise) Meist war der Restaurantbereich in den HO-Gaststätten mit einer schweren Kordel abgetrennt, die zum Einlass für die entsprechende Personenzahl von nicht selten missmutigem Personal geöffnet wurde.
Nach etwa zwanzig Minuten bekamen wir unseren Tisch. Aber unsere Rückschau, in längst vergangene Zeiten, hatte gerade erst begonnen. Als dann der Kellner auf meinen Einspruch, ich hätte einen anderen Cocktail bestellt, mit: „Cocktail ist Cocktail“ reagierte, waren wir vollends beim Thema.
Reinhart erzählte von einem Anwaltstreffen im teuersten Restaurant von Frankfurt (Oder) – Oderland – in den späten 80ern. Beim Servieren war die Reihenfolge der bestellten Speisen durcheinander gebracht worden. Einen Anwalt, der sich daraufhin enorm echauffierte, beruhigte der Ober mit dem Hinweis, dass es im Magen duster sei.
Beim selben Treffen fragte unsere Freundin Heidi, warum sie nur nackte Spargelstangen serviert bekäme. Wo denn der Rest des köstlichen Gemüses sei? Die Spargelköpfe sind in Frankfurt am Main, bekam sie als Antwort.
Meine Schwester, gelernte Reisebürokauffrau, berichtete von einer Reise auf die Krim. Es war im Jahr 1988. Sie war als Reiseleiterin eingesetzt. Gleich am ersten Abend wollte sie das probieren, wofür die Krim weltweit berühmt war: den roten Krimsekt – Krimskoje (Крымское) und erkundigte sich in ihrem Hotel nach einer Bar. Der Wegbeschreibung folgend, gelangte sie zusammen mit einem jungen Mädchen aus ihrer Reisegruppe, das sich ihr angeschlossen hatte, in eine große, ungemütliche, fast leere Halle des Hotels mit übergroßen Tischen. Aber dort gab es keinen roten Krimsekt, jedenfalls nicht für Gäste aus dem sozialistischen Bruderland. Sie war empört und wollte gerade zu einer ordentlichen Beschwerde ansetzen, da sprachen sie Mitglieder einer westdeutschen Reisegruppe an. Sie hatten die Unterhaltung, die auf Englisch vonstatten ging, verfolgt und luden meine Schwester und das junge Mädchen ein, in eine Bar mitzukommen, die für DDR-Bürger gesperrt war.
Ja, so hatte Camilla sich eine Bar vorgestellt, mit bequemen Clubsesseln und eleganten Sektflöten aus Kristall. Darin: Krimskoje! Hа Здоровье!
„Ich erinnere mich noch an deine Reise nach Leningrad, Bettina“, lachte meine Schwester. „Ja, ein Abenteuer“ entgegnete ich. „Lehrlingsfeier im Dienstleistungskombinat (DLK). Du kamst schluchzend nach Hause, völlig verheult. Wir haben alle einen großen Schrecken bekommen und beruhigten dich, bis du uns sagen konntest, was geschehen war.“
Es war mein Lehrabschluss im Jahr 1987. Ich hatte meine Facharbeiterprüfung zur Fotografin mit „sehr gut“ bestanden. Weil ich überdies bester Lehrling unserer Lehrlingsgruppe war, wurde ich mit einer Reise nach Leningrad (heute wieder St. Petersburg) belohnt. Damit hatte ich nicht gerechnet, war bestürzt und wollte auf keinen Fall reisen. Das sagte ich zu Hause auch so. Meine Eltern, froh, dass mir nichts Schlimmeres passiert war, äußerten sich erst einmal zurückhaltend. Meine Schwester hingegen amüsierte sich köstlich.
Für sie stand fest: „Du fliegst! Das wäre ja noch schöner!“

