Ostdeutsche Zeitenwende – die New Yorker Philharmoniker in Peenemünde

Bettina Zarneckow

Ich blicke zurück auf den Dezember des Jahres 2021: Es gab noch keinen Krieg in der Ukraine, meine Mutter lebte noch. Die Welt war in Ordnung. Oder nicht? Für mich war sie es.

Anfang des Monats bekam ich eine WhatsApp von unserem Freund Christoph Ehricht mit dem Hinweis auf ein Konzertwochenende im Mai in Peenemünde, organisiert vom Usedomer Musikfestival. Eingeladen zum 20. Geburtstag der Friedenskonzerte waren die New Yorker Philharmoniker. Wir beschlossen an einem der Konzerte gemeinsam teilzunehmen. So saß ich am 11.12.2021 am Computer und erwartete ein wenig angespannt die Freischaltung des Kartenvorverkaufs, die wirklich Punkt 9.00 Uhr erfolgte. Einige Klicks und ich hatte für Reinhart und mich Karten im Warenkorb. Hui, nicht gerade preisgünstig, aber wir sparten ja die Reisekosten nach New York, hatten Christoph und ich uns zuvor beruhigt.

Noch immer spüre ich bei solchen Ereignissen meine Prägung durch die DDR. Die Möglichkeit, derartige Konzerte besuchen zu können, ist für mich, und das Gefühl werde ich mir hoffentlich bewahren, eine beglückende Besonderheit. Keine Selbstverständlichkeit. Genau wie meine sechs Udo Jürgens Konzerte, die ich immer als ein Wunder ansah und während mancher Melodie glaubte, inmitten eines Traums zu sein. Verrückt und unglaublich schön!

Wir hatten uns für das erste Konzert am Freitag mit dem Pianisten Jan Lisiecki entschieden. Vor Beginn sahen wir uns das Gelände mit dem alten Kraftwerk an. Es ging 1942 in Betrieb und versorgte die Heeresversuchsanstalt (HVA) mit Strom, in der die erste funktionsfähige Großrakete Aggregat 4 (später V2 genannt) unter Wernher von Braun entwickelt und getestet wurde. Die HVA war bis 1945 das größte militärische Forschungszentrum Europas. Auf einer Fläche von 25 km² arbeiteten 12000 meist Zwangsarbeiter gleichzeitig an Waffensystemen, die im 2. Weltkrieg eingesetzt wurden und Vorläufer von heute eingesetzten Raketen im Ukrainekrieg sind. Das alte Kraftwerk wurde nach dem Krieg als einziges Gebäude nicht gesprengt, zu DDR-Zeiten weiter zur Stromerzeugung genutzt und beherbergt seit 1991 das Historisch-Technische-Museum sowie einen Konzertsaal.

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Was traf an dem Wochenende auf diesem historischen Grund nicht alles zusammen?!

  • Die New York Philharmonics, 106 Orchestermitglieder, die nach drei Jahren coronabedingter Pause erstmals wieder in Europa zusammen auftraten.
  • Ihr Dirigent Jaap van Zweden – Niederländer.
  • Die Solisten: Anne-Sophie Mutter (Violine) – Deutsche.
  • Jan Lisiecki (Klavier) – in Kanada geborener Sohn polnischer Eltern.
  • Thomas Hampson (Bariton) – Amerikaner.
  • Und ein internationales Publikum.
Jan Lisiecki

Um in den Konzertsaal zu gelangen, gingen wir Freunde der Musik erst einmal geordnet durch das Kesselhaus, über eine Treppe in das Maschinenhaus. Vorbei an Maschinen – Zeugen längst vergangener Zeiten, die einst hier ihren Dienst taten.

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Die Atmosphäre war beeindruckend. 1200 Menschen mit und ohne Maske (die wegen Covid 19 verhängte Maskenpflicht war aufgehoben) stiegen über eine Metalltreppe und dann durch eine Art Luke in den Turbinensaal. Sofort stand man vor dem Orchesterpodest, auf dem die New York Philharmonics bereits ihre Instrumente stimmten.

Ein paar Fotos, dann den Platz gesucht und einfach nur alles in sich aufnehmen:

Die Europapremiere von Nina Shekhars Komposition „Lumina“ – ein Stück, in dem elf Minuten lang die Sonne aufgeht.

Mein Lieblingsstück an diesem Abend das Klavierkonzert Nr. 5 von Ludwig van Beethoven, gespielt von Jan Lisiecki. Beethoven komponierte dieses Klavierkonzert 1805 in einer Zeit als Napoleons Truppen Wien belagerten und auch sein Wohnviertel dort unter Artilleriebeschuss stand.

Nach einer Pause dann die Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op.70 von Dimitri Schostakowitsch. Der Komponist sollte die siegreiche Beendigung des Zweiten Weltkrieges „musikalisch kommentieren“, so der Auftrag von der KPdSU. Schostakowitsch: „Aber in einem Krieg mit zig Millionen Toten gibt es doch eigentlich nur Verlierer.“

Dass ausgerechnet Schostakowitsch gespielt und nicht aus dem Programm genommen wurde, empfand ich als ein wohltuendes, starkes Zeichen ganz im Sinne dieser Friedenskonzerte. Am Schluss – tosender Beifall, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt habe.

Man sagt so einfach: Die New Yorker Philharmoniker gastierten in Deutschland, im Kraftwerk von Peenemünde, spielten Beethoven, Previn und Schostakowitsch. Aber es ist doch wie ein Jahrhundertereignis, an dem wir teilhaben konnten und das uns begeistert und sehr beeindruckt hat. Ich möchte es jedenfalls vor dem Hintergrund des groteskerweise als Zeitenwende bezeichneten derzeitigen Weltgeschehens so sehen.

Und ich muss noch dies im Hinblick auf die sich aneinanderreihenden Weltereignisse gestehen: Reinhart und ich verlebten anschließend ein wunderbares Restwochenende in Zinnowitz bei schönstem Strandwetter und gutem Essen, bevor wir am Montag wieder nach Hause zurückkehrten.

8 Gedanken zu “Ostdeutsche Zeitenwende – die New Yorker Philharmoniker in Peenemünde

  1. Christoph Ehricht

    Liebe Bettina, hab ganz vielen und lieben Dank für diesen Bericht, der uns allen hilft das wirklich Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich muss ehrlicherweise ergänzen, dass meine Vorfreude auf das Konzert zeitweise etwas gedämpft war, als ich hörte, dass auch die New Yorker Philharmoniker den Vertrag mit einem russischen Gastdirigenten aufgekündigt hatten. Zum Glück habe ich dennoch das Konzert besucht und konnte erleben, um wieviel stärker die Kraft der Töne ist als der (Un)geist der Zeit!

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    1. rosmarie68

      Der Ungeist der Zeit, lieber Christoph, ich schreibe es gerne ohne Klammer, der einen schier zur Verzweiflung bringen kann!
      Bettina

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  2. reinhart43

    Musik überwindet tiefe Gräben. Wie unsinnig, russische Künstler nicht nach ihrem Werk sondern nach ihrer Gesinnung zu beurteilen. Dazu eine Erinnerung: 1955 erreichte Adenauer trotz zunächst eisiger Atmosphäre bei den Moskauer Verhandlungen die Rückkehr von knapp 10.000 deutschen Kriegsgefangenen gegen einen Botschafteraustausch. Die Delegationen tauten im Bolschoi-Theater auf. Gespielt wurde das Ballett „Romeo und Julia“, Musik von Sergej Prokofjew mit der berühmten Ulanowa als Tänzerin. Das Unternehmen wurde kritisch von den Botschaftern der USA, Englands und Frankreichs verfolgt, heißt es im „Spiegel „39/55. Bis zum letzten Tag berichteten die Diplomaten nach Hause, dass mit absoluter Sicherheit bei den Verhandlungen nichts herauskomme. Als der deutsche Botschafter am letzten Abend Charles Bohlen von der Übereinkunft Botschafteraustausch gegen Gefangene berichtete, „tobte“ der amerikanische Vertreter vor Ärger und Erstaunen. Das war der Beginn der deutschen Ostpolitik.

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    1. rosmarie68

      Schade, lieber Reinhart, dass es heutzutage nicht mehr Menschen mit Deinem Geschichtswissen und Deinem Politikverstand in verantwortlicher Position gibt. Ein wirklich eindrucksvoller Kommentar! Danke!
      Bettina

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  3. Großes Ki… ach nein, Konzert, liebe Bettina, das du erleben durftest und so wunderbar beschrieben hast. Aber auch ein Konzert mit weltberühmten Musikern, in solcher Kulisse und mit internationalem Publikum, ist großes (Gefühls-)Kino. Du machst das richtig, dass du dir den Sinn für das Einmalige und die Freude daran bewahrt hast, dass es kleine Wunder sind und nicht schnödes „Heute ist eh alles möglich“. Brava! Danke für deinen gefühlvollen und zum Nachdenken anregenden Bericht. Auf dass die Musik, wie alle Kunst und Kultur, die Menschen verbindet und womöglich hilft, politische Konflikte zu überwinden.

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    1. Das sind wunderbare Worte, die du gefunden hast, liebe Anke. Ich danke dir herzlich. Dieses Konzert war schon besonders. Ich bin sehr froh, dass ich es erlebt habe und zehre im Nachhinein noch sehr davon. Die schöne Insel und das Wetter taten ihr Übriges.
      Die Brücken der Kunst und Kultur dürfen auf keinen Fall abgebrochen werden! In diesem Sinne, liebe Grüße an die uralte Kultur Italiens und natürlich an dich.
      Bettina

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