Von der Oder an den Rhein…

Der leidige Wechsel des Betriebssystems meines PCs führte mich (noch vor meinem Knöchelbruch) nach Frankfurt in die Lindenstraße. Aufgrund seiner guten Bewertungen hatte ich mir den Computer-Service Hemmerling ausgesucht und war überrascht, als ich in in unserem ehemaligen Fotoladen stand.
Damals hieß die Straße Oderallee. Nur die Hausnummer ist geblieben: 21.
Den Charme unseres Fotostudios hatten die Ladenräume nicht mehr. Ich spürte eine sachliche, tüftlerische, eher ungemütliche Atmosphäre und erzählte dem Inhaber, dass ich vor 36 Jahren hier in diesem Laden gestanden habe. Von der Vorgeschichte der Räume wusste er nichts. Aber in mir kamen Erinnerungen hoch.

Am 9. November 1989 hatten wir eine unserer beliebten Brigadefeiern. Dieses Mal sogar mit Fotografen der Zeitung „Neuer Tag“, der heutigen Märkischen Oderzeitung. Der Ehemann unserer Chefin war dort Fotograf. Wir arbeiteten öfter zusammen, kannten einige Kollegen und wollten einmal gemeinsam feiern.

Was wir damals noch nicht ahnten, es war die letzte Feier. Denn schon am selben Tag sah unsere Welt und die Welt Deutschlands durch den Mauerfall vollkommen anders aus.

Für Ausflüge und Betriebsfeiern gab es den Donnerstag, den Schließtag unseres Ladens. Wir beeilten uns, Aufträge für den nächsten Tag fertig zu stellen, um anschließend Speisen und Getränke für uns und unsere Gäste vorzubereiten. Gesprächsthemen an diesem Abend waren die Montagsdemos, die es auch in unserer Stadt gab und der Frankfurter Apothekerball vom vergangenen Wochenende (4.11.1989), zu dem meine Kollegin Dani und ich zum Fotografieren bestellt waren. Auf dem Ball in der Gaststätte Beckmannstraße herrschte eine merkwürdig angespannte, zugleich durchaus fröhliche Stimmung. An welchen Tisch ich auch kam, gesprochen wurde über die Großdemonstration in Berlin auf dem Alexanderplatz am selben Tag.

Alexanderplatz-Demonstration – Wikipedia
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Die Atmosphäre damals überhaupt und so auch bei diesem Ball, weckte in mir das Gefühl, als wären sich alle einer glimmenden Lunte bewusst, die unaufhaltsam einem Sprengsatz entgegen brennt.

Unsere Feier am 9.11.1989 endete zu später Stunde. Ich wunderte mich, dass bei uns zu Hause noch der Fernseher lief. „Stell dir vor“, empfing mich meine Schwester, „die Mauer ist gefallen“. Ich lachte und fragte, wem sie das weis machen wolle. Camilla erzählte, was ich verpasst hatte. Ich war sprachlos. Wir verfolgten weiter die Fernsehbilder. Es fiel schwer, das Geschehen zu begreifen und als real anzunehmen.

Am nächsten Tag konnte ich es kaum erwarten, zur Arbeit zu gehen, die Feier und die Ereignisse des vergangenen Abends auszuwerten und zu spüren, ob sich an unserem Lebensgefühl etwas geändert hätte.

Erst einmal bescherten uns die Worte von Günter Schabowski, „nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich…“, viel Arbeit.

Einige Minuten vor Öffnung um 9.00 Uhr gingen wir gewöhnlich in den Laden, der zwei Häuser von unserer Werkstatt entfernt war. Selten standen zu dieser Zeit schon Leute vor der Tür. Am 10. November 1989 war alles anders. Wir erschraken, als wir sahen, was für eine riesige Schlange an Menschen sich bereits gebildet hatte. Noch blieben die Wartenden geduldig. Schlangestehen war ja Volkssport in der DDR. Aber der Westen mit seinen Möglichkeiten drängte! Den ganzen Tag über wollte der Ansturm nicht enden. Ausnahmezustand – Passbilder für Reisedokumente waren gefragt.

Wir arbeiteten immer zu zweit im Laden. Einer an der Kasse, der andere fotografierte im Atelier. Es ging an unsere Kräfte und unsere Studioblitzanlage lief heiß. Wir mussten sie hin und wieder für kurze Zeit ausschalten.

Kurz vor Ladenschluss um 18.00 Uhr baten wir, dass sich bitte niemand mehr anstellen solle. Vergeblich. Weit nach 18.00 Uhr sahen wir uns gezwungen, die Tür abzuschließen. Lauter, wütender Protest. Schließlich wurde unser Atelier durch den Hintereingang gestürmt. Es war beängstigend. Energische Rufe nach dem Kundenbuch (*1) wurden laut. Ich griff danach, warf es in die Menge und konnte dann sogar die Tür verschließen. Wie lange wir ausharren mussten, bis wir Feierabend machen konnten, weiß ich nicht mehr. Irgendwann zog auch der letzte Kunde ab.

Am nächsten Tag wurden beinahe alle Arbeiten zurückgestellt, weil fast die gesamte Fotoabteilung mit dem Entwickeln und Schneiden von Passbildern beschäftigt war. Sie wurden immer zum nächsten Tag fertig gemacht. Das wollten wir beibehalten, obwohl sich nebenan im Atelier schon wieder ähnliche Szenen wie am Vortrag abspielten. Wer in der Dunkelkammer für die Passbilder verantwortlich war, hatte eine stupide Arbeit zu erledigen und zum Feierabend Blasen an den Händen.

Jedes Bild musste am MD Kopierer einzeln belichtet werden.
Dazu wurde die Klappe des Kopierers geöffnet, das Negativ eingelegt, mit einer Maske der Ausschnitt gewählt, Fotopapier aufgelegt und die Klappe solange mit Druck geschlossen gehalten, bis die vorgewählte Belichtungszeit abgelaufen war. Hatte der Kunde vier Passbilder bestellt, wurde der Vorgang weitere dreimal wiederholt, bei acht Stück dementsprechend öfter.

Wieviel Passbilder wir in den Tagen nach dem Mauerfall auf diese Weise herstellten, kann ich nicht genau sagen, es waren tausende.

Einige Tage vergingen, bis sich der normale Atelierbetrieb wieder eingestellt hatte. In unseren Entwicklerbädern schwammen erste Fotos mit Motiven Westdeutschlands – dem Heidepark in Soltau, der Drosselgasse in Rüdesheim, dem Bodensee mit der Blumenwelt der Mainau, Schloss Neuschwanstein, den Bremer Stadtmusikanten. Aber auch das Ausland, Paris mit dem Eiffelturm und Amsterdam mit seinen Grachten, war dabei.
Die Menschen der DDR schwärmten aus, die Orte zu entdecken, von denen sie gehört und gelesen hatten, die in Gedichten und Liedern besungen wurden oder die sie aus früheren Zeiten kannten. Ganz vorn mit dabei die Loreley, die auf dem nach ihr benannten Felsen am Mittelrhein sitzt.

Nach dem Mauerfall wurde unser Mutterbetrieb, das Dienstleistungskombinat, „abgewickelt“. Die Chefin übernahm unsere Fotoabteilung und war nunmehr Unternehmerin. Von sechzehn Angestellten nahm sie vier mit. Auch mich. Für alle übrigen war das ein Schock und sie mussten sich neu orientieren, was in Anbetracht der zunehmenden Arbeitslosigkeit schwer war.

Am Abend unserer Brigadefeier hatte ein Fotograf des Neuen Tags seinem Kollegen und Freund gestanden, ihn jahrelang bespitzelt zu haben. Ein Gewissenskonflikt, der ihm zu schaffen machte und der beide an diesem Abend sehr still werden ließ.

Eine Zeitenwende? Ganz sicher. Hier passt das Wort. Für uns DDR-Deutsche jedenfalls. Erfüllte Hoffnung und offene Zukunft mit neuer Hoffnung. Ganz neue Möglichkeiten, aber auch Einschnitte, Unsicherheiten und Ängste…

Bettina Zarneckow



*1 Das Kundenbuch war in Geschäften und Gaststätten gesetzlich vorgeschrieben, um Beschwerden und Lob von Kunden zu sammeln. Es wurde von der Betriebsleitung, in besonderen Fällen sogar von der Bezirksleitung kontrolliert.

Habt Acht!

Das weltpolitische Geschehen weckt Erinnerungen an eine Zeit, in der die Jugendlichen der DDR auf Krisen- und Katastrophenfälle vorbereitet wurden.
In der 9. und 10. Klasse gab es eine vormilitärische Ausbildung. Auf dem Stundenplan stand auch das Fach Zivilverteidigung (ZV). Die Jungen mussten zudem in ein Wehrlager. Die Mädchen machten eine Sanitätsausbildung, was von Vorteil war. Der Nachweis darüber galt für den Führerschein.

Auch später in der Berufsschule gab es die Unterrichtsstunden ZV. Unser Lehrer für Fotochemie hatte seinen Grundwehrdienst geleistet und war Gefreiter. An unserer Berufsschule Fritz-Perlitz in Potsdam war er für den ZV-Unterricht zuständig.


Ich erinnere mich an seine Ankündigung, in der nächsten Stunde werde der Umgang mit der Gasmaske geübt. Nicht für jeden stand eine zur Verfügung. Es sollten sich deshalb Zweiergruppen bilden. Der Gummigeruch und die Vorstellung, wie viele diese Maske schon getragen hatten, bereitete mir mehr als nur Unbehagen. Meine Schulfreundin und ich planten, diese Unterrichtsstunde für uns vorzeitig enden zu lassen. Durch Täuschung eine Befreiung vom Unterricht zu erhalten, fiel mir nicht leicht. Mir wurde deshalb schon übel, bevor ich die Gasmaske aufgesetzt hatte. Erschrocken und genauso ratlos wie Professor „Schnauz“ in der Feuerzangenbowle schlug unser Lehrer vor, ich solle an die frische Luft gehen. Am besten gleich um die Ecke in die Poliklinik und natürlich in Begleitung. So hatten meine Freundin Heike und ich uns das vorgestellt. Ein kurzer Abstecher zur Poliklinik für den Nachweis meiner Unpässlichkeit und einem freien Nachmittag ohne Gasmaske im schönen Potsdam stand nichts mehr im Wege.


Meine nächste Berührung „militärischer Art“ hatte ich kurz nach abgeschlossener Berufsausbildung. Ein Offizier der NVA kam mit einer außergewöhnlichen Bitte in unser Fotogeschäft in der Oderallee.
Im Kasernengebäude der NVA im Stadtteil Frankfurt-Westkreuz, wo Truppenteile der NVA stationiert waren – logistische Einheiten und rückwärtige Dienste -, war ein Fotolabor eingerichtet worden. Neueste Technik und niemand wusste damit umzugehen. Der Offizier war auf der Suche nach jemandem, der einige Soldaten unterrichten konnte, angefangen von Materialkunde, dem Ansatz der Bäder, über die Filmentwicklung zum fertigen Bild.
Auf die Frage unserer Chefin, wer von uns das machen würde, meldete sich niemand. „Na, Betti“, wandte sie sich an mich, „das wäre doch etwas für dich.“
Was, ausgerechnet ich?! Ich war erschrocken, freundete mich aber mit dem Gedanken an, überwand mich und sagte zu. Eine kleine Nebeneinnahme, natürlich ordentlich abgerechnet, warum nicht?!
So trat ich meinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee als Ausbilderin an.
Donnerstags hatten wir einen verkürzten Arbeitstag, weil unser Laden geschlossen blieb. Also wurde ich jeden Donnerstag pünktlich um 15.00 Uhr abgeholt. Ein Jeep fuhr vor mit Offizier und Fahrer, der Offizier hielt mir, damals gerade noch 18 Jahre alt, die Tür auf und los ging’s zur Kaserne. Meine beiden Begleiter gehörten zu der kleinen Gruppe, der ich die Abläufe und Handgriffe in einem Fotolabor erklären sollte. Jedesmal wurde ich gefragt, ob noch weitere Materialien nötig wären. Geld spielte offenbar keine Rolle. Was ich anforderte, stand in der nächsten Woche parat. Von Engpässen keine Spur. Ein tolles Gefühl!
Am Ende jeden Kurses wurde ich nach Hause gefahren. Inzwischen machte mir das Unterrichten Spaß und ich genoss den Chauffierservice. Nach wenigen Monaten war aber die Tätigkeit bei der NVA leider beendet. Meine Schüler beherrschten die Arbeitsschritte von der Filmentwicklung zum fertigen Bild, einschließlich Trocknung und Kantenschnitt.

Es wurde ein wenig unruhig in den folgenden Monaten. Das starre Gebilde der DDR schien ins Wanken zu geraten. Man hatte das Gefühl, die Partei- und Staatsführung wollte retten, was zu retten ist.
Ein tägliches Ritual bei der Arbeit war unser gemeinsames Frühstück.
An einer langen Tafel (wir waren 16 Kollegen) fanden monatlich Arbeits- und Brandschutzbelehrungen statt, für die jeder unterschreiben musste. Aufträge wurden verteilt, Klatsch und Tratsch ausgetauscht und es gab Mitteilungen außer der Reihe, wie diese:
Der Direktor unseres Mutterbetriebes, des Dienstleistungskombinats (DLK) in der Hafenstraße, hatte mitgeteilt, dass ein neuer Kollege in unsere Fotoabteilung kommt, so unsere Chefin. Das Merkwürdige daran, ihn hatte niemand angefordert. Wir waren ausreichend besetzt und so dachten wir uns unseren Teil. Er war weder Laborant noch Fotograf, half mal hier und mal dort. Jeder achtete ihm gegenüber auf seine Worte. Das waren wir gewöhnt, aber nicht innerhalb unseres Betriebes. Nun also ein Fremdkörper in unserer eingeschworenen Gemeinschaft?

Er war freundlich und versuchte in Gesprächen vieles in Erfahrung zu bringen. Wir blieben höflich und distanziert. Sein Dasein in unserer Abteilung war nicht mehr von Bedeutung und erledigte sich am 9. November 1989. Wir sahen ihn nie wieder, obwohl nun jede zusätzliche Hand hilfreich gewesen wäre, um die nicht enden wollenden Schlangen vor unserem Laden zu bewältigen. Passbilder für Reisedokumente waren gefragt. Aber davon ein andermal.

Bettina Zarneckow

Unsere Preise von damals für handgemachte
schwarz/weiß Passbilder:
4 Stück: 2,25 Mark
6 Stück: 2,50 Mark
8 Stück: 2,80 Mark
10 Stück: 3,10 Mark

Erlebtes und Versäumtes

Wenn man so viel Bestätigung für einen Artikel bekommt und bei Lesern Gedanken an ähnliche Begebenheiten auslöst, lässt man sich gerne noch einmal in längst vergangene Zeiten fallen. Natürlich kommen bei mir dabei nostalgische Gefühle auf. Darf man sie heutzutage noch zulassen? Noch dazu als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist? Wird man nicht der Verklärung schuldig gesprochen?

Es gibt kein Privileg auf Nostalgie! Jeder Mensch hat das Recht auf Heimweh, sich auf vergangene Zeiten zurückzubesinnen, ein warmes Gefühl in sich aufsteigen zu lassen. Sich so an Kindheit und Jugend zu erinnern, Bewährungsproben, die erste Liebe – vielleicht verbunden mit einem bestimmten Lied oder einem lieb gewordenen Gegenstand, der Symbol wird für das, was nicht mehr ist.

Verbundenheit ist für mich das Stichwort. Sich zugehörig fühlen, in Bezug stehen zu etwas, zu jemandem, einer Umgebung, einer Landschaft. Und natürlich in Bezug stehen zur Vergangenheit, die mein Leben bedeutet mit allem, was dazugehört!

Es ist bekannt, dass Vorfreude nicht nur ein sehr schönes Gefühl, sondern auch der Gesundheit zuträglich ist. Nach jüngsten Studien gilt das gleiche für die Nostalgie, der man sich bedenkenlos hingeben sollte,
so der Neurowissenschaftler Prof. Tobias Esch.
Na dann los:

Ich krame in meinen Fußballalben, die ich in meiner Schulzeit geführt habe. Neben zahlreichen Postkarten und Postern westdeutscher Fußballspieler und Mannschaften finde ich Stadionhefte von Spielen, zu denen ich im Stadion der Freundschaft in Frankfurt (Oder) gewesen bin.

Mittwoch, 15.September 1982. Gleich nach der Schule war ich mit Jungs meiner Klasse verabredet. Zusammen wollten wir zum UEFA-Pokal-Spiel FC Vorwärts Frankfurt (Oder) gegen Werder Bremen. Vorher aber zum Hotel Stadt Frankfurt, um zu sehen, ob wir die Spieler des SV Werder Bremen erwischen konnten. Ein Autogramm von Otto Rehhagel, ein Foto mit Uwe Reinders, ein Trikot von Rudi Völler oder einfach nur die Mannschaft aus dem anderen Teil Deutschlands live erleben und einen Blick auf ihren westdeutschen Bus werfen. Ein unglaublicher Andrang auf dem Platz vor dem Hotel. Fußballfans, Schaulustige und jede Menge Staatssicherheit. Akkurat gekleidete Herren, die man sofort erkannte. Sie schoben sich fragestellend durch die Massen. Was so besonders wäre an dieser Mannschaft? Warum wir hier warten würden und vor allem, was wir uns erwarteten? Ein wenig Respekt hatte ich schon vor denen, die fragten und ihrer einschüchternden Neugier.
Der Bus der Bremer traf ein. Die Mannschaft kehrte vom Training im Stadion zurück. Jubel, ohrenbetäubender Lärm. Alle drängten zum Bus. Ordner sorgten dafür, dass die Spieler durch eine abgesperrte Gasse ins Hotel kamen. Keine Chance auf ein Autogramm.
Um 17.00 Uhr war Anpfiff. Nach Hause zu gehen lohnte sich nicht mehr. Wir machten uns auf den Weg zum Stadion. Die erste Halbzeit schauten wir von unseren ungünstigen Plätzen im Stadionoval an. Zur zweiten Halbzeit beschlossen wir, auf eine am Rand befindliche etwa 2 Meter hohe Bande zu klettern, um beide Platzhälften besser zu übersehen. Das war zwar verboten, aber dieses Abenteuer wagte ich zusammen mit den Jungs.
In unbequemer Position, aber glücklich, verfolgten wir die 1:3 Niederlage der Oberligamannschaft gegen den Bundesligisten.

Im selben Jahr, genau an meinem Geburtstag, starb Leonid Breschnew. Derartige Nachrichten waren natürlich Thema der „Politinformation“.
Zu gegebenen Anlässen wurden die ersten fünf Minuten der ersten Unterrichtsstunde dazu genutzt. Diesmal nahmen wir die Nachricht sogar mit auf den Pausenhof.
Wir, eine kleine Mädchengruppe, spazierten immer untergehakt über den Hof. Ein wenig vorlaut und sicher auch wichtigtuerisch, ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, dass es nun wohl nicht mehr lange dauerte, dass auch unser Staatsratsvorsitzender Erich Honecker aus Gram über den Verlust seines sozialistischen Bruders und dessen Bruderkuss das Zeitliche segnen würde.
Hui, war das gewagt?
In der nächsten Hofpause kam eine Klassenkameradin in Begleitung ihrer älteren Schwester entschiedenen Schrittes auf mich zu. Wenn ich diese oder ähnliche Bemerkungen noch einmal von mir geben würde, dann würde sie das dem Direktor melden. Mein Verhalten wäre staatsfeindlich, so die große Schwester. Das saß. So hartgesotten war ich dann doch nicht, davon unbeeindruckt zu bleiben. Ihre Einstellung konnte man den Schwestern nicht verübeln. Beide Eltern waren stramme Genossen, vom Sieg des Sozialismus mehr als überzeugt. Trotzdem mochte ich die Eltern, die die Geburtstage ihrer Tochter, zu denen ich regelmäßig eingeladen war, sehr gastlich gestalteten, immer aufrichtig freundlich und humorvoll waren.
Kurz nach der Wende starb der Vater. Den Umsturz und das Zerbrechen all seiner Ideale hat er nicht verkraftet, erzählte mir meine Klassenkameradin Jahre später.

1987 – Ein Schwenk in mein Berufsleben: Als Fotografin stand man auch im Laden. Filme annehmen, Fotos ausliefern, Kassieren, Passbilder und andere Porträts im Atelier aufnehmen. Seit einigen Monaten kam regelmäßig ein Afrikaner namens Massamba in unseren Laden. Er war von gepflegter Erscheinung, gut gekleidet, vor allem bunt. Er machte eine Ausbildung in der DDR. Bei einem Besuch, der sich als sein letzter herausstellte, fragte er in gebrochenem Deutsch nach „Chef“. Ich war allein im Laden, konnte ihn nicht verlassen und erklärte Herrn Massamba den Weg zu unserer Werkstatt, zwei Häuser weiter, in der auch das Büro unserer Chefin war.
Etwa 20 Minuten später kam sie ein wenig echauffiert, halb belustigt, halb entsetzt zu mir in den Laden. „Wen hast du mir denn da geschickt? Weißt du, was Herr Massamba wollte? Er wollte meine Zustimmung, dich mit nach Afrika nehmen zu dürfen und war dabei sehr hartnäckig. Erst einmal habe ich ihm versucht zu erklären, dass ich nicht deine Mutter bin und dass deine Eltern sicher etwas dagegen hätten. Dann gab ich ihm zu verstehen, dass wir dich brauchen und du wahrscheinlich vom Staat auch keine Ausreisegenehmigung bekommen würdest. Nein, Betti“, so wurde ich von meinen Arbeitskollegen genannt, „stell dir mal vor, du wirst dann weitergetauscht gegen eine Kuh oder ein paar Ziegen. Das geht doch nicht. Oder wolltest du mit?“ Wir mussten beide lachen, aber ein wenig beeindruckt waren wir auch.
Herr Massamba verließ die DDR mit einem Facharbeiterbrief in der Tasche, aber ohne mich.


Hier endet mein Rückblick. Ich kann aber nicht garantieren, dass es der letzte war.

Bettina Zarneckow