So geschah es auch. Ich reiste mit einer kleinen Gruppe frisch gebackener Facharbeiter aus verschiedensten Berufen. Bis heute bin ich froh, diese Reise gemacht zu haben.
Wovon man im Russisch- und Geschichtsunterricht gehört hatte, was einem fern und unwirklich erschien, das konnte ich nun sehen. Den Panzerkreuzer Aurora,

die Peter-und-Paul-Festung und natürlich die Eremitage, die mich besonders beeindruckt hat.
Wollte man jedes Kunstwerk auch nur 10 Sekunden lang betrachten, bräuchte man dafür etwa sieben Jahre, hieß es. Diese Pracht und Fülle von Kunst konnte ich nicht fassen. Und kann sie selbst heute nicht mit Worten beschreiben.

Stefan Zweig schrieb in seiner „Reise nach Russland“: „Daß ich die Eremitage wirklich gesehen habe, werde ich nie den Mut haben, zu behaupten: ich bin nur in allen ihren Sälen gewesen. Man kann, ohne zu übertreiben, ihre Ausdehnung nach Kilometern berechnen, und schon das bloße Durchwandern (geschweige das wirkliche Schauen) bedeutet eine physische Arbeitsleistung.“
Natürlich war ich auch im historischen „Gostiny Dvor“ einkaufen. Ich kaufte Schallplatten, die in der DDR nicht zu bekommen waren: Michael Jackson, Dire Straits, Glenn Miller, Chris Rea.
Die Rückreise habe ich in besonders eindrücklicher Erinnerung. Ich war unglaublich froh, im Flugzeug zu sitzen und freute mich auf zu Hause. Die Iljuschin -18 rollte langsam auf die Startbahn, der Pilot gab vollen Schub und bremste in den nächsten Sekunden wieder ab, was wohl nicht nur mir durch Mark und Bein ging. Wir mussten das Flugzeug verlassen. Die Informationen waren spärlich. Von einer Reparatur war die Rede, die einige Stunden dauern könne. Die Zeit, die wir bei einer Außentemperatur von minus 21 Grad im ungeheizten Flughafengebäude verbrachten, erschien mir zähflüssig. Angst bedrängte mich und ich begann, innerlich und äußerlich zu erstarren.
Mir fiel mein Hut ein, den ich mir im Gostiny Dvor gekauft hatte. Dankbar zog ich ihn auf. Alles Wärmebringende war willkommen.


Unsere Sitzgelegenheit war ein funktionsuntüchtiger Heizkörper.
Ich dachte an meine Eltern, die wohl bangend in Schönefeld warteten. Nach sechs Stunden stiegen wir in die reparierte IL-18, von der wir hofften, dass sie bis Schönefeld halten würde.
Sie hielt!
Sechs Stunden Hoffen und Bangen waren meinen Eltern anzusehen, die Freude über unser Wiedersehen bei guter Gesundheit aber auch. Und … meine Schwester war mitgekommen!
Zu erzählen gab es unglaublich viel!
Zurück im indischen Restaurant Nirwana in Frankfurt (Oder). Unsere Kinder hatten längst andere Gesprächsthemen gefunden. Nur wir hatten Freude am Auffrischen unserer Erinnerungen.
Erinnerungen an Erlebtes, Überstandenes, an Dinge und Begebenheiten, die unser Leben ausgemacht und uns geprägt haben.
Damals wie heute haben wir nicht geklagt. Wir haben uns unabänderlichen Gegebenheiten angepasst, abgewogen, Entscheidungen getroffen, danach gehandelt und versucht, das Beste aus allem zu machen. So, wie es wohl in der Natur jedes Menschen liegt.
Bettina Zarneckow
Nun wünsche ich allen, die hier lesen, allen Bloggerkollegen, Bekannten, Freunden und Verwandten einen wunderbaren Jahreswechsel, ein frohes, friedliches und gesundes Neues Jahr mit netten Begegnungen, guten Gesprächen und hoffentlich vielen Umarmungen in Freundschaft und Liebe!