Als Reinhart und ich uns vor einigen Tagen mit Heidi und Rolf über „Heimat“ unterhielten, habe ich mich an meinen Heimatbrief erinnert, verfasst im März 2019.
1904 kamen meine Urgroßeltern aus Baudach in der Neumark nach Frankfurt an der Oder. Baudach liegt etwa 50 km von Frankfurt entfernt.

Frankfurt ist die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin.
Ein Gefühl für Heimat entsteht für mich schon, wenn ich an unseren Schrebergarten in der Birnbaumsmühle denke. Meine Eltern haben ihn im selben Jahr bekommen wie mich.
Auch die Heimkehrsiedlung ist ein glücklicher Ort meiner Kindheit. Viele wunderschöne Wochen, vorwiegend in den Ferien, haben meine Schwester und ich bei Tante Lissi, einer Cousine meiner Mutter, verbracht. Sie und Onkel Schorsch hatten einen Garten hergerichtet, wie ich ihn vorher nicht kannte und auch nie wieder gefunden habe. Einen Ort voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit, mit Freude und Glück. Ein kleines, nein vielmehr großes Idyll, umgeben von schützenden Mauern. Viele Beete und Wege, Bäume, Beerensträucher, Zuckerschoten und vor allem Blumen. Löwenmäulchen sind lieblich in meiner Erinnerung verankert. Ein großes Beet voller Gladiolen. Bunt und elegant. Mit ihrem Collie Dixi, der mir immer so groß erschien, wie ich es war, machten wir abenteuerlich anmutende Spaziergänge. Nach mühsam überwundener Angst hatte ich Dixi in mein Herz geschlossen.
Heimat ist auch die Zillestraße, auf der Nachbarskinder, Schulfreunde meine Schwester und ich rollschuh-, gleitschuh-, fahrradfahrend, ballspielend und gummihopsehüpfend jeden Quadratmeter vermessen haben.
Das Kino der Freundschaft in der Friedrich-Ebert-Straße zählt dazu, ebenso das Lichtspieltheater der Jugend inmitten der Stadt. Der Topfmarkt, wenn er zum Rummelplatz wurde. Die Volksschwimmhalle, in der ich das Schwimmen lernte, das Stadion der Freundschaft, in das ich mit den Jungs meiner Klasse ging, um den FC Vorwärts spielen zu sehen.
Natürlich unser Haus, das Haus meiner Großeltern, mit unserer Wohnung, unserem Hof, auf dem wir zu jeder Jahreszeit spielten, den alten Birnbaum abernteten, die wohlbehüteten Autos und Mopeds putzten, auf die Klopfstange gehängte Teppiche ausklopften, die frisch gewaschene Wäsche mit Wäschestützen in den Wind hoben, so dass sie ordentlich flatterte.
Auch oder gerade der Friedhof gehört zu meiner Heimat. Schon zu einer Zeit, als meine Schwester und ich noch Kinder waren. Mir hat sich folgendes Bild eingeprägt: Meine Großmutter, meine Mutter, meine Schwester und ich gehen am Wochenende in Sonntagskleidung zu den Gräbern unserer Familie. Oft erzählte meine Großmutter Geschichten über diejenigen, die wir dort besuchten. Über meinen Großvater immer dieselbe. Er weigerte sich stets, mit auf den Friedhof zu gehen. Dort läge er noch lange genug. (Übrigens erzähle ich diese Geschichte heute meinen Kindern auf dem Weg zu unseren Gräbern.)
Mein Vater bereitet derweil das Sonntagsessen zu. Auch Heimat! Ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit.
Es ist eine wohlige, Geborgenheit gebende, sanfte und schöne Erinnerung an sonnenhelle Tage. Selten stelle ich mir Wintertage oder Regentage vor.
Genau dieses Gefühl habe ich auch, wenn ich etwas aufschreibe, Begebenheiten und Erinnerungen. Wenn ich einen Gedanken gefunden habe, der mir wichtig scheint. Oder wenn ich versuche, auf Briefe von Freunden zu reagieren.
Immer ist etwas in ihren Texten, das bei mir wie der Sprachblitz im Sinne von Hans-Georg Gadamer wirkt, plötzlich mein Gedächtnis erhellt, eine Gedankenverknüpfung herstellt, die ich mit Worten meiner Muttersprache beschreiben und wiedergeben möchte. Auch das ist für mich Heimat, mit einem Freund „in Resonanz“ zu treten in einer Sprache, in der wir beide zuhause sind.
„Was wäre das Denken ohne die Briefe an Freunde?“ Hannah Arendt
Hegel soll gesagt haben: „Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muss.“
Ein Freund sagte einmal mit einem Seitenblick zu mir: „Heimat ist dort, wo man sich erklären kann.“
All das erfüllt mich also und gibt mir das Gefühl eines schönen Tages meiner Kindheit.
Warum eigentlich Kindheit? Blickt man immer zurück, wenn es um Heimat geht?
Schelling nannte Heimat etwas Unvordenkliches.
Man kann vielleicht nicht sagen, wann das Gefühl für Heimat einsetzt. Ich spüre nur, dass aus der Zeit, die hinter mir liegt, vieles auf ein vorhandenes, immer dagewesenes trauliches Gefühl aufbaut, das mir das Bewusstsein für Heimat gibt.
Bettina Zarneckow